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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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West- und Bstdeutsch

im Süden und Westen, Erst als Luther vom obersüchsischen Koloniallande, von
dem Boden aus, den nie der Fuß römischer Legionen betreten hatte, der aber
früher als der übrige Nordosten von der deutschen Kultur vollständig durch¬
drungen worden war, weil er seit der Eroberung dauernd im deutschen Besitz
geblieben und dann durch die Entdeckung seines Silberreichtums besonders rasch
emporgekommen war, den Kampf gegen die Kirchenherrschaft Roms begann und
ein neues Zeitalter deutscher Geisteskultur heraufführte, gewannen der Norden
und der Nordosten das Übergewicht, und Kursachsen wurde das klassische Land der
protestantisch-lutherischen Bildung, War doch hier das römische Kirchenwesen bei
weitem nicht so tief gewurzelt, nicht mit so alten Traditionen dem Volksleben
verbunden wie im Westen, und stand doch auch der Nordosten den italienischen
Einwirkungen schon räumlich viel ferner. Erst im siebzehnten Jahrhundert ent¬
wickelte sich dann hier, zuerst in Schlesien, eine selbständige Dichtung. Nur die
Kunst der Renaissance wurde auch im Nordosten kaum später heimisch als im
übrigen Deutschland.

Es wiederholte sich hier das Gesetz jeder kolonialen Entwicklung, wie es
niemand schöner entwickelt hat als der unvergeßliche Wilhelm Röscher. Voraus
geht überall die Entfaltung der materiellen Kultur, da die wirtschaftliche Arbeit
zunächst immer im Vordergrunde steht, erst später folgt die des geistigen Lebens.
Noch heute steht Nordamerika in der "Dichtigkeit" des Daseins, in der "Kultur"
hinter Europa weit zurück, nur in der "Zivilisation", wie Karl Lamprecht glück¬
lich unterscheidet, voran. Aber auch der Volkscharakter gestaltet sich in den
Kolonien anders als im Mutterlande, und in dieser Beziehung entfaltete der
koloniale Nordosten Deutschlands allmählich ein eigentümliches Übergewicht. In
der alten und reichen westdeutschen Kultur verkümmerten manche Elemente. Dort,
wo nationale Gegensätze kaum empfunden wurden, wo von einem erobernden
Vordringen gar keine Rede war -- erst unter Ludwig dem Vierzehnten wurde
Frankreich der "Erbfeind", bis dahin war das der Türke --, verkümmerte nach
dem Ausgange der großen Kaiserzeit der politische Sinn, die staatenbildende
Kraft bis zur Verkuppelung. Von keinem äußern Feinde damals bedroht,
konnten sich die Westdeutschen, besonders die Schwaben und die Franken, die
einst die weltumspannende Kaiserpolitik vor allem getragen hatten, der echt
deutschen Neigung, sich in kleinen und kleinsten Kreisen abzuschließen, unbehindert
hingeben. So wurde der Westen der klassische Boden der deutschen Kleinstaaterei,
und gerade die männlichsten Eigenschaften, der feste Wille, das stolze Selbst¬
gefühl, die kriegerische Tapferkeit, fanden in diesen bunt durcheinander gewürfelten
Reichsstädten, Bistümern, Abteien, Reichsgrafen, Reichsrittern und kleinen welt¬
lichen Fürstentümern keinen Schauplatz der Tätigkeit und also der Entfaltung,
kein politisches Gebilde, das hingebenden Patriotismus oder auch nur Achtung
eingeflößt Hütte. Kläglich ist es deshalb zu sehen, wie wehrlos und haltlos diese
Stammlande der deutschen Kultur, die einst die Sturmfahne des Reichs geführt
hatten, im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert dem erobernden Vordringen


West- und Bstdeutsch

im Süden und Westen, Erst als Luther vom obersüchsischen Koloniallande, von
dem Boden aus, den nie der Fuß römischer Legionen betreten hatte, der aber
früher als der übrige Nordosten von der deutschen Kultur vollständig durch¬
drungen worden war, weil er seit der Eroberung dauernd im deutschen Besitz
geblieben und dann durch die Entdeckung seines Silberreichtums besonders rasch
emporgekommen war, den Kampf gegen die Kirchenherrschaft Roms begann und
ein neues Zeitalter deutscher Geisteskultur heraufführte, gewannen der Norden
und der Nordosten das Übergewicht, und Kursachsen wurde das klassische Land der
protestantisch-lutherischen Bildung, War doch hier das römische Kirchenwesen bei
weitem nicht so tief gewurzelt, nicht mit so alten Traditionen dem Volksleben
verbunden wie im Westen, und stand doch auch der Nordosten den italienischen
Einwirkungen schon räumlich viel ferner. Erst im siebzehnten Jahrhundert ent¬
wickelte sich dann hier, zuerst in Schlesien, eine selbständige Dichtung. Nur die
Kunst der Renaissance wurde auch im Nordosten kaum später heimisch als im
übrigen Deutschland.

Es wiederholte sich hier das Gesetz jeder kolonialen Entwicklung, wie es
niemand schöner entwickelt hat als der unvergeßliche Wilhelm Röscher. Voraus
geht überall die Entfaltung der materiellen Kultur, da die wirtschaftliche Arbeit
zunächst immer im Vordergrunde steht, erst später folgt die des geistigen Lebens.
Noch heute steht Nordamerika in der „Dichtigkeit" des Daseins, in der „Kultur"
hinter Europa weit zurück, nur in der „Zivilisation", wie Karl Lamprecht glück¬
lich unterscheidet, voran. Aber auch der Volkscharakter gestaltet sich in den
Kolonien anders als im Mutterlande, und in dieser Beziehung entfaltete der
koloniale Nordosten Deutschlands allmählich ein eigentümliches Übergewicht. In
der alten und reichen westdeutschen Kultur verkümmerten manche Elemente. Dort,
wo nationale Gegensätze kaum empfunden wurden, wo von einem erobernden
Vordringen gar keine Rede war — erst unter Ludwig dem Vierzehnten wurde
Frankreich der „Erbfeind", bis dahin war das der Türke —, verkümmerte nach
dem Ausgange der großen Kaiserzeit der politische Sinn, die staatenbildende
Kraft bis zur Verkuppelung. Von keinem äußern Feinde damals bedroht,
konnten sich die Westdeutschen, besonders die Schwaben und die Franken, die
einst die weltumspannende Kaiserpolitik vor allem getragen hatten, der echt
deutschen Neigung, sich in kleinen und kleinsten Kreisen abzuschließen, unbehindert
hingeben. So wurde der Westen der klassische Boden der deutschen Kleinstaaterei,
und gerade die männlichsten Eigenschaften, der feste Wille, das stolze Selbst¬
gefühl, die kriegerische Tapferkeit, fanden in diesen bunt durcheinander gewürfelten
Reichsstädten, Bistümern, Abteien, Reichsgrafen, Reichsrittern und kleinen welt¬
lichen Fürstentümern keinen Schauplatz der Tätigkeit und also der Entfaltung,
kein politisches Gebilde, das hingebenden Patriotismus oder auch nur Achtung
eingeflößt Hütte. Kläglich ist es deshalb zu sehen, wie wehrlos und haltlos diese
Stammlande der deutschen Kultur, die einst die Sturmfahne des Reichs geführt
hatten, im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert dem erobernden Vordringen


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[0192] West- und Bstdeutsch im Süden und Westen, Erst als Luther vom obersüchsischen Koloniallande, von dem Boden aus, den nie der Fuß römischer Legionen betreten hatte, der aber früher als der übrige Nordosten von der deutschen Kultur vollständig durch¬ drungen worden war, weil er seit der Eroberung dauernd im deutschen Besitz geblieben und dann durch die Entdeckung seines Silberreichtums besonders rasch emporgekommen war, den Kampf gegen die Kirchenherrschaft Roms begann und ein neues Zeitalter deutscher Geisteskultur heraufführte, gewannen der Norden und der Nordosten das Übergewicht, und Kursachsen wurde das klassische Land der protestantisch-lutherischen Bildung, War doch hier das römische Kirchenwesen bei weitem nicht so tief gewurzelt, nicht mit so alten Traditionen dem Volksleben verbunden wie im Westen, und stand doch auch der Nordosten den italienischen Einwirkungen schon räumlich viel ferner. Erst im siebzehnten Jahrhundert ent¬ wickelte sich dann hier, zuerst in Schlesien, eine selbständige Dichtung. Nur die Kunst der Renaissance wurde auch im Nordosten kaum später heimisch als im übrigen Deutschland. Es wiederholte sich hier das Gesetz jeder kolonialen Entwicklung, wie es niemand schöner entwickelt hat als der unvergeßliche Wilhelm Röscher. Voraus geht überall die Entfaltung der materiellen Kultur, da die wirtschaftliche Arbeit zunächst immer im Vordergrunde steht, erst später folgt die des geistigen Lebens. Noch heute steht Nordamerika in der „Dichtigkeit" des Daseins, in der „Kultur" hinter Europa weit zurück, nur in der „Zivilisation", wie Karl Lamprecht glück¬ lich unterscheidet, voran. Aber auch der Volkscharakter gestaltet sich in den Kolonien anders als im Mutterlande, und in dieser Beziehung entfaltete der koloniale Nordosten Deutschlands allmählich ein eigentümliches Übergewicht. In der alten und reichen westdeutschen Kultur verkümmerten manche Elemente. Dort, wo nationale Gegensätze kaum empfunden wurden, wo von einem erobernden Vordringen gar keine Rede war — erst unter Ludwig dem Vierzehnten wurde Frankreich der „Erbfeind", bis dahin war das der Türke —, verkümmerte nach dem Ausgange der großen Kaiserzeit der politische Sinn, die staatenbildende Kraft bis zur Verkuppelung. Von keinem äußern Feinde damals bedroht, konnten sich die Westdeutschen, besonders die Schwaben und die Franken, die einst die weltumspannende Kaiserpolitik vor allem getragen hatten, der echt deutschen Neigung, sich in kleinen und kleinsten Kreisen abzuschließen, unbehindert hingeben. So wurde der Westen der klassische Boden der deutschen Kleinstaaterei, und gerade die männlichsten Eigenschaften, der feste Wille, das stolze Selbst¬ gefühl, die kriegerische Tapferkeit, fanden in diesen bunt durcheinander gewürfelten Reichsstädten, Bistümern, Abteien, Reichsgrafen, Reichsrittern und kleinen welt¬ lichen Fürstentümern keinen Schauplatz der Tätigkeit und also der Entfaltung, kein politisches Gebilde, das hingebenden Patriotismus oder auch nur Achtung eingeflößt Hütte. Kläglich ist es deshalb zu sehen, wie wehrlos und haltlos diese Stammlande der deutschen Kultur, die einst die Sturmfahne des Reichs geführt hatten, im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert dem erobernden Vordringen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/192>, abgerufen am 25.08.2024.