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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Sevilla

diesem einzigstehenden Kirchenfest Los Seises festhält, das keine andre Kirche
in der katholischen Christenheit abzuhalten Erlaubnis hat, und das mehrere Päpste
vergebens abzuschaffen versuchten.

Denn dem fröhlichen Sevillcmer ist nur eines heilig: die Freude selbst.
Alles, was diese dämpfen will, reizt ihn zu Spott; die Frömmigkeit im eignen
Gemüt füllt ihn mit blasphemischem Verlangen, das mit der Stärke seiner
Gottesfurcht zu wachsen scheint. Nirgends in dem blasphemischen Andalusien
vereint sich Gottesfurcht und Gottesverhöhnung so leicht und natürlich in der¬
selben Person wie hier. Ich könnte dies mit zahlreichen Exempeln beleuchten,
begnüge mich aber nur mit einem der anständigsten.

Während unsers Aufenthalts in Sevilla wohnten wir bei zwei ältern
Damen, Schwestern, die sehr fromm waren und uns bei jedem Schritte der
Obhut irgend eines Heiligen anbefahlen. Aber einen guten Humor hatten sie
dennoch. Eines Tages rieten sie uns eindringlich, zu Zwecken unsers heutigen
Vorhabens zuerst in die Kathedrale zu gehn und die Madonna der Könige,
die diese Art Angelegenheiten unter sich habe, um ihre Gewogenheit anzuflehen,
denn sie könne große Wunder verrichten. So habe einmal ein Priester ihr
Kleid aufgehoben, um zu sehen, "woraus sie gemacht sei; und sie schlug ihn
mit Blindheit. Denn sie war ja nur aus Holz", fügten sie erklärend hinzu
und lachten.

Es war Sevilla, das auf den Gedanken verfiel, ein eingezognes Kapuziner¬
kloster entferne sich gar nicht von seiner Idee, wenn man eine Aktien-Schweine-
züchterei dort errichte. Der Sprung scheint auch nicht groß zu sein, man riecht
den Kapuziner auf größere Entfernung als ein Schwein, und mit Rücksicht auf
die Farbe sind sie so ziemlich gleich. Außerdem war es jedenfalls -- was der
Seltenheit wegen hervorgehoben werden muß -- ein ökonomischer Fortschritt.
Und jeden Sonntag wandert nun der Sevillaner hinaus und betrachtet die
Hunderte von Schweinen, die sich nun in Zellen und Klostergängen tummeln,
und deren Schinken, in Wein gelegt und in Kräutern geräuchert, das Pfund
einen Dollar kostet.

Als der germanische Gebrauch, auf den Friedhof zu gehn und seine Toten
zu besuchen, vor einigen Jahren auch Sevilla erreichte, faßte man ihn ganz
einfach als Belustigung auf, und alle ehrbaren Familien, ob sie nun draußen
Tote hatten oder nicht, packten Sonntags Speisen und Wein in ihren Korb
und wanderten auf den Kirchhof hinaus, wo sie -- so weit als möglich von
dem Grabe ihrer Lieben -- ein kleines Freudenfest feierten. Später verbot es
jedoch die hohe Obrigkeit, und seitdem gehn die Leute wieder weit um den
Kirchhof herum.

Sevilla hat trotz seines herrlichen Klimas den höchsten Sterblichkeitsprozent¬
satz aller spanischen Großstädte. Aber wo andre Städte dieser Fatalität mit
Kloakensystem und andern sanitären Vorkehrungen begegnen würden, da setzt
Sevilla ihr bloß ihre unverwüstliche Lebensfreude entgegen; die Stadt hat auch


Sevilla

diesem einzigstehenden Kirchenfest Los Seises festhält, das keine andre Kirche
in der katholischen Christenheit abzuhalten Erlaubnis hat, und das mehrere Päpste
vergebens abzuschaffen versuchten.

Denn dem fröhlichen Sevillcmer ist nur eines heilig: die Freude selbst.
Alles, was diese dämpfen will, reizt ihn zu Spott; die Frömmigkeit im eignen
Gemüt füllt ihn mit blasphemischem Verlangen, das mit der Stärke seiner
Gottesfurcht zu wachsen scheint. Nirgends in dem blasphemischen Andalusien
vereint sich Gottesfurcht und Gottesverhöhnung so leicht und natürlich in der¬
selben Person wie hier. Ich könnte dies mit zahlreichen Exempeln beleuchten,
begnüge mich aber nur mit einem der anständigsten.

Während unsers Aufenthalts in Sevilla wohnten wir bei zwei ältern
Damen, Schwestern, die sehr fromm waren und uns bei jedem Schritte der
Obhut irgend eines Heiligen anbefahlen. Aber einen guten Humor hatten sie
dennoch. Eines Tages rieten sie uns eindringlich, zu Zwecken unsers heutigen
Vorhabens zuerst in die Kathedrale zu gehn und die Madonna der Könige,
die diese Art Angelegenheiten unter sich habe, um ihre Gewogenheit anzuflehen,
denn sie könne große Wunder verrichten. So habe einmal ein Priester ihr
Kleid aufgehoben, um zu sehen, „woraus sie gemacht sei; und sie schlug ihn
mit Blindheit. Denn sie war ja nur aus Holz", fügten sie erklärend hinzu
und lachten.

Es war Sevilla, das auf den Gedanken verfiel, ein eingezognes Kapuziner¬
kloster entferne sich gar nicht von seiner Idee, wenn man eine Aktien-Schweine-
züchterei dort errichte. Der Sprung scheint auch nicht groß zu sein, man riecht
den Kapuziner auf größere Entfernung als ein Schwein, und mit Rücksicht auf
die Farbe sind sie so ziemlich gleich. Außerdem war es jedenfalls — was der
Seltenheit wegen hervorgehoben werden muß — ein ökonomischer Fortschritt.
Und jeden Sonntag wandert nun der Sevillaner hinaus und betrachtet die
Hunderte von Schweinen, die sich nun in Zellen und Klostergängen tummeln,
und deren Schinken, in Wein gelegt und in Kräutern geräuchert, das Pfund
einen Dollar kostet.

Als der germanische Gebrauch, auf den Friedhof zu gehn und seine Toten
zu besuchen, vor einigen Jahren auch Sevilla erreichte, faßte man ihn ganz
einfach als Belustigung auf, und alle ehrbaren Familien, ob sie nun draußen
Tote hatten oder nicht, packten Sonntags Speisen und Wein in ihren Korb
und wanderten auf den Kirchhof hinaus, wo sie — so weit als möglich von
dem Grabe ihrer Lieben — ein kleines Freudenfest feierten. Später verbot es
jedoch die hohe Obrigkeit, und seitdem gehn die Leute wieder weit um den
Kirchhof herum.

Sevilla hat trotz seines herrlichen Klimas den höchsten Sterblichkeitsprozent¬
satz aller spanischen Großstädte. Aber wo andre Städte dieser Fatalität mit
Kloakensystem und andern sanitären Vorkehrungen begegnen würden, da setzt
Sevilla ihr bloß ihre unverwüstliche Lebensfreude entgegen; die Stadt hat auch


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[0638] Sevilla diesem einzigstehenden Kirchenfest Los Seises festhält, das keine andre Kirche in der katholischen Christenheit abzuhalten Erlaubnis hat, und das mehrere Päpste vergebens abzuschaffen versuchten. Denn dem fröhlichen Sevillcmer ist nur eines heilig: die Freude selbst. Alles, was diese dämpfen will, reizt ihn zu Spott; die Frömmigkeit im eignen Gemüt füllt ihn mit blasphemischem Verlangen, das mit der Stärke seiner Gottesfurcht zu wachsen scheint. Nirgends in dem blasphemischen Andalusien vereint sich Gottesfurcht und Gottesverhöhnung so leicht und natürlich in der¬ selben Person wie hier. Ich könnte dies mit zahlreichen Exempeln beleuchten, begnüge mich aber nur mit einem der anständigsten. Während unsers Aufenthalts in Sevilla wohnten wir bei zwei ältern Damen, Schwestern, die sehr fromm waren und uns bei jedem Schritte der Obhut irgend eines Heiligen anbefahlen. Aber einen guten Humor hatten sie dennoch. Eines Tages rieten sie uns eindringlich, zu Zwecken unsers heutigen Vorhabens zuerst in die Kathedrale zu gehn und die Madonna der Könige, die diese Art Angelegenheiten unter sich habe, um ihre Gewogenheit anzuflehen, denn sie könne große Wunder verrichten. So habe einmal ein Priester ihr Kleid aufgehoben, um zu sehen, „woraus sie gemacht sei; und sie schlug ihn mit Blindheit. Denn sie war ja nur aus Holz", fügten sie erklärend hinzu und lachten. Es war Sevilla, das auf den Gedanken verfiel, ein eingezognes Kapuziner¬ kloster entferne sich gar nicht von seiner Idee, wenn man eine Aktien-Schweine- züchterei dort errichte. Der Sprung scheint auch nicht groß zu sein, man riecht den Kapuziner auf größere Entfernung als ein Schwein, und mit Rücksicht auf die Farbe sind sie so ziemlich gleich. Außerdem war es jedenfalls — was der Seltenheit wegen hervorgehoben werden muß — ein ökonomischer Fortschritt. Und jeden Sonntag wandert nun der Sevillaner hinaus und betrachtet die Hunderte von Schweinen, die sich nun in Zellen und Klostergängen tummeln, und deren Schinken, in Wein gelegt und in Kräutern geräuchert, das Pfund einen Dollar kostet. Als der germanische Gebrauch, auf den Friedhof zu gehn und seine Toten zu besuchen, vor einigen Jahren auch Sevilla erreichte, faßte man ihn ganz einfach als Belustigung auf, und alle ehrbaren Familien, ob sie nun draußen Tote hatten oder nicht, packten Sonntags Speisen und Wein in ihren Korb und wanderten auf den Kirchhof hinaus, wo sie — so weit als möglich von dem Grabe ihrer Lieben — ein kleines Freudenfest feierten. Später verbot es jedoch die hohe Obrigkeit, und seitdem gehn die Leute wieder weit um den Kirchhof herum. Sevilla hat trotz seines herrlichen Klimas den höchsten Sterblichkeitsprozent¬ satz aller spanischen Großstädte. Aber wo andre Städte dieser Fatalität mit Kloakensystem und andern sanitären Vorkehrungen begegnen würden, da setzt Sevilla ihr bloß ihre unverwüstliche Lebensfreude entgegen; die Stadt hat auch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/638>, abgerufen am 12.12.2024.