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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Über Machtfragen

auf dem Weltmarkte in stetem Aufsteigen begriffen ist. Seine Wehrmacht ist
aber nicht in gleichem Maße entwickelt worden.

Man ist sich in weiten Kreisen der Bevölkerung nicht hinreichend klar
darüber, in welchem Maße sich die Machtverhältnisse seit dreißig Jahren ver¬
schoben haben, man verschließt sich der Erkenntnis, daß Deutschland nicht mehr als
alleinige Macht mit der allgemeinen Wehrpflicht allen Nachbarn weit überlegen
gegenübersteht. So war es in den großen Entscheidungsjahren 1866 und 1870,
aber es ist nicht mehr so. Alle die großen Vorteile, die damals Deutschland
seiner Überlegenheit der Zahl an Truppen und Geschützen, der raschen und plan¬
mäßigen Mobilisierung, der musterhaften Kriegsvorbereitung, der festen Orga¬
nisation der Truppen der zweiten Linie und des Ersatzwesens verdankte, haben
sich inzwischen die großen Nachbarstaaten auch angeeignet, und es ist ihnen
meist in hohem Maße gelungen. Daß Deutschland bei einem Zukunftskriege
hinter der feindlichen Hauptarmee nur auf eilig zusammengeraffte Gambettasche
Truppenbildungen treffen würde, ist gänzlich ausgeschlossen. Die allgemeine
Wehrpflicht ist überall durchgeführt worden, und Frankreich namentlich hat dabei
Anstrengungen gemacht, die die deutschen weit überboten. Ende der achtziger
Jahre war Frankreich sogar schon stärker an ausgebildeten Mannschaften als
Deutschland, was zu dem bekannten Boulangerrummel führte. Erst seit der
Einführung der zweijährigen Dienstzeit und der Vermehrung der deutschen Re¬
gimenter hat der Wettlauf um die Truppenzahl aufgehört, und das deutsche
Heer nimmt entsprechend der Überzahl der Bevölkerung wieder den ihm gebüh¬
renden Vorrang in der Truppenzisfer ein. Eine Überlegenheit, wie sie 1870
bestand, ist aber keineswegs erreicht worden und würde nicht einmal erreicht
werden, wenn Deutschland mit der gleichen Schärfe rekrutieren wollte wie
Frankreich. Das ist auch nicht nötig, da die einfache Überlegenheit genügt,
und da Deutschland nur verteidigen und nichts erobern will. Wie weit es in
den andern Kriegsvorbereitungen von andern Mächten eingeholt oder gar über¬
boten worden ist, entzieht sich der öffentlichen Kenntnis, So unvorbereitet und
unfertig wie 1870 werden aber Deutschlands Gegner in keinem Falle wieder
sein. Daß die Franzosen vor zwei Jahren bei der plötzlichen Zuspitzung der
marokkanischen Frage eine außerordentliche Ausgabe von mehr als 200 Mil¬
lionen für Heeresbedürfnisse machen mußten, läßt allerdings den Schluß zu,
daß Deutschland noch einen größern Vorsprung hat. Aber eine Überlegenheit
in dem Maße, wie sie Deutschland infolge der allgemeinen Wehrpflicht noch
vor dreißig Jahren hatte, besteht nicht mehr. Das ist eine Tatsache, die auch
in den politischen Beziehungen und Verhältnissen zum Ausdruck kommen muß.
Trotz allem ist aber Deutschland immer noch der mächtigste Militärstaat, den
niemand ungestraft anzugreifen wagen wird, in kontinentalen Angelegenheiten
nimmt es darum noch genau die Stellung ein wie zu den Zeiten Bismarcks.

Das hat sich deutlich bei der marokkanischen Frage gezeigt. Infolge Del-
casses Versuch einer geflissentlicher Beiseiteschiebung Deutschlands war eine Lage


Über Machtfragen

auf dem Weltmarkte in stetem Aufsteigen begriffen ist. Seine Wehrmacht ist
aber nicht in gleichem Maße entwickelt worden.

Man ist sich in weiten Kreisen der Bevölkerung nicht hinreichend klar
darüber, in welchem Maße sich die Machtverhältnisse seit dreißig Jahren ver¬
schoben haben, man verschließt sich der Erkenntnis, daß Deutschland nicht mehr als
alleinige Macht mit der allgemeinen Wehrpflicht allen Nachbarn weit überlegen
gegenübersteht. So war es in den großen Entscheidungsjahren 1866 und 1870,
aber es ist nicht mehr so. Alle die großen Vorteile, die damals Deutschland
seiner Überlegenheit der Zahl an Truppen und Geschützen, der raschen und plan¬
mäßigen Mobilisierung, der musterhaften Kriegsvorbereitung, der festen Orga¬
nisation der Truppen der zweiten Linie und des Ersatzwesens verdankte, haben
sich inzwischen die großen Nachbarstaaten auch angeeignet, und es ist ihnen
meist in hohem Maße gelungen. Daß Deutschland bei einem Zukunftskriege
hinter der feindlichen Hauptarmee nur auf eilig zusammengeraffte Gambettasche
Truppenbildungen treffen würde, ist gänzlich ausgeschlossen. Die allgemeine
Wehrpflicht ist überall durchgeführt worden, und Frankreich namentlich hat dabei
Anstrengungen gemacht, die die deutschen weit überboten. Ende der achtziger
Jahre war Frankreich sogar schon stärker an ausgebildeten Mannschaften als
Deutschland, was zu dem bekannten Boulangerrummel führte. Erst seit der
Einführung der zweijährigen Dienstzeit und der Vermehrung der deutschen Re¬
gimenter hat der Wettlauf um die Truppenzahl aufgehört, und das deutsche
Heer nimmt entsprechend der Überzahl der Bevölkerung wieder den ihm gebüh¬
renden Vorrang in der Truppenzisfer ein. Eine Überlegenheit, wie sie 1870
bestand, ist aber keineswegs erreicht worden und würde nicht einmal erreicht
werden, wenn Deutschland mit der gleichen Schärfe rekrutieren wollte wie
Frankreich. Das ist auch nicht nötig, da die einfache Überlegenheit genügt,
und da Deutschland nur verteidigen und nichts erobern will. Wie weit es in
den andern Kriegsvorbereitungen von andern Mächten eingeholt oder gar über¬
boten worden ist, entzieht sich der öffentlichen Kenntnis, So unvorbereitet und
unfertig wie 1870 werden aber Deutschlands Gegner in keinem Falle wieder
sein. Daß die Franzosen vor zwei Jahren bei der plötzlichen Zuspitzung der
marokkanischen Frage eine außerordentliche Ausgabe von mehr als 200 Mil¬
lionen für Heeresbedürfnisse machen mußten, läßt allerdings den Schluß zu,
daß Deutschland noch einen größern Vorsprung hat. Aber eine Überlegenheit
in dem Maße, wie sie Deutschland infolge der allgemeinen Wehrpflicht noch
vor dreißig Jahren hatte, besteht nicht mehr. Das ist eine Tatsache, die auch
in den politischen Beziehungen und Verhältnissen zum Ausdruck kommen muß.
Trotz allem ist aber Deutschland immer noch der mächtigste Militärstaat, den
niemand ungestraft anzugreifen wagen wird, in kontinentalen Angelegenheiten
nimmt es darum noch genau die Stellung ein wie zu den Zeiten Bismarcks.

Das hat sich deutlich bei der marokkanischen Frage gezeigt. Infolge Del-
casses Versuch einer geflissentlicher Beiseiteschiebung Deutschlands war eine Lage


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[0068] Über Machtfragen auf dem Weltmarkte in stetem Aufsteigen begriffen ist. Seine Wehrmacht ist aber nicht in gleichem Maße entwickelt worden. Man ist sich in weiten Kreisen der Bevölkerung nicht hinreichend klar darüber, in welchem Maße sich die Machtverhältnisse seit dreißig Jahren ver¬ schoben haben, man verschließt sich der Erkenntnis, daß Deutschland nicht mehr als alleinige Macht mit der allgemeinen Wehrpflicht allen Nachbarn weit überlegen gegenübersteht. So war es in den großen Entscheidungsjahren 1866 und 1870, aber es ist nicht mehr so. Alle die großen Vorteile, die damals Deutschland seiner Überlegenheit der Zahl an Truppen und Geschützen, der raschen und plan¬ mäßigen Mobilisierung, der musterhaften Kriegsvorbereitung, der festen Orga¬ nisation der Truppen der zweiten Linie und des Ersatzwesens verdankte, haben sich inzwischen die großen Nachbarstaaten auch angeeignet, und es ist ihnen meist in hohem Maße gelungen. Daß Deutschland bei einem Zukunftskriege hinter der feindlichen Hauptarmee nur auf eilig zusammengeraffte Gambettasche Truppenbildungen treffen würde, ist gänzlich ausgeschlossen. Die allgemeine Wehrpflicht ist überall durchgeführt worden, und Frankreich namentlich hat dabei Anstrengungen gemacht, die die deutschen weit überboten. Ende der achtziger Jahre war Frankreich sogar schon stärker an ausgebildeten Mannschaften als Deutschland, was zu dem bekannten Boulangerrummel führte. Erst seit der Einführung der zweijährigen Dienstzeit und der Vermehrung der deutschen Re¬ gimenter hat der Wettlauf um die Truppenzahl aufgehört, und das deutsche Heer nimmt entsprechend der Überzahl der Bevölkerung wieder den ihm gebüh¬ renden Vorrang in der Truppenzisfer ein. Eine Überlegenheit, wie sie 1870 bestand, ist aber keineswegs erreicht worden und würde nicht einmal erreicht werden, wenn Deutschland mit der gleichen Schärfe rekrutieren wollte wie Frankreich. Das ist auch nicht nötig, da die einfache Überlegenheit genügt, und da Deutschland nur verteidigen und nichts erobern will. Wie weit es in den andern Kriegsvorbereitungen von andern Mächten eingeholt oder gar über¬ boten worden ist, entzieht sich der öffentlichen Kenntnis, So unvorbereitet und unfertig wie 1870 werden aber Deutschlands Gegner in keinem Falle wieder sein. Daß die Franzosen vor zwei Jahren bei der plötzlichen Zuspitzung der marokkanischen Frage eine außerordentliche Ausgabe von mehr als 200 Mil¬ lionen für Heeresbedürfnisse machen mußten, läßt allerdings den Schluß zu, daß Deutschland noch einen größern Vorsprung hat. Aber eine Überlegenheit in dem Maße, wie sie Deutschland infolge der allgemeinen Wehrpflicht noch vor dreißig Jahren hatte, besteht nicht mehr. Das ist eine Tatsache, die auch in den politischen Beziehungen und Verhältnissen zum Ausdruck kommen muß. Trotz allem ist aber Deutschland immer noch der mächtigste Militärstaat, den niemand ungestraft anzugreifen wagen wird, in kontinentalen Angelegenheiten nimmt es darum noch genau die Stellung ein wie zu den Zeiten Bismarcks. Das hat sich deutlich bei der marokkanischen Frage gezeigt. Infolge Del- casses Versuch einer geflissentlicher Beiseiteschiebung Deutschlands war eine Lage

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/68>, abgerufen am 01.09.2024.