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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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Russische Briefe

könnten.*) Alle diese Maßregeln haben den gewünschten Erfolg nicht gehabt.
Im Gegenteil: die Landflucht der ävor^nZtvo wurde noch größer als vorher,
weil viele von ihnen eben durch die billige Geldbeschaffung erst in die Lage
versetzt wurden, in den Städten zu leben. Der adliche Großgrundbesitz ist von
70077310 Dessjätinen im Jahre 1877 auf 65297858 im Jahre 1887 und auf
53766700 im Jahre 1900 zurückgegangen.

Der russische Adel hat somit trotz allen Staatshilfen in einer Zeit von
nicht ganz fünfundzwanzig Jahren 22,8 Prozent seines Landbesitzes verloren.
Daß an diesem Rückgang die Lage des landwirtschaftlichen Gewerbes überhaupt
schuld sein soll, wird widerlegt durch das Anwachsen nichtadlichen Privatbesitzes
von 13122935 Dessjätinen im Jahre 1877 auf 17 792707 im Jahre 1887 und
auf 27618300 im Jahre 1900. also eine Vermehrung um 100 Prozent.^) Es
ist anzunehmen, daß dieser Rückgang in den vergangnen sieben Jahren, besonders
aber während der Unruhen von 1905 bis 1907 noch ganz bedeutend gewachsen
ist, und ich glaube mit meiner Schätzung nicht weit daneben zu greifen, wenn
ich annehme, daß gegenwärtig etwa nur noch 35000000 Dessjätinen im Besitz
des Adels, gegen 28000000 im Besitz bürgerlicher Landwirte und 160000000
-- wahrscheinlich noch weit mehr -- im bäuerlichen Besitz sind.

Es läßt sich denken, daß diese Art von Bevorzugung eines kleinen Teils
von Gewerbetreibenden gegenüber der Mehrheit zusammen mit andern Faktoren
zu einer Verteuerung des Geldes für die andern Kreise geführt haben muß, die
um so schwerer auf dem Gros der Gesellschaft lastet, als der Staat selbst
9 bis 10 Prozent für sein im Auslande oder im Inlande aufgenommnes Geld
zahlt. Doch nicht von den wirtschaftlichen Folgen der Politik soll die Rede
sein. Es soll vielmehr gezeigt werden, wie sich unter dem Begriff "Adel" ein
eng begrenzter Kreis die Herrschaft im Lande aneignet, gestützt durch die Bureau¬
kratie und eine zur Kontrolle unfähige Selbstherrschaft.

Sobald dieser Kreis zu Einfluß gelangt war, begann sich auch sein inneres
Wesen zu offenbaren. Es kam zum Ausdruck in allerhand Maßregeln, die der
äworMstvo die Erlangung von Barmitteln möglich machen sollten. Dabei fiel
nach und nach auch alle Rücksicht auf die großen Gedanken fort, die Alexander
der Dritte zu verfolgen glaubte, als er sich der wirtschaftlichen Not des wohl-
geborner Standes annahm. So wurde 1893 der Versuch gemacht, Geld zum
Rückkauf von adlichen Gütern aus der Staatskasse zu erhalten; der von
S. I. Witte unterstützte Antrag wurde aber vom Reichsrat abgelehnt. Dagegen
wurde die Adelsagrarbank bevollmächtigt, russischen erblichen Edelleuten Geld
zum Ankauf von nichtrussischen Gütern in den Gouvernements Wilna, Kowno,




Geschichte des Finanzministeriums 1802 bis 1902 (amtlich). Se. Petersburg, 1902,
Bd. II, S. 383. 384.
°"*) Errechnet aus amtlichen Zahlen über Kaufleute, Kleinbürger und andre nicht dem
Bauernstande zugehörende Grundbesitzer. Der bäuerliche Privatgrundbesitz ist von 1877 bis 1337
von S 680 206 auf 72S77867 Dessjätinen gestiegen.
Russische Briefe

könnten.*) Alle diese Maßregeln haben den gewünschten Erfolg nicht gehabt.
Im Gegenteil: die Landflucht der ävor^nZtvo wurde noch größer als vorher,
weil viele von ihnen eben durch die billige Geldbeschaffung erst in die Lage
versetzt wurden, in den Städten zu leben. Der adliche Großgrundbesitz ist von
70077310 Dessjätinen im Jahre 1877 auf 65297858 im Jahre 1887 und auf
53766700 im Jahre 1900 zurückgegangen.

Der russische Adel hat somit trotz allen Staatshilfen in einer Zeit von
nicht ganz fünfundzwanzig Jahren 22,8 Prozent seines Landbesitzes verloren.
Daß an diesem Rückgang die Lage des landwirtschaftlichen Gewerbes überhaupt
schuld sein soll, wird widerlegt durch das Anwachsen nichtadlichen Privatbesitzes
von 13122935 Dessjätinen im Jahre 1877 auf 17 792707 im Jahre 1887 und
auf 27618300 im Jahre 1900. also eine Vermehrung um 100 Prozent.^) Es
ist anzunehmen, daß dieser Rückgang in den vergangnen sieben Jahren, besonders
aber während der Unruhen von 1905 bis 1907 noch ganz bedeutend gewachsen
ist, und ich glaube mit meiner Schätzung nicht weit daneben zu greifen, wenn
ich annehme, daß gegenwärtig etwa nur noch 35000000 Dessjätinen im Besitz
des Adels, gegen 28000000 im Besitz bürgerlicher Landwirte und 160000000
— wahrscheinlich noch weit mehr — im bäuerlichen Besitz sind.

Es läßt sich denken, daß diese Art von Bevorzugung eines kleinen Teils
von Gewerbetreibenden gegenüber der Mehrheit zusammen mit andern Faktoren
zu einer Verteuerung des Geldes für die andern Kreise geführt haben muß, die
um so schwerer auf dem Gros der Gesellschaft lastet, als der Staat selbst
9 bis 10 Prozent für sein im Auslande oder im Inlande aufgenommnes Geld
zahlt. Doch nicht von den wirtschaftlichen Folgen der Politik soll die Rede
sein. Es soll vielmehr gezeigt werden, wie sich unter dem Begriff „Adel" ein
eng begrenzter Kreis die Herrschaft im Lande aneignet, gestützt durch die Bureau¬
kratie und eine zur Kontrolle unfähige Selbstherrschaft.

Sobald dieser Kreis zu Einfluß gelangt war, begann sich auch sein inneres
Wesen zu offenbaren. Es kam zum Ausdruck in allerhand Maßregeln, die der
äworMstvo die Erlangung von Barmitteln möglich machen sollten. Dabei fiel
nach und nach auch alle Rücksicht auf die großen Gedanken fort, die Alexander
der Dritte zu verfolgen glaubte, als er sich der wirtschaftlichen Not des wohl-
geborner Standes annahm. So wurde 1893 der Versuch gemacht, Geld zum
Rückkauf von adlichen Gütern aus der Staatskasse zu erhalten; der von
S. I. Witte unterstützte Antrag wurde aber vom Reichsrat abgelehnt. Dagegen
wurde die Adelsagrarbank bevollmächtigt, russischen erblichen Edelleuten Geld
zum Ankauf von nichtrussischen Gütern in den Gouvernements Wilna, Kowno,




Geschichte des Finanzministeriums 1802 bis 1902 (amtlich). Se. Petersburg, 1902,
Bd. II, S. 383. 384.
°"*) Errechnet aus amtlichen Zahlen über Kaufleute, Kleinbürger und andre nicht dem
Bauernstande zugehörende Grundbesitzer. Der bäuerliche Privatgrundbesitz ist von 1877 bis 1337
von S 680 206 auf 72S77867 Dessjätinen gestiegen.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/126>, abgerufen am 03.07.2024.