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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Über Machtfragen

aber wegen der vielen andern, die die Geschichte mit ihren Lehrmeinungen messen
und die Politik nach ihren Gefühlen geführt sehen möchten, nicht oft genug
ausgesprochen werden. In Deutschland ist sogar in den mit höherer Bildung
ausgestatteten Schichten das Verständnis für die Mnchtfragen der modernen
Politik allgemein nicht so weit ausgebildet, daß es bei Anwendung der durch
die Verfassung dem Volk verliehenen Befugnisse nützlich zur Geltung käme.
Wegen aller durchgreifenden Heeresfragen hat der Reichstag aufgelöst werden
müssen. Die Parlamente andrer Staaten brauchen nicht erst durch bedrohliche
Volksbewegungen bewogen zu werden, die unentbehrlichen Mittel für die nationale
Wehrkraft zu bewilligen. Man darf sich dann aber nicht wundern, wenn die
Achtung vor einer Nation sinkt, die doch schließlich für die Taten ihrer Er¬
wählten verantwortlich ist, wenn diese zur Bewilligung des in andern Staaten
selbstverständlichen erst durch das Äußerste gezwungen werden müssen. Solche
Selbstherabsetzung in der Achtung des Auslands kann auch der bedeutendste
Staatsmann nicht wieder gut machen; man braucht die Schuld also gar nicht
darauf zu schieben, daß kein Bismarck mehr da ist. Flotten und Heere stampft
man nicht aus der Erde, die müssen in langer Friedensarbeit mühsam geschaffen
werden. So war es 1866: militärisch, finanziell und diplomatisch war alles
sorgsam vorbereitet worden, ohne daß das Ausland viel davon bemerkt hatte.
Dann gelang das große Werk überraschend schnell und über alle Erwartung
hinaus. Freilich hatte das preußische Abgeordnetenhaus auch den heftigsten Wider¬
stand geleistet, aber der dadurch hervorgerufne Lärm trug glücklicherweise nur dazu
bei, daß sich das Ausland über die durchschlagende Kraft des im stillen Ge¬
schaffnen täuschte. Uuter den neuern Umstünden ist das Reich viel weniger zu
einer gleichüberraschenden Machtentfaltung imstande. Bei einem Parlament, wie
es das Reich gewöhnlich hat, und bei einer Wählerschaft, die kein besseres zu
wünschen scheint, denn sonst würde sie anders wählen, läßt sich nicht mehr still
und sachlich arbeiten. Hat man nicht wegen der Truppenstärke für Südwest¬
afrika den letzten Reichstag auflösen müssen? Was nicht mit allen Hilfsmitteln
der öffentlichen Agitation eingeleitet wird, fällt bei unsrer Fraktionswirtschaft
unter den Tisch. Nur mächtige Wellenschlage der Begeisterung, des Einigkeits¬
gefühls und des allgemeinen Unwillens haben bedeutungslose Parlamente in
respektable Versammlungen umgewandelt -- bis zur nächsten Wahl.

Man hat doch sogar für die notwendige Weltpolitik erst das Endziel
programmatisch aufstellen müssen, um auch nur nach und nach von widerwilligen
Parteien kürgliche Bewilligungen zu erreichen. Noch heute machen sich Mei¬
nungen breit, als habe Deutschland die Wahl, ob es eine europäische Gro߬
macht bleiben oder erst eine sogenannte Weltmacht werden wolle. Die Sache
liegt aber doch ganz anders. Wir sind dnrch den Zwang der Verhältnisse, und
nicht etwa durch eine kaiserliche Laune oder dergleichen, zur Weltmacht geworden,
und es handelt sich in der Gegenwart nur noch darum, ob wir die Macht¬
mittel aufbringen und erhalten wollen, die diese Stellung für die Zukunft sichern.


Über Machtfragen

aber wegen der vielen andern, die die Geschichte mit ihren Lehrmeinungen messen
und die Politik nach ihren Gefühlen geführt sehen möchten, nicht oft genug
ausgesprochen werden. In Deutschland ist sogar in den mit höherer Bildung
ausgestatteten Schichten das Verständnis für die Mnchtfragen der modernen
Politik allgemein nicht so weit ausgebildet, daß es bei Anwendung der durch
die Verfassung dem Volk verliehenen Befugnisse nützlich zur Geltung käme.
Wegen aller durchgreifenden Heeresfragen hat der Reichstag aufgelöst werden
müssen. Die Parlamente andrer Staaten brauchen nicht erst durch bedrohliche
Volksbewegungen bewogen zu werden, die unentbehrlichen Mittel für die nationale
Wehrkraft zu bewilligen. Man darf sich dann aber nicht wundern, wenn die
Achtung vor einer Nation sinkt, die doch schließlich für die Taten ihrer Er¬
wählten verantwortlich ist, wenn diese zur Bewilligung des in andern Staaten
selbstverständlichen erst durch das Äußerste gezwungen werden müssen. Solche
Selbstherabsetzung in der Achtung des Auslands kann auch der bedeutendste
Staatsmann nicht wieder gut machen; man braucht die Schuld also gar nicht
darauf zu schieben, daß kein Bismarck mehr da ist. Flotten und Heere stampft
man nicht aus der Erde, die müssen in langer Friedensarbeit mühsam geschaffen
werden. So war es 1866: militärisch, finanziell und diplomatisch war alles
sorgsam vorbereitet worden, ohne daß das Ausland viel davon bemerkt hatte.
Dann gelang das große Werk überraschend schnell und über alle Erwartung
hinaus. Freilich hatte das preußische Abgeordnetenhaus auch den heftigsten Wider¬
stand geleistet, aber der dadurch hervorgerufne Lärm trug glücklicherweise nur dazu
bei, daß sich das Ausland über die durchschlagende Kraft des im stillen Ge¬
schaffnen täuschte. Uuter den neuern Umstünden ist das Reich viel weniger zu
einer gleichüberraschenden Machtentfaltung imstande. Bei einem Parlament, wie
es das Reich gewöhnlich hat, und bei einer Wählerschaft, die kein besseres zu
wünschen scheint, denn sonst würde sie anders wählen, läßt sich nicht mehr still
und sachlich arbeiten. Hat man nicht wegen der Truppenstärke für Südwest¬
afrika den letzten Reichstag auflösen müssen? Was nicht mit allen Hilfsmitteln
der öffentlichen Agitation eingeleitet wird, fällt bei unsrer Fraktionswirtschaft
unter den Tisch. Nur mächtige Wellenschlage der Begeisterung, des Einigkeits¬
gefühls und des allgemeinen Unwillens haben bedeutungslose Parlamente in
respektable Versammlungen umgewandelt — bis zur nächsten Wahl.

Man hat doch sogar für die notwendige Weltpolitik erst das Endziel
programmatisch aufstellen müssen, um auch nur nach und nach von widerwilligen
Parteien kürgliche Bewilligungen zu erreichen. Noch heute machen sich Mei¬
nungen breit, als habe Deutschland die Wahl, ob es eine europäische Gro߬
macht bleiben oder erst eine sogenannte Weltmacht werden wolle. Die Sache
liegt aber doch ganz anders. Wir sind dnrch den Zwang der Verhältnisse, und
nicht etwa durch eine kaiserliche Laune oder dergleichen, zur Weltmacht geworden,
und es handelt sich in der Gegenwart nur noch darum, ob wir die Macht¬
mittel aufbringen und erhalten wollen, die diese Stellung für die Zukunft sichern.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/65>, abgerufen am 01.09.2024.