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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

aber auch da noch dachte man nur vereinzelt daran, deutsche Schriftsteller in öffent¬
lichen Lehrstunden zu lesen. Erzählte mir doch sogar Theodor Storm noch, daß
zu seiner Schülerzeit auf der Husumer Gelehrtenschule eines damals noch lebenden
deutschen Dichters nimmer gedacht worden sei. Das war ein ganz unbekannter
Begriff; und es gibt auch heute noch verstaubte Gelehrtenseelen genug, für die nur
Wert und Bedeutung hat, was durch ehrwürdiges Alter allem Zweifel entrückt und
geheiligt worden ist, mag es noch so vergilbt und verwittert und leblos sein.

Vortrefflich hat Matthias seinen Stoff gegliedert; an die einzelne Periode
wird ein Rückblick angeschlossen, und die Jahrhunderte werden nach den Richt¬
linien der Grammatik, Orthographie und Stilübungen in Oratorie, Beredsamkeit
und Wohlredenheit, Poetik usw. durchmustert. Mit großer Offenheit bekennt er
im Vorwort, welche Lücken sein Werk behalten mußte, und was er seinen Vor¬
arbeitern verdankt, die er getreulich ducht; trotz ihrer Menge war ein großes Stück
eigner Arbeit zu leisten, und jeder Kenner wird das Geleistete mit Freude und
Dankbarkeit begrüßen. Besonders für das neunzehnte Jahrhundert und für die
Gegenwart war es schwierig, die leitenden Ideen und die führenden Geister aus
der großen Zahl von Reformen und Reformern herauszuheben; er sagt darum
auch: "Wir und die Gegenwart treten in gebührender Bescheidenheit zurück." Er
weiß aber auch, daß neben den Wortführern wie Hiecke, Wackernagel, Laas, Hilde¬
brand usw. jene zurückgezognen Naturen, die in der Schulstube Bedeutendes ge¬
leistet haben, ohne an die Öffentlichkeit zu treten, "nicht selten weit mehr auf der
Höhe der Zeiten gestanden haben als andre, welche die publizierende Feder führten
und mit ihren Leistungen literarisch prunkten; sie haben die Entwicklung des Unter¬
richts dadurch, daß ihr Segen auf die Lernenden überging, sicherlich oft mehr
gefördert als andre, die an die große Glocke zu schlagen verstanden". Doch auch
manches Gedruckte, von der Zeit aber Verdrängte mußte natürlich auch dem
fleißigsten Spürsinn entgehen. So liegt für mich die Sohnespflicht nahe, an
meinen Vater, den Aristoteliker Franz Biese (1803 bis 1895) zu erinnern, den
eigentlichen Organisator des Putbusser Pädagogiums, dessen erster Professor er
von 1836 bis 1878 war; schon von Beginn der Anstalt lehrte er philosophische
Propcideutik und gab 1845 ein --- Johannes Schulze gewidmetes -- Handbuch für
diese heraus; was er in der Vorrede sagt, hat auch heute, nach sechzig Jahren,
noch seine Bedeutung oder erlangt sie erst jetzt aufs neue, wo mau sich wieder
darauf besinnt, den Unterricht philosophisch zu gestalten. Da heißt es, so bedeut¬
sames Material Mathematik und Naturwissenschaft für die philosophische Pro-
pädeutik darböten, so sei doch "der deutsche Unterricht von der Art, daß sich hier
die Einwirkung auf das Fühlen und Denken des Schülers und somit auf seine
Gesamtbildung vorzüglich geltend machen könne; hierzu kommt, daß der deutsche
Aufsatz am meisten Gelegenheit bietet, zu prüfen, wieweit alles das, was durch die
einzelnen Unterrichtsgegenstände im Schüler zur geistigen Existenz gekommen ist,
frei von ihm reproduziert und dargestellt wird; hier tritt die subjektive Gedanken¬
welt, wie sie im Schüler Gestalt gewonnen hat, am entschiedensten hervor; daher
es nicht bloß als wünschenswert, sondern auch als notwendig erscheint, daß der
propädeutische Unterricht von dem Lehrer der deutschen Sprache erteilt werde. Die
Wechselwirkung des Lebens und der Wissenschaft, welche für die Propädeutik nie
aus den Augen gelassen werden darf, läßt sich hier besonders an den geistigen
Produkten unsrer vaterländischen Literatur nachweisen, und es bleibt eine besondre
Aufgabe für den Abschluß der Gesamtbildung unsrer Zöglinge, daß sie sich in ein
immer mehr bewußtes geistiges Verhältnis zum deutschen Volk hineinleben, indem
sie in der Literatur als dem Ausdruck des nationalen Geistes die wahre ideale


Maßgebliches und Unmaßgebliches

aber auch da noch dachte man nur vereinzelt daran, deutsche Schriftsteller in öffent¬
lichen Lehrstunden zu lesen. Erzählte mir doch sogar Theodor Storm noch, daß
zu seiner Schülerzeit auf der Husumer Gelehrtenschule eines damals noch lebenden
deutschen Dichters nimmer gedacht worden sei. Das war ein ganz unbekannter
Begriff; und es gibt auch heute noch verstaubte Gelehrtenseelen genug, für die nur
Wert und Bedeutung hat, was durch ehrwürdiges Alter allem Zweifel entrückt und
geheiligt worden ist, mag es noch so vergilbt und verwittert und leblos sein.

Vortrefflich hat Matthias seinen Stoff gegliedert; an die einzelne Periode
wird ein Rückblick angeschlossen, und die Jahrhunderte werden nach den Richt¬
linien der Grammatik, Orthographie und Stilübungen in Oratorie, Beredsamkeit
und Wohlredenheit, Poetik usw. durchmustert. Mit großer Offenheit bekennt er
im Vorwort, welche Lücken sein Werk behalten mußte, und was er seinen Vor¬
arbeitern verdankt, die er getreulich ducht; trotz ihrer Menge war ein großes Stück
eigner Arbeit zu leisten, und jeder Kenner wird das Geleistete mit Freude und
Dankbarkeit begrüßen. Besonders für das neunzehnte Jahrhundert und für die
Gegenwart war es schwierig, die leitenden Ideen und die führenden Geister aus
der großen Zahl von Reformen und Reformern herauszuheben; er sagt darum
auch: „Wir und die Gegenwart treten in gebührender Bescheidenheit zurück." Er
weiß aber auch, daß neben den Wortführern wie Hiecke, Wackernagel, Laas, Hilde¬
brand usw. jene zurückgezognen Naturen, die in der Schulstube Bedeutendes ge¬
leistet haben, ohne an die Öffentlichkeit zu treten, „nicht selten weit mehr auf der
Höhe der Zeiten gestanden haben als andre, welche die publizierende Feder führten
und mit ihren Leistungen literarisch prunkten; sie haben die Entwicklung des Unter¬
richts dadurch, daß ihr Segen auf die Lernenden überging, sicherlich oft mehr
gefördert als andre, die an die große Glocke zu schlagen verstanden". Doch auch
manches Gedruckte, von der Zeit aber Verdrängte mußte natürlich auch dem
fleißigsten Spürsinn entgehen. So liegt für mich die Sohnespflicht nahe, an
meinen Vater, den Aristoteliker Franz Biese (1803 bis 1895) zu erinnern, den
eigentlichen Organisator des Putbusser Pädagogiums, dessen erster Professor er
von 1836 bis 1878 war; schon von Beginn der Anstalt lehrte er philosophische
Propcideutik und gab 1845 ein —- Johannes Schulze gewidmetes — Handbuch für
diese heraus; was er in der Vorrede sagt, hat auch heute, nach sechzig Jahren,
noch seine Bedeutung oder erlangt sie erst jetzt aufs neue, wo mau sich wieder
darauf besinnt, den Unterricht philosophisch zu gestalten. Da heißt es, so bedeut¬
sames Material Mathematik und Naturwissenschaft für die philosophische Pro-
pädeutik darböten, so sei doch „der deutsche Unterricht von der Art, daß sich hier
die Einwirkung auf das Fühlen und Denken des Schülers und somit auf seine
Gesamtbildung vorzüglich geltend machen könne; hierzu kommt, daß der deutsche
Aufsatz am meisten Gelegenheit bietet, zu prüfen, wieweit alles das, was durch die
einzelnen Unterrichtsgegenstände im Schüler zur geistigen Existenz gekommen ist,
frei von ihm reproduziert und dargestellt wird; hier tritt die subjektive Gedanken¬
welt, wie sie im Schüler Gestalt gewonnen hat, am entschiedensten hervor; daher
es nicht bloß als wünschenswert, sondern auch als notwendig erscheint, daß der
propädeutische Unterricht von dem Lehrer der deutschen Sprache erteilt werde. Die
Wechselwirkung des Lebens und der Wissenschaft, welche für die Propädeutik nie
aus den Augen gelassen werden darf, läßt sich hier besonders an den geistigen
Produkten unsrer vaterländischen Literatur nachweisen, und es bleibt eine besondre
Aufgabe für den Abschluß der Gesamtbildung unsrer Zöglinge, daß sie sich in ein
immer mehr bewußtes geistiges Verhältnis zum deutschen Volk hineinleben, indem
sie in der Literatur als dem Ausdruck des nationalen Geistes die wahre ideale


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[0705] Maßgebliches und Unmaßgebliches aber auch da noch dachte man nur vereinzelt daran, deutsche Schriftsteller in öffent¬ lichen Lehrstunden zu lesen. Erzählte mir doch sogar Theodor Storm noch, daß zu seiner Schülerzeit auf der Husumer Gelehrtenschule eines damals noch lebenden deutschen Dichters nimmer gedacht worden sei. Das war ein ganz unbekannter Begriff; und es gibt auch heute noch verstaubte Gelehrtenseelen genug, für die nur Wert und Bedeutung hat, was durch ehrwürdiges Alter allem Zweifel entrückt und geheiligt worden ist, mag es noch so vergilbt und verwittert und leblos sein. Vortrefflich hat Matthias seinen Stoff gegliedert; an die einzelne Periode wird ein Rückblick angeschlossen, und die Jahrhunderte werden nach den Richt¬ linien der Grammatik, Orthographie und Stilübungen in Oratorie, Beredsamkeit und Wohlredenheit, Poetik usw. durchmustert. Mit großer Offenheit bekennt er im Vorwort, welche Lücken sein Werk behalten mußte, und was er seinen Vor¬ arbeitern verdankt, die er getreulich ducht; trotz ihrer Menge war ein großes Stück eigner Arbeit zu leisten, und jeder Kenner wird das Geleistete mit Freude und Dankbarkeit begrüßen. Besonders für das neunzehnte Jahrhundert und für die Gegenwart war es schwierig, die leitenden Ideen und die führenden Geister aus der großen Zahl von Reformen und Reformern herauszuheben; er sagt darum auch: „Wir und die Gegenwart treten in gebührender Bescheidenheit zurück." Er weiß aber auch, daß neben den Wortführern wie Hiecke, Wackernagel, Laas, Hilde¬ brand usw. jene zurückgezognen Naturen, die in der Schulstube Bedeutendes ge¬ leistet haben, ohne an die Öffentlichkeit zu treten, „nicht selten weit mehr auf der Höhe der Zeiten gestanden haben als andre, welche die publizierende Feder führten und mit ihren Leistungen literarisch prunkten; sie haben die Entwicklung des Unter¬ richts dadurch, daß ihr Segen auf die Lernenden überging, sicherlich oft mehr gefördert als andre, die an die große Glocke zu schlagen verstanden". Doch auch manches Gedruckte, von der Zeit aber Verdrängte mußte natürlich auch dem fleißigsten Spürsinn entgehen. So liegt für mich die Sohnespflicht nahe, an meinen Vater, den Aristoteliker Franz Biese (1803 bis 1895) zu erinnern, den eigentlichen Organisator des Putbusser Pädagogiums, dessen erster Professor er von 1836 bis 1878 war; schon von Beginn der Anstalt lehrte er philosophische Propcideutik und gab 1845 ein —- Johannes Schulze gewidmetes — Handbuch für diese heraus; was er in der Vorrede sagt, hat auch heute, nach sechzig Jahren, noch seine Bedeutung oder erlangt sie erst jetzt aufs neue, wo mau sich wieder darauf besinnt, den Unterricht philosophisch zu gestalten. Da heißt es, so bedeut¬ sames Material Mathematik und Naturwissenschaft für die philosophische Pro- pädeutik darböten, so sei doch „der deutsche Unterricht von der Art, daß sich hier die Einwirkung auf das Fühlen und Denken des Schülers und somit auf seine Gesamtbildung vorzüglich geltend machen könne; hierzu kommt, daß der deutsche Aufsatz am meisten Gelegenheit bietet, zu prüfen, wieweit alles das, was durch die einzelnen Unterrichtsgegenstände im Schüler zur geistigen Existenz gekommen ist, frei von ihm reproduziert und dargestellt wird; hier tritt die subjektive Gedanken¬ welt, wie sie im Schüler Gestalt gewonnen hat, am entschiedensten hervor; daher es nicht bloß als wünschenswert, sondern auch als notwendig erscheint, daß der propädeutische Unterricht von dem Lehrer der deutschen Sprache erteilt werde. Die Wechselwirkung des Lebens und der Wissenschaft, welche für die Propädeutik nie aus den Augen gelassen werden darf, läßt sich hier besonders an den geistigen Produkten unsrer vaterländischen Literatur nachweisen, und es bleibt eine besondre Aufgabe für den Abschluß der Gesamtbildung unsrer Zöglinge, daß sie sich in ein immer mehr bewußtes geistiges Verhältnis zum deutschen Volk hineinleben, indem sie in der Literatur als dem Ausdruck des nationalen Geistes die wahre ideale

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/705>, abgerufen am 05.12.2024.