Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.Einige Tage im Gebiet Ferghana 8 Uhr Morgens kam bei trübem, windstillem Wetter der erste heftige Stoß Die Ansichtspostkartenindustrie hat sich der Folgen der Erscheinung be¬ Das unleidliche Wetter setzte schließlich trotz dem besten Willen unserm Etwa gegen zwei Uhr Nachts waren wir in Khokand. Der Versuch einer Einige Tage im Gebiet Ferghana 8 Uhr Morgens kam bei trübem, windstillem Wetter der erste heftige Stoß Die Ansichtspostkartenindustrie hat sich der Folgen der Erscheinung be¬ Das unleidliche Wetter setzte schließlich trotz dem besten Willen unserm Etwa gegen zwei Uhr Nachts waren wir in Khokand. Der Versuch einer <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0099" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/302801"/> <fw type="header" place="top"> Einige Tage im Gebiet Ferghana</fw><lb/> <p xml:id="ID_350" prev="#ID_349"> 8 Uhr Morgens kam bei trübem, windstillem Wetter der erste heftige Stoß<lb/> und dann eine Stunde spater ein 6 bis 7 Sekunden langes heftiges Schütteln,<lb/> das alles durcheinanderwarf. Man hatte das Gefühl einer tiefen Ohnmacht<lb/> und sah zum Bewußtsein gekommen mit Schrecken das Bild der Zerstörung.<lb/> Weil sich die Hauptbewegung aber durch einen Stoß angekündigt hatte, und<lb/> viele Menschen sich trotz leichten Frostes infolgedessen auf der Straße aufhielten,<lb/> ist die Zahl der Opfer noch in den oben angegebnen Grenzen geblieben.<lb/> Wenn auch das Zentrum in unbewohnter Gegend zu suchen ist, die Wirkung<lb/> muß doch grauenerregend gewesen sein, durchaus geeignet, daran zu er¬<lb/> innern, daß der dunkeln Mächte Gewalt dem Menschen ungestraft keine para¬<lb/> diesische Fruchtbarkeit gönnt.</p><lb/> <p xml:id="ID_351"> Die Ansichtspostkartenindustrie hat sich der Folgen der Erscheinung be¬<lb/> mächtigt; eine Stargarder Firma vertreibt die Kartenbilder und illustriert auf<lb/> ihre Weise die neue Wahrheit, daß der deutsche Unternehmungsgeist heute<lb/> überall zu finden ist. Die russische Post hat während des Krieges zugunsten<lb/> des Roten Kreuzes die Postkartennarrheit auszuschlachten versucht und selber<lb/> alle möglichen Ansichtskarten mit sibirischen Luxus- und Sanitätszügen,<lb/> Kriegsszenen und Volkstypenbildern abzusetzen versucht. Man war auf der<lb/> — militärisch bewachten — Post in Andishan so liebenswürdig, daß wir<lb/> gern ein Scherflein zu dem guten Zweck beitrugen und ein paar Sätze der<lb/> um ein paar Kopeken verteuerten Kriegsmarken kauften, deren Preisaufschläge<lb/> ebenfalls dem Roten Kreuz zugeführt werden sollten.</p><lb/> <p xml:id="ID_352"> Das unleidliche Wetter setzte schließlich trotz dem besten Willen unserm<lb/> Tätigkeitstrieb in Andishan selber häßliche Schranken. So vertrauten wir<lb/> uns denn schon dem gemischten Abendzug mit der Absicht an, während einer<lb/> halbtägigen Fahrtunterbrechung auch Khokcmd einen Besuch abzustatten. Der<lb/> Stationsvorsteher hatte uns zwar ein geschlossenes Abteil besorgt, aber die<lb/> Quadratur des Zirkels ist nicht schwerer als der Versuch, in einem zweit¬<lb/> klassigen Abteil für vier Personen Ruhe in ausgestrecktem Zustande für fünf<lb/> zu beschaffen, besonders wenn man in der dumpfen Luft des geheizten Abdens<lb/> zu ersticken meint und bei einem Lüftungsversuch erschrocken vor dem Dunst<lb/> zurückprallt, der aus dem nachbarlichen Durchgangsraum des Wagens entgegen¬<lb/> quillt. Der Russe nennt solche Luft „so zusammengepreßt, daß man ein Beil<lb/> daran aufhängen kann".</p><lb/> <p xml:id="ID_353"> Etwa gegen zwei Uhr Nachts waren wir in Khokand. Der Versuch einer<lb/> Fortsetzung der begonnenen kümmerlichen Nachtruhe auf dem Bahnhof scheiterte<lb/> am Restaurateur und Vorstand. Es half nichts, wir mußten einen Wagen<lb/> nehmen und in das empfohlne Hotel Nossijci fahren, denn der Weg war<lb/> weit. Aber er war eben und trocken, und unser bisheriger Begleiter, das<lb/> Wetterglück, hatte sich wieder eingestellt. Ein paar Bassermannsche Gestalten<lb/> biwakierten sogar an irgendeiner Straßenecke um ein kleines Feuer. Das war<lb/> vielleicht poetisch, die Regelung unsrer Unterkunftsfrage jedoch schauderhafteste<lb/> Prosa. Denn die Gostinniza Rossija war nur eine von zwei unglaublich<lb/> schmutzigen Kellnern bediente, ursprünglich gar nicht schlechte Filiale. Müh¬<lb/> selig schleppten wir mit einem Kellner drei Betten — zwei Reisegeführten<lb/> hatten in Sehnsucht nach Taschkend ungewandterweise die Fahrt dahin fort¬<lb/> gesetzt — in ein Zimmer mit unverhüllten Fenstern zusammen, um uns durch<lb/> Schlaf für einen letzten ausgiebigen Basarbesuch zu stärken. Das Erwachen<lb/> war freilich übel, der Versuch, ein Frühstück herzustellen, ein verunglücktes<lb/> Unternehmen — nur der Ssamowar tat seine Schuldigkeit.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0099]
Einige Tage im Gebiet Ferghana
8 Uhr Morgens kam bei trübem, windstillem Wetter der erste heftige Stoß
und dann eine Stunde spater ein 6 bis 7 Sekunden langes heftiges Schütteln,
das alles durcheinanderwarf. Man hatte das Gefühl einer tiefen Ohnmacht
und sah zum Bewußtsein gekommen mit Schrecken das Bild der Zerstörung.
Weil sich die Hauptbewegung aber durch einen Stoß angekündigt hatte, und
viele Menschen sich trotz leichten Frostes infolgedessen auf der Straße aufhielten,
ist die Zahl der Opfer noch in den oben angegebnen Grenzen geblieben.
Wenn auch das Zentrum in unbewohnter Gegend zu suchen ist, die Wirkung
muß doch grauenerregend gewesen sein, durchaus geeignet, daran zu er¬
innern, daß der dunkeln Mächte Gewalt dem Menschen ungestraft keine para¬
diesische Fruchtbarkeit gönnt.
Die Ansichtspostkartenindustrie hat sich der Folgen der Erscheinung be¬
mächtigt; eine Stargarder Firma vertreibt die Kartenbilder und illustriert auf
ihre Weise die neue Wahrheit, daß der deutsche Unternehmungsgeist heute
überall zu finden ist. Die russische Post hat während des Krieges zugunsten
des Roten Kreuzes die Postkartennarrheit auszuschlachten versucht und selber
alle möglichen Ansichtskarten mit sibirischen Luxus- und Sanitätszügen,
Kriegsszenen und Volkstypenbildern abzusetzen versucht. Man war auf der
— militärisch bewachten — Post in Andishan so liebenswürdig, daß wir
gern ein Scherflein zu dem guten Zweck beitrugen und ein paar Sätze der
um ein paar Kopeken verteuerten Kriegsmarken kauften, deren Preisaufschläge
ebenfalls dem Roten Kreuz zugeführt werden sollten.
Das unleidliche Wetter setzte schließlich trotz dem besten Willen unserm
Tätigkeitstrieb in Andishan selber häßliche Schranken. So vertrauten wir
uns denn schon dem gemischten Abendzug mit der Absicht an, während einer
halbtägigen Fahrtunterbrechung auch Khokcmd einen Besuch abzustatten. Der
Stationsvorsteher hatte uns zwar ein geschlossenes Abteil besorgt, aber die
Quadratur des Zirkels ist nicht schwerer als der Versuch, in einem zweit¬
klassigen Abteil für vier Personen Ruhe in ausgestrecktem Zustande für fünf
zu beschaffen, besonders wenn man in der dumpfen Luft des geheizten Abdens
zu ersticken meint und bei einem Lüftungsversuch erschrocken vor dem Dunst
zurückprallt, der aus dem nachbarlichen Durchgangsraum des Wagens entgegen¬
quillt. Der Russe nennt solche Luft „so zusammengepreßt, daß man ein Beil
daran aufhängen kann".
Etwa gegen zwei Uhr Nachts waren wir in Khokand. Der Versuch einer
Fortsetzung der begonnenen kümmerlichen Nachtruhe auf dem Bahnhof scheiterte
am Restaurateur und Vorstand. Es half nichts, wir mußten einen Wagen
nehmen und in das empfohlne Hotel Nossijci fahren, denn der Weg war
weit. Aber er war eben und trocken, und unser bisheriger Begleiter, das
Wetterglück, hatte sich wieder eingestellt. Ein paar Bassermannsche Gestalten
biwakierten sogar an irgendeiner Straßenecke um ein kleines Feuer. Das war
vielleicht poetisch, die Regelung unsrer Unterkunftsfrage jedoch schauderhafteste
Prosa. Denn die Gostinniza Rossija war nur eine von zwei unglaublich
schmutzigen Kellnern bediente, ursprünglich gar nicht schlechte Filiale. Müh¬
selig schleppten wir mit einem Kellner drei Betten — zwei Reisegeführten
hatten in Sehnsucht nach Taschkend ungewandterweise die Fahrt dahin fort¬
gesetzt — in ein Zimmer mit unverhüllten Fenstern zusammen, um uns durch
Schlaf für einen letzten ausgiebigen Basarbesuch zu stärken. Das Erwachen
war freilich übel, der Versuch, ein Frühstück herzustellen, ein verunglücktes
Unternehmen — nur der Ssamowar tat seine Schuldigkeit.
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