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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Sevilla

Es sei denn, daß die Frauen der höhern Gesellschaftsstufen in ihrem Hang
dciheimzusitzen, in vage Stimmungen zu versinken und Fett anzusetzen, einen
Haremszug bewahrt hätten. Die ganze Woche kann verstreichen, ohne daß man
eine einzige bessergestellte Sevillanerin auf der Straße trifft, und die Stadt
scheint einem zuletzt, trotz ihres Rufes schöner Frauen, eine der schönheitsver¬
lassensten auf Erden. Sonntag Nachmittags dagegen öffnet die Schönheit all
ihre Schleusen, und jedes Herrschaftstor wird zu einem kleinen Born üppiger
weiblicher Reize. Um fünf Uhr wimmelt die Promenade längs des Guadal-
quivir von eleganten Glaskutschen auf Gummirädcrn, und in jeder Kutsche ruht
eine üppige Sevillanerin, großäugig und wuchtig, in Seide und Spitzen gehüllt --
eine tüchtig geschnürte Haremsschönheit.

Diese etwas fetten aber übrigens stilvollen Schönen sind dieselben, die die
sechs andern Tage der Woche von früh bis abend daheim herumsitzen, unge¬
kämmt und in einer kattunenen Nachtjacke, und deren einziger Ausflug von der
Wohnstube auf den Balkon geht. Die sonntägliche Exkursion erinnert an die
wöchentlichen des Serails, nur daß hier das Volk nicht mehr verjagt wird,
sondern vollzählig in allen Abstufungen zur Stelle ist. Sevillas Promenade
ist vielleicht die einzige der Welt, die für alle Klassen da ist; hier promeniert
Pracht und Einfachheit und Armut so natürlich Seite an Seite, als Hütten sie
einander ein Stelldichein gegeben. Hier sind wandernde Lumpenbündel so stolz,
als verbargen sie einen spanischen Granden. Sie schleudern der vornehmsten
Schönen in dreisten Ausdrücken ihre Bewunderung ins Gesicht, die keineswegs
übel aufgenommen wird; und sie saugen den Glanz des Reichtums mit einer
Unverstelltheit in sich ein, die noch nichts von Proletarierhaß kennt. Aber sie
kriechen vor ihm nicht im Staub, er hat keine Macht über sie. Vielleicht ist
dies die Ursache, weshalb sie ihn nicht hassen.

Der Sevillaner ist unfähig, aber nur dem Nützlichen gegenüber. Er hat
einen weitoffnen Sinn für alles, was ablenken und zerstreuen kann, und der
Menschenstrom auf Straßen und Plätzen erzeugt den doppelten Eindruck von
lässigen Müßiggang und rastlosem Jagen. Tausende von Fremden kommen
jährlich nach Sevilla, aber dennoch kann sich die Stadt das billige Vergnügen
nicht versagen, jeden Neuen auszulachen. Sie bilden Spalier, wo der Aus¬
länder geht, Reiche so gut wie Arme, rufen einander unschuldige Witze zu,
schleudern ihm englische und deutsche Brocken nach, puffen sich wohl auch hinter
seinem Rücken und unterhalten sich königlich. Niemand ist zu gering und selten
einer zu vornehm, um nicht an dem Amüsement teilzunehmen. Wendet man sich
mit einer Frage an einen, so antwortet er höflich -- sofern er es vor Lachen
kann -- und ist im nächsten Augenblick der interessante Mittelpunkt von hundert
Wißbegierigen.

Geht man in einen Laden, so füllt er sich mit Neugierigen, und die, die
keinen Platz darin finden, stehen scharenweise draußen auf der Straße. Der
Geschäftsmann -- wenn man einem sevillanischen Handelsbeflissenen diesen


Sevilla

Es sei denn, daß die Frauen der höhern Gesellschaftsstufen in ihrem Hang
dciheimzusitzen, in vage Stimmungen zu versinken und Fett anzusetzen, einen
Haremszug bewahrt hätten. Die ganze Woche kann verstreichen, ohne daß man
eine einzige bessergestellte Sevillanerin auf der Straße trifft, und die Stadt
scheint einem zuletzt, trotz ihres Rufes schöner Frauen, eine der schönheitsver¬
lassensten auf Erden. Sonntag Nachmittags dagegen öffnet die Schönheit all
ihre Schleusen, und jedes Herrschaftstor wird zu einem kleinen Born üppiger
weiblicher Reize. Um fünf Uhr wimmelt die Promenade längs des Guadal-
quivir von eleganten Glaskutschen auf Gummirädcrn, und in jeder Kutsche ruht
eine üppige Sevillanerin, großäugig und wuchtig, in Seide und Spitzen gehüllt —
eine tüchtig geschnürte Haremsschönheit.

Diese etwas fetten aber übrigens stilvollen Schönen sind dieselben, die die
sechs andern Tage der Woche von früh bis abend daheim herumsitzen, unge¬
kämmt und in einer kattunenen Nachtjacke, und deren einziger Ausflug von der
Wohnstube auf den Balkon geht. Die sonntägliche Exkursion erinnert an die
wöchentlichen des Serails, nur daß hier das Volk nicht mehr verjagt wird,
sondern vollzählig in allen Abstufungen zur Stelle ist. Sevillas Promenade
ist vielleicht die einzige der Welt, die für alle Klassen da ist; hier promeniert
Pracht und Einfachheit und Armut so natürlich Seite an Seite, als Hütten sie
einander ein Stelldichein gegeben. Hier sind wandernde Lumpenbündel so stolz,
als verbargen sie einen spanischen Granden. Sie schleudern der vornehmsten
Schönen in dreisten Ausdrücken ihre Bewunderung ins Gesicht, die keineswegs
übel aufgenommen wird; und sie saugen den Glanz des Reichtums mit einer
Unverstelltheit in sich ein, die noch nichts von Proletarierhaß kennt. Aber sie
kriechen vor ihm nicht im Staub, er hat keine Macht über sie. Vielleicht ist
dies die Ursache, weshalb sie ihn nicht hassen.

Der Sevillaner ist unfähig, aber nur dem Nützlichen gegenüber. Er hat
einen weitoffnen Sinn für alles, was ablenken und zerstreuen kann, und der
Menschenstrom auf Straßen und Plätzen erzeugt den doppelten Eindruck von
lässigen Müßiggang und rastlosem Jagen. Tausende von Fremden kommen
jährlich nach Sevilla, aber dennoch kann sich die Stadt das billige Vergnügen
nicht versagen, jeden Neuen auszulachen. Sie bilden Spalier, wo der Aus¬
länder geht, Reiche so gut wie Arme, rufen einander unschuldige Witze zu,
schleudern ihm englische und deutsche Brocken nach, puffen sich wohl auch hinter
seinem Rücken und unterhalten sich königlich. Niemand ist zu gering und selten
einer zu vornehm, um nicht an dem Amüsement teilzunehmen. Wendet man sich
mit einer Frage an einen, so antwortet er höflich — sofern er es vor Lachen
kann — und ist im nächsten Augenblick der interessante Mittelpunkt von hundert
Wißbegierigen.

Geht man in einen Laden, so füllt er sich mit Neugierigen, und die, die
keinen Platz darin finden, stehen scharenweise draußen auf der Straße. Der
Geschäftsmann — wenn man einem sevillanischen Handelsbeflissenen diesen


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[0636] Sevilla Es sei denn, daß die Frauen der höhern Gesellschaftsstufen in ihrem Hang dciheimzusitzen, in vage Stimmungen zu versinken und Fett anzusetzen, einen Haremszug bewahrt hätten. Die ganze Woche kann verstreichen, ohne daß man eine einzige bessergestellte Sevillanerin auf der Straße trifft, und die Stadt scheint einem zuletzt, trotz ihres Rufes schöner Frauen, eine der schönheitsver¬ lassensten auf Erden. Sonntag Nachmittags dagegen öffnet die Schönheit all ihre Schleusen, und jedes Herrschaftstor wird zu einem kleinen Born üppiger weiblicher Reize. Um fünf Uhr wimmelt die Promenade längs des Guadal- quivir von eleganten Glaskutschen auf Gummirädcrn, und in jeder Kutsche ruht eine üppige Sevillanerin, großäugig und wuchtig, in Seide und Spitzen gehüllt — eine tüchtig geschnürte Haremsschönheit. Diese etwas fetten aber übrigens stilvollen Schönen sind dieselben, die die sechs andern Tage der Woche von früh bis abend daheim herumsitzen, unge¬ kämmt und in einer kattunenen Nachtjacke, und deren einziger Ausflug von der Wohnstube auf den Balkon geht. Die sonntägliche Exkursion erinnert an die wöchentlichen des Serails, nur daß hier das Volk nicht mehr verjagt wird, sondern vollzählig in allen Abstufungen zur Stelle ist. Sevillas Promenade ist vielleicht die einzige der Welt, die für alle Klassen da ist; hier promeniert Pracht und Einfachheit und Armut so natürlich Seite an Seite, als Hütten sie einander ein Stelldichein gegeben. Hier sind wandernde Lumpenbündel so stolz, als verbargen sie einen spanischen Granden. Sie schleudern der vornehmsten Schönen in dreisten Ausdrücken ihre Bewunderung ins Gesicht, die keineswegs übel aufgenommen wird; und sie saugen den Glanz des Reichtums mit einer Unverstelltheit in sich ein, die noch nichts von Proletarierhaß kennt. Aber sie kriechen vor ihm nicht im Staub, er hat keine Macht über sie. Vielleicht ist dies die Ursache, weshalb sie ihn nicht hassen. Der Sevillaner ist unfähig, aber nur dem Nützlichen gegenüber. Er hat einen weitoffnen Sinn für alles, was ablenken und zerstreuen kann, und der Menschenstrom auf Straßen und Plätzen erzeugt den doppelten Eindruck von lässigen Müßiggang und rastlosem Jagen. Tausende von Fremden kommen jährlich nach Sevilla, aber dennoch kann sich die Stadt das billige Vergnügen nicht versagen, jeden Neuen auszulachen. Sie bilden Spalier, wo der Aus¬ länder geht, Reiche so gut wie Arme, rufen einander unschuldige Witze zu, schleudern ihm englische und deutsche Brocken nach, puffen sich wohl auch hinter seinem Rücken und unterhalten sich königlich. Niemand ist zu gering und selten einer zu vornehm, um nicht an dem Amüsement teilzunehmen. Wendet man sich mit einer Frage an einen, so antwortet er höflich — sofern er es vor Lachen kann — und ist im nächsten Augenblick der interessante Mittelpunkt von hundert Wißbegierigen. Geht man in einen Laden, so füllt er sich mit Neugierigen, und die, die keinen Platz darin finden, stehen scharenweise draußen auf der Straße. Der Geschäftsmann — wenn man einem sevillanischen Handelsbeflissenen diesen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/636>, abgerufen am 01.09.2024.