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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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Sozialxsychologische Eindrücke aus deutschen Großstädten

der Sinn für dieses ausgebildet ist, um so weniger brauchen die Bemühungen für
jene Platz zu greifen. Leider wird gerade in Berlin die Heranbildung einer
freiwilligen Masfendisziplin nur zu oft gehindert durch die nicht angebrachte
Anwendung einer militärischen Disziplin. Von militärischen Einflüssen im
öffentlichen Leben ist nun gerade Leipzig völlig frei, weil es den Vorzug hat,
weder eine Residenzstadt noch eine preußische Stadt zu sein. Ist es doch sogar
eine Seltenheit, wenn man in Leipzig einem Offizier begegnet. Auch hierin
dokumentiert sich rein äußerlich die Hegemonie des bürgerlichen Geistes, der
stärksten Stütze der öffentlichen Ordnung.

Wie weitherzig man sich bei diesem Ordnungssinn doch gegenüber der
Persönlichen Freiheit verhält, mag folgender Vorfall beweisen. In einem Wagen
der "Elektrischen", den ich benutzte, belustigte sich ein kleiner Knabe anhaltend
mit dem Blasen einer -- bekanntlich nicht sehr harmonisch klingenden -- Mund¬
harmonika. Obwohl der Wagen dicht besetzt war, äußerte auch nicht einer der
Fahrgäste nur das leiseste Zeichen von Mißvergnügen, man schien es überhaupt
nicht zu bemerken. Als ich über dies geduldige Ertragen einer "öffentlichen
Ruhestörung" mein Befremden gegenüber einem Herrn äußerte, meinte er nur
ganz harmlos, es sei doch ein Kind, und man müsse ihm sein Vergnügen
lassen. Erst als ich -- etwas unvorsichtig -- bemerkte, daß man in Berlin
so etwas keinen dulden würde, bekam ich eine Bemerkung zu hören, die ich, ob¬
wohl sie durchaus berechtigt war, doch lieber unterdrücke, um mich nicht dem
Vorwurf auszusetzen, einen deutschen Kulturpnrtikularismus zu fördern, für den
übrigens in dem vorliegenden Falle nicht der Leipziger, sondern der Berliner
verantwortlich wäre. Da dieser aber als zweifacher Millionär auf die armen
"Provinzstädte" herabsieht, die nur über eine halbe Million verfügen, und man
den Reichen, wenn auch noch so protzenhaften, nicht reizen und seine Rache
herausfordern soll, so sei hier die Tugend geübt, die der Fremde nur zu sehr
am Berliner vermißt, und die wahrscheinlich auch durch Anlegung eines Bei߬
korbes -- wie der Leipziger höflich für Maulkorb sagt -- schwerlich gefördert
würde.

Um gerecht zu sein, darf nicht verschwiegen werden, daß die Leipziger
Geduld und Höflichkeit gerade im Verkehrsleben auch ihre bedenklichen Seiten
hat. So nehmen die Schaffner der Straßenbahn auch jetzt noch häufig mehr
Passagiere auf, als zulässig ist, und es entsteht dann auf dem Hinterperron
eine oft unerträgliche, drangvoll-fürchterliche Enge, und die strengsten Bestim¬
mungen haben hier nicht so viel Macht wie das bekannte Sprichwort von den
geduldigen Schafen in einem Stall.




Sozialxsychologische Eindrücke aus deutschen Großstädten

der Sinn für dieses ausgebildet ist, um so weniger brauchen die Bemühungen für
jene Platz zu greifen. Leider wird gerade in Berlin die Heranbildung einer
freiwilligen Masfendisziplin nur zu oft gehindert durch die nicht angebrachte
Anwendung einer militärischen Disziplin. Von militärischen Einflüssen im
öffentlichen Leben ist nun gerade Leipzig völlig frei, weil es den Vorzug hat,
weder eine Residenzstadt noch eine preußische Stadt zu sein. Ist es doch sogar
eine Seltenheit, wenn man in Leipzig einem Offizier begegnet. Auch hierin
dokumentiert sich rein äußerlich die Hegemonie des bürgerlichen Geistes, der
stärksten Stütze der öffentlichen Ordnung.

Wie weitherzig man sich bei diesem Ordnungssinn doch gegenüber der
Persönlichen Freiheit verhält, mag folgender Vorfall beweisen. In einem Wagen
der „Elektrischen", den ich benutzte, belustigte sich ein kleiner Knabe anhaltend
mit dem Blasen einer — bekanntlich nicht sehr harmonisch klingenden — Mund¬
harmonika. Obwohl der Wagen dicht besetzt war, äußerte auch nicht einer der
Fahrgäste nur das leiseste Zeichen von Mißvergnügen, man schien es überhaupt
nicht zu bemerken. Als ich über dies geduldige Ertragen einer „öffentlichen
Ruhestörung" mein Befremden gegenüber einem Herrn äußerte, meinte er nur
ganz harmlos, es sei doch ein Kind, und man müsse ihm sein Vergnügen
lassen. Erst als ich — etwas unvorsichtig — bemerkte, daß man in Berlin
so etwas keinen dulden würde, bekam ich eine Bemerkung zu hören, die ich, ob¬
wohl sie durchaus berechtigt war, doch lieber unterdrücke, um mich nicht dem
Vorwurf auszusetzen, einen deutschen Kulturpnrtikularismus zu fördern, für den
übrigens in dem vorliegenden Falle nicht der Leipziger, sondern der Berliner
verantwortlich wäre. Da dieser aber als zweifacher Millionär auf die armen
„Provinzstädte" herabsieht, die nur über eine halbe Million verfügen, und man
den Reichen, wenn auch noch so protzenhaften, nicht reizen und seine Rache
herausfordern soll, so sei hier die Tugend geübt, die der Fremde nur zu sehr
am Berliner vermißt, und die wahrscheinlich auch durch Anlegung eines Bei߬
korbes — wie der Leipziger höflich für Maulkorb sagt — schwerlich gefördert
würde.

Um gerecht zu sein, darf nicht verschwiegen werden, daß die Leipziger
Geduld und Höflichkeit gerade im Verkehrsleben auch ihre bedenklichen Seiten
hat. So nehmen die Schaffner der Straßenbahn auch jetzt noch häufig mehr
Passagiere auf, als zulässig ist, und es entsteht dann auf dem Hinterperron
eine oft unerträgliche, drangvoll-fürchterliche Enge, und die strengsten Bestim¬
mungen haben hier nicht so viel Macht wie das bekannte Sprichwort von den
geduldigen Schafen in einem Stall.




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[0139] Sozialxsychologische Eindrücke aus deutschen Großstädten der Sinn für dieses ausgebildet ist, um so weniger brauchen die Bemühungen für jene Platz zu greifen. Leider wird gerade in Berlin die Heranbildung einer freiwilligen Masfendisziplin nur zu oft gehindert durch die nicht angebrachte Anwendung einer militärischen Disziplin. Von militärischen Einflüssen im öffentlichen Leben ist nun gerade Leipzig völlig frei, weil es den Vorzug hat, weder eine Residenzstadt noch eine preußische Stadt zu sein. Ist es doch sogar eine Seltenheit, wenn man in Leipzig einem Offizier begegnet. Auch hierin dokumentiert sich rein äußerlich die Hegemonie des bürgerlichen Geistes, der stärksten Stütze der öffentlichen Ordnung. Wie weitherzig man sich bei diesem Ordnungssinn doch gegenüber der Persönlichen Freiheit verhält, mag folgender Vorfall beweisen. In einem Wagen der „Elektrischen", den ich benutzte, belustigte sich ein kleiner Knabe anhaltend mit dem Blasen einer — bekanntlich nicht sehr harmonisch klingenden — Mund¬ harmonika. Obwohl der Wagen dicht besetzt war, äußerte auch nicht einer der Fahrgäste nur das leiseste Zeichen von Mißvergnügen, man schien es überhaupt nicht zu bemerken. Als ich über dies geduldige Ertragen einer „öffentlichen Ruhestörung" mein Befremden gegenüber einem Herrn äußerte, meinte er nur ganz harmlos, es sei doch ein Kind, und man müsse ihm sein Vergnügen lassen. Erst als ich — etwas unvorsichtig — bemerkte, daß man in Berlin so etwas keinen dulden würde, bekam ich eine Bemerkung zu hören, die ich, ob¬ wohl sie durchaus berechtigt war, doch lieber unterdrücke, um mich nicht dem Vorwurf auszusetzen, einen deutschen Kulturpnrtikularismus zu fördern, für den übrigens in dem vorliegenden Falle nicht der Leipziger, sondern der Berliner verantwortlich wäre. Da dieser aber als zweifacher Millionär auf die armen „Provinzstädte" herabsieht, die nur über eine halbe Million verfügen, und man den Reichen, wenn auch noch so protzenhaften, nicht reizen und seine Rache herausfordern soll, so sei hier die Tugend geübt, die der Fremde nur zu sehr am Berliner vermißt, und die wahrscheinlich auch durch Anlegung eines Bei߬ korbes — wie der Leipziger höflich für Maulkorb sagt — schwerlich gefördert würde. Um gerecht zu sein, darf nicht verschwiegen werden, daß die Leipziger Geduld und Höflichkeit gerade im Verkehrsleben auch ihre bedenklichen Seiten hat. So nehmen die Schaffner der Straßenbahn auch jetzt noch häufig mehr Passagiere auf, als zulässig ist, und es entsteht dann auf dem Hinterperron eine oft unerträgliche, drangvoll-fürchterliche Enge, und die strengsten Bestim¬ mungen haben hier nicht so viel Macht wie das bekannte Sprichwort von den geduldigen Schafen in einem Stall.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/139>, abgerufen am 23.07.2024.