Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.West- und Ostdeutsch Frankreichs gegenüberstanden. Dort entstand zuerst jenes Geschlecht von Privat¬ Denn hier kamen die Charaktereigentümlichkeiten eines Kolonialvolks zur Im beständigen Verkehr mit fremden untergeordneten Elementen wuchs im West- und Ostdeutsch Frankreichs gegenüberstanden. Dort entstand zuerst jenes Geschlecht von Privat¬ Denn hier kamen die Charaktereigentümlichkeiten eines Kolonialvolks zur Im beständigen Verkehr mit fremden untergeordneten Elementen wuchs im <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0193" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/303609"/> <fw type="header" place="top"> West- und Ostdeutsch</fw><lb/> <p xml:id="ID_761" prev="#ID_760"> Frankreichs gegenüberstanden. Dort entstand zuerst jenes Geschlecht von Privat¬<lb/> menschen, das keine Staatsgesinmmg kannte und deshalb einer verschwommnen<lb/> Weltbürgerlichkeit verfiel, weil es eben keinen Staat kannte. Wohl war das alles<lb/> der freien Entwicklung der Persönlichkeit förderlich, und ohne diese wäre unsre<lb/> klassische Dichtung, deren glänzendste Vertreter der Franke Goethe und der Schwabe<lb/> Schiller waren, gar nicht möglich gewesen. Aber niemand wird behaupten wollen,<lb/> daß diese Kultur, einseitig wie sie war, politisch nicht geradezu lähmend und<lb/> verhängnisvoll gewirkt hat, daß sie in allen Stücken die höhere gewesen sei<lb/> gegenüber der, die sich im Nordosten ausbildete.</p><lb/> <p xml:id="ID_762"> Denn hier kamen die Charaktereigentümlichkeiten eines Kolonialvolks zur<lb/> vollen Ausbildung: das starke Selbstbewußtsein des Eroberers, die harte<lb/> Willenskraft, die Rührigkeit, die dadurch bedingte Schnelligkeit der gesamten<lb/> wirtschaftlichen Entwicklung. Zwar die deutsche Kultur, die sich im Nordosten<lb/> siegreich durchsetzte, war nicht die städtisch-geldwirtschaftliche der Engländer, die<lb/> Nordamerika, Südafrika und Australien bemeistert hat, sondern noch wesentlich<lb/> eine agrarisch-naturalwirtschaftliche, aber sie besaß die militärisch-politische Über¬<lb/> legenheit des festgefügten Lehnsstaats, die straffe Organisation und die literarische<lb/> Bildung der römischen Kirche, die autonome Gemeinde, die geschlossenen Gilden<lb/> und Zünfte der Kaufleute und Handwerker, den intensiverer Bodenanbau.<lb/> Deshalb die erstaunliche Schnelligkeit ihrer Fortschritte, daher das Aufblühen<lb/> deutschen Lebens bis an den Finnischen Meerbusen, daher die Herrschaft des<lb/> deutschen Kaufmanns bis Bergen und Groß-Nowgorod, daher die stolzen<lb/> Kirchen und Rathäuser in Hunderten von Städten, von denen Lübeck und<lb/> Danzig schlechthin die schönsten aller unsrer alten Städte sind. Die Beimischung<lb/> slawischen Bluts ist in dieser Bevölkerung viel geringer, als man gemeinhin<lb/> annimmt. Die Slawen siedelten überhaupt nur strichweise in kleinen Dörfern<lb/> um ihre Gauburgen (Zrack, Krach, sie wurden aus manchen Gegenden geradezu<lb/> Vertrieben, in das städtische Bürgerrecht überhaupt nicht aufgenommen, höchstens<lb/> in einigen Gassen geduldet, und die alten ausgedehnten Waldgebiete des Erz¬<lb/> gebirges, der Sudeten, des pommerschen Landrückens u. a. in. sind in lang¬<lb/> gestreckten Reihendörfern ohne Flnrzwcmg von einer Bevölkerung besiedelt, die<lb/> ebenso rein deutsch ist wie im Schwarzwald oder im Harz. Was von Slawen<lb/> übrig geblieben war, das wurde allmählich bis auf kleine Gruppen friedlich<lb/> germanisiert, zum Teil, wie in Niederschlesien, durch Eintritt in das deutsche<lb/> Recht. Daß solche Blutmischung nachteilig, die „Reinheit des Blutes" ein<lb/> Vorzug sei, das ist ein längst überwundnes Vorurteil, das in,der Geschichte<lb/> keine Begründung findet. Eine der edelsten deutschen Frauen, Königin Luise<lb/> von Preußen, war die Tochter eines altslawischen Fürstengeschlechts.</p><lb/> <p xml:id="ID_763" next="#ID_764"> Im beständigen Verkehr mit fremden untergeordneten Elementen wuchs im<lb/> Nordosten, vor allem in den Grenzlandschaften, ein schroffer Nationalstolz auf.<lb/> Es ist überhaupt ein Irrtum, zu meinen, daß die Deutschen dieser männlichen<lb/> Empfindung von jeher entbehrt hätten; in der Blütezeit des Mittelalters hatten</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0193]
West- und Ostdeutsch
Frankreichs gegenüberstanden. Dort entstand zuerst jenes Geschlecht von Privat¬
menschen, das keine Staatsgesinmmg kannte und deshalb einer verschwommnen
Weltbürgerlichkeit verfiel, weil es eben keinen Staat kannte. Wohl war das alles
der freien Entwicklung der Persönlichkeit förderlich, und ohne diese wäre unsre
klassische Dichtung, deren glänzendste Vertreter der Franke Goethe und der Schwabe
Schiller waren, gar nicht möglich gewesen. Aber niemand wird behaupten wollen,
daß diese Kultur, einseitig wie sie war, politisch nicht geradezu lähmend und
verhängnisvoll gewirkt hat, daß sie in allen Stücken die höhere gewesen sei
gegenüber der, die sich im Nordosten ausbildete.
Denn hier kamen die Charaktereigentümlichkeiten eines Kolonialvolks zur
vollen Ausbildung: das starke Selbstbewußtsein des Eroberers, die harte
Willenskraft, die Rührigkeit, die dadurch bedingte Schnelligkeit der gesamten
wirtschaftlichen Entwicklung. Zwar die deutsche Kultur, die sich im Nordosten
siegreich durchsetzte, war nicht die städtisch-geldwirtschaftliche der Engländer, die
Nordamerika, Südafrika und Australien bemeistert hat, sondern noch wesentlich
eine agrarisch-naturalwirtschaftliche, aber sie besaß die militärisch-politische Über¬
legenheit des festgefügten Lehnsstaats, die straffe Organisation und die literarische
Bildung der römischen Kirche, die autonome Gemeinde, die geschlossenen Gilden
und Zünfte der Kaufleute und Handwerker, den intensiverer Bodenanbau.
Deshalb die erstaunliche Schnelligkeit ihrer Fortschritte, daher das Aufblühen
deutschen Lebens bis an den Finnischen Meerbusen, daher die Herrschaft des
deutschen Kaufmanns bis Bergen und Groß-Nowgorod, daher die stolzen
Kirchen und Rathäuser in Hunderten von Städten, von denen Lübeck und
Danzig schlechthin die schönsten aller unsrer alten Städte sind. Die Beimischung
slawischen Bluts ist in dieser Bevölkerung viel geringer, als man gemeinhin
annimmt. Die Slawen siedelten überhaupt nur strichweise in kleinen Dörfern
um ihre Gauburgen (Zrack, Krach, sie wurden aus manchen Gegenden geradezu
Vertrieben, in das städtische Bürgerrecht überhaupt nicht aufgenommen, höchstens
in einigen Gassen geduldet, und die alten ausgedehnten Waldgebiete des Erz¬
gebirges, der Sudeten, des pommerschen Landrückens u. a. in. sind in lang¬
gestreckten Reihendörfern ohne Flnrzwcmg von einer Bevölkerung besiedelt, die
ebenso rein deutsch ist wie im Schwarzwald oder im Harz. Was von Slawen
übrig geblieben war, das wurde allmählich bis auf kleine Gruppen friedlich
germanisiert, zum Teil, wie in Niederschlesien, durch Eintritt in das deutsche
Recht. Daß solche Blutmischung nachteilig, die „Reinheit des Blutes" ein
Vorzug sei, das ist ein längst überwundnes Vorurteil, das in,der Geschichte
keine Begründung findet. Eine der edelsten deutschen Frauen, Königin Luise
von Preußen, war die Tochter eines altslawischen Fürstengeschlechts.
Im beständigen Verkehr mit fremden untergeordneten Elementen wuchs im
Nordosten, vor allem in den Grenzlandschaften, ein schroffer Nationalstolz auf.
Es ist überhaupt ein Irrtum, zu meinen, daß die Deutschen dieser männlichen
Empfindung von jeher entbehrt hätten; in der Blütezeit des Mittelalters hatten
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