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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Volksbildung und Heimatkunde

sie sich wohl in allen deutschen Landschaften durchführen, wenn auch nicht immer
ein Fontane, Schmidt oder Trinius, der Thüringer Wandersmann, die Feder
führt. Unter allen Umstünden werden solche Wanderbücher mehr gelesen als
die trocknen Chroniken der kleinen Städte, wenn sie ohne innern Zusammen¬
hang die geschichtlichen Tatsachen lose aneinanderreihen und mit Jahreszahlen
und Statistiker überladen sind, ohne die landschaftlichen und naturwissenschaft¬
lichen Eigentümlichkeiten der Umgegend zu berücksichtigen. Daß die besondern
Werke über die heimische Flora und andre Gebiete in die Volksbibliotheken
gehören, braucht nicht weiter betont zu werden; erfahrungsmäßig gibt es auch
unter den Laien oft genug Leute, die für dieses oder jenes Sonderfach eine
Vorliebe haben und mit Erfolg Studien treiben. Ich kenne einen Tischler¬
meister in Sangerhausen, der die lateinischen und deutschen Namen sämt¬
licher Pflanzen in der Umgebung der Stadt und der Vorharzberge kennt
und die Standorte seltener Orchideen weiß, der außerdem eine reichhaltige
Sammlung von allerlei Merkwürdigkeiten besitzt, die aus der Urväter Hausrat
stammen.

Hiermit ist das dritte Volksbildungsmittel berührt, über das in neuerer
Zeit soviel geschrieben und gestritten worden ist: die Museen und Sammlungen
in kleinen Städten. Es gibt Leute, die alles in großen staatlichen Sammlungen
aufhäufen wollen und der Ansicht sind, daß ein Studium solcher Sachen nur
möglich und fruchtbringend sei, wenn sie vollständig und lückenlos in einem
Zentralmuseum zu finden sind. Diese Anschauung hat gewiß für manche Gegen¬
stünde, wie vorgeschichtliche Funde, ihre Berechtigung, wenigstens insoweit es
sich um selten vorkommende Wertgegenstände handelt, die der reinen vorgeschicht¬
lichen Wissenschaft dienen und nur durch Vergleichung zu wissenschaftlichen
Ergebnissen führen; aber neben diesen Gegenständen gibt es sehr viele, die in
ihrer Umgebung, wo sie gefunden worden sind, bleiben müssen und dort allein
ihren Zweck erfüllen. Man denke nur an Spinnrüder, die der heutigen Jugend
fast unbekannt sind, an Hausgeräte aller Art, die außer Gebrauch gekommen
sind, an Trachten und Handwerkszeuge früherer Zeiten. Das aufblühende
Kunsthandwerk findet reiche Gelegenheit, an alte Formen anzuknüpfen, die
geschmackvoller sind als die neue Fabrikware und den Vorzug der Eigenart
haben. Für alle diese Gegenstünde sind städtische Sammlungen am Platze, die
zeitweilig zugänglich sind und in derselben Weise verwaltet werden müssen wie
die Büchereien und öffentlichen Lesehallen, die einen beachtenswerten Aufschwung
nehmen und dafür zeugen, daß in der Bevölkerung der Drang nach Bildung
vorhanden ist. Einstweilen gehen die großen Provinzialstädtc und die Mittel¬
städte mit gutem Beispiel in der Begründung von städtischen Sammlungen
voran; für die kleinern Städte füllt der Geldpunkt noch zu sehr ins Gewicht,
und es sind zu viel nötigere Bedürfnisse materieller Art zu befriedigen, ehe
an solche Aufgaben gedacht werdeu kann. Aber die Keime für die Sammlungen
sind schon vielfach auch da zu spüren, einige bescheidne Rüume im Rathause


Volksbildung und Heimatkunde

sie sich wohl in allen deutschen Landschaften durchführen, wenn auch nicht immer
ein Fontane, Schmidt oder Trinius, der Thüringer Wandersmann, die Feder
führt. Unter allen Umstünden werden solche Wanderbücher mehr gelesen als
die trocknen Chroniken der kleinen Städte, wenn sie ohne innern Zusammen¬
hang die geschichtlichen Tatsachen lose aneinanderreihen und mit Jahreszahlen
und Statistiker überladen sind, ohne die landschaftlichen und naturwissenschaft¬
lichen Eigentümlichkeiten der Umgegend zu berücksichtigen. Daß die besondern
Werke über die heimische Flora und andre Gebiete in die Volksbibliotheken
gehören, braucht nicht weiter betont zu werden; erfahrungsmäßig gibt es auch
unter den Laien oft genug Leute, die für dieses oder jenes Sonderfach eine
Vorliebe haben und mit Erfolg Studien treiben. Ich kenne einen Tischler¬
meister in Sangerhausen, der die lateinischen und deutschen Namen sämt¬
licher Pflanzen in der Umgebung der Stadt und der Vorharzberge kennt
und die Standorte seltener Orchideen weiß, der außerdem eine reichhaltige
Sammlung von allerlei Merkwürdigkeiten besitzt, die aus der Urväter Hausrat
stammen.

Hiermit ist das dritte Volksbildungsmittel berührt, über das in neuerer
Zeit soviel geschrieben und gestritten worden ist: die Museen und Sammlungen
in kleinen Städten. Es gibt Leute, die alles in großen staatlichen Sammlungen
aufhäufen wollen und der Ansicht sind, daß ein Studium solcher Sachen nur
möglich und fruchtbringend sei, wenn sie vollständig und lückenlos in einem
Zentralmuseum zu finden sind. Diese Anschauung hat gewiß für manche Gegen¬
stünde, wie vorgeschichtliche Funde, ihre Berechtigung, wenigstens insoweit es
sich um selten vorkommende Wertgegenstände handelt, die der reinen vorgeschicht¬
lichen Wissenschaft dienen und nur durch Vergleichung zu wissenschaftlichen
Ergebnissen führen; aber neben diesen Gegenständen gibt es sehr viele, die in
ihrer Umgebung, wo sie gefunden worden sind, bleiben müssen und dort allein
ihren Zweck erfüllen. Man denke nur an Spinnrüder, die der heutigen Jugend
fast unbekannt sind, an Hausgeräte aller Art, die außer Gebrauch gekommen
sind, an Trachten und Handwerkszeuge früherer Zeiten. Das aufblühende
Kunsthandwerk findet reiche Gelegenheit, an alte Formen anzuknüpfen, die
geschmackvoller sind als die neue Fabrikware und den Vorzug der Eigenart
haben. Für alle diese Gegenstünde sind städtische Sammlungen am Platze, die
zeitweilig zugänglich sind und in derselben Weise verwaltet werden müssen wie
die Büchereien und öffentlichen Lesehallen, die einen beachtenswerten Aufschwung
nehmen und dafür zeugen, daß in der Bevölkerung der Drang nach Bildung
vorhanden ist. Einstweilen gehen die großen Provinzialstädtc und die Mittel¬
städte mit gutem Beispiel in der Begründung von städtischen Sammlungen
voran; für die kleinern Städte füllt der Geldpunkt noch zu sehr ins Gewicht,
und es sind zu viel nötigere Bedürfnisse materieller Art zu befriedigen, ehe
an solche Aufgaben gedacht werdeu kann. Aber die Keime für die Sammlungen
sind schon vielfach auch da zu spüren, einige bescheidne Rüume im Rathause


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[0632] Volksbildung und Heimatkunde sie sich wohl in allen deutschen Landschaften durchführen, wenn auch nicht immer ein Fontane, Schmidt oder Trinius, der Thüringer Wandersmann, die Feder führt. Unter allen Umstünden werden solche Wanderbücher mehr gelesen als die trocknen Chroniken der kleinen Städte, wenn sie ohne innern Zusammen¬ hang die geschichtlichen Tatsachen lose aneinanderreihen und mit Jahreszahlen und Statistiker überladen sind, ohne die landschaftlichen und naturwissenschaft¬ lichen Eigentümlichkeiten der Umgegend zu berücksichtigen. Daß die besondern Werke über die heimische Flora und andre Gebiete in die Volksbibliotheken gehören, braucht nicht weiter betont zu werden; erfahrungsmäßig gibt es auch unter den Laien oft genug Leute, die für dieses oder jenes Sonderfach eine Vorliebe haben und mit Erfolg Studien treiben. Ich kenne einen Tischler¬ meister in Sangerhausen, der die lateinischen und deutschen Namen sämt¬ licher Pflanzen in der Umgebung der Stadt und der Vorharzberge kennt und die Standorte seltener Orchideen weiß, der außerdem eine reichhaltige Sammlung von allerlei Merkwürdigkeiten besitzt, die aus der Urväter Hausrat stammen. Hiermit ist das dritte Volksbildungsmittel berührt, über das in neuerer Zeit soviel geschrieben und gestritten worden ist: die Museen und Sammlungen in kleinen Städten. Es gibt Leute, die alles in großen staatlichen Sammlungen aufhäufen wollen und der Ansicht sind, daß ein Studium solcher Sachen nur möglich und fruchtbringend sei, wenn sie vollständig und lückenlos in einem Zentralmuseum zu finden sind. Diese Anschauung hat gewiß für manche Gegen¬ stünde, wie vorgeschichtliche Funde, ihre Berechtigung, wenigstens insoweit es sich um selten vorkommende Wertgegenstände handelt, die der reinen vorgeschicht¬ lichen Wissenschaft dienen und nur durch Vergleichung zu wissenschaftlichen Ergebnissen führen; aber neben diesen Gegenständen gibt es sehr viele, die in ihrer Umgebung, wo sie gefunden worden sind, bleiben müssen und dort allein ihren Zweck erfüllen. Man denke nur an Spinnrüder, die der heutigen Jugend fast unbekannt sind, an Hausgeräte aller Art, die außer Gebrauch gekommen sind, an Trachten und Handwerkszeuge früherer Zeiten. Das aufblühende Kunsthandwerk findet reiche Gelegenheit, an alte Formen anzuknüpfen, die geschmackvoller sind als die neue Fabrikware und den Vorzug der Eigenart haben. Für alle diese Gegenstünde sind städtische Sammlungen am Platze, die zeitweilig zugänglich sind und in derselben Weise verwaltet werden müssen wie die Büchereien und öffentlichen Lesehallen, die einen beachtenswerten Aufschwung nehmen und dafür zeugen, daß in der Bevölkerung der Drang nach Bildung vorhanden ist. Einstweilen gehen die großen Provinzialstädtc und die Mittel¬ städte mit gutem Beispiel in der Begründung von städtischen Sammlungen voran; für die kleinern Städte füllt der Geldpunkt noch zu sehr ins Gewicht, und es sind zu viel nötigere Bedürfnisse materieller Art zu befriedigen, ehe an solche Aufgaben gedacht werdeu kann. Aber die Keime für die Sammlungen sind schon vielfach auch da zu spüren, einige bescheidne Rüume im Rathause

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/632>, abgerufen am 05.12.2024.