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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Neues von Zeilliere und über Gobineau

oben drohenden Unterdrückung. Die "Herrschaft des Proletariats" mögen einige
ehrliche Schwärmer wirklich als Ziel im Auge haben, daß sie es erreichen
werden, glaubt kein Verständiger. Die sehr ausführliche Marxkritik in Seillieres
Buche ist gut ausgefallen, kommt aber um einige Jahre zu spät. An theore¬
tischer Marxkritik haben wir in Deutschland keinen Mangel, und der Verlauf
der wirtschaftlichen Entwicklung hat den im "Kapital" aufgerichteten dialektischen
Kunstbau so vollständig zertrümmert, daß von dem Zusammenbruch auch unsre
sozialdemokratische Partei getroffen worden ist. Ihre Niederlage im letzten Wahl¬
kampfe ist zu einem großen Teil dem Umstände zuzuschreiben, daß die marxischen
Schlagwörter, an die außer einigen unbelehrbarer Doktrinären kein Mensch mehr
glaubt, nicht mehr ziehn. Die deutschen Arbeiter werden sich bald vor die Wahl
gestellt sehen, ob sie die Taktik annehmen wollen, die ihren englischen Genossen
die entscheidenden Erfolge gebracht hat: jedesmal die von den bürgerlichen
Parteien zu unterstützen, die ihnen das meiste verspricht, oder sich als reine
Arbeiterpartei ohne marxistische und Umsturzphrasen zu organisieren.

Gobineau, von dem Seillieres schriftstellerische Tätigkeit ausgegangen ist,
fährt fort, in Deutschland eine Wirkung auszuüben, die sein französischer Kritiker
mit -- natürlich ganz unbegründeter -- Besorgnis verfolgt. Das Haupt der
stetig noch wachsenden "Gobineau-Vereinigung", Ludwig Schemann, der Über¬
setzer seines Rassenwerkes, hat die Verwaltung der Straßburger Universitäts¬
bibliothek bewogen, dem literarischen und künstlerischen Nachlaß und einigen
Möbeln des verstorbnen Grafen ein Zimmer einzuräumen, und berichtet darüber
in einer Broschüre. (Die Gobineau-Sammlung der Kaiserlichen Universitäts¬
und Landesbibliothek zu Straßburg. Mit drei Tafeln in Lichtdruck. Straßburg,
Karl I. Trübner, 1907.) Vorher schon hatte Fritz Friedrich den Werken
Gobineaus ein Buch gewidmet: Studien über Gobineau. Kritik seiner Be¬
deutung für die Wissenschaft. (Leipzig, Eduard Avenarius, 1906.) Der Verfasser
schätzt Gobineaus Bedeutung sehr hoch, ist aber weder ein schwärmerischer Jünger
noch ein kritikloser Bewundrer des genialen Forschers und Dichters, sondern
unterwirft seine Leistungen einer strengen und sorgfältigen Kritik und scheut
sich nicht, ihm auch "Tertianerschnitzer" nachzuweisen. Seine Ergebnisse stimmen
im allgemeinen, und stellenweise beinahe wörtlich, mit denen meiner eignen Kritik
überein, die allerdings bei weitem nicht so umfangreich und gründlich ausfallen
konnte, da ich ja niemals beabsichtigte, ein ganzes Buch über Gobineau zu
schreiben, sondern nur in den Grenzboten über sein Rassenwerk berichtet habe
(im dritten Bande des Jahrgangs 1898 Seite 442, im ersten Bande des Jahr¬
gangs 1899 Seite 523 und 586 und im vierten Bande des Jahrgangs 1900
Seite 118). Hätte Friedrich diese Aufsätze gekannt, so würde er weniger unwirsch
über einige Äußerungen in der "Sozialauslese" urteilen, die auf ihn den Ein¬
druck gemacht zu haben scheinen, daß ich Gobineau unbedingt und vollständig
ablehne. Er findet unhaltbaren Doktrinarismus darin, wenn ich behaupte, im
Laufe der Jahrtausende könnten durch klimatische Einflüsse aus Kankasiern Neger,


Neues von Zeilliere und über Gobineau

oben drohenden Unterdrückung. Die „Herrschaft des Proletariats" mögen einige
ehrliche Schwärmer wirklich als Ziel im Auge haben, daß sie es erreichen
werden, glaubt kein Verständiger. Die sehr ausführliche Marxkritik in Seillieres
Buche ist gut ausgefallen, kommt aber um einige Jahre zu spät. An theore¬
tischer Marxkritik haben wir in Deutschland keinen Mangel, und der Verlauf
der wirtschaftlichen Entwicklung hat den im „Kapital" aufgerichteten dialektischen
Kunstbau so vollständig zertrümmert, daß von dem Zusammenbruch auch unsre
sozialdemokratische Partei getroffen worden ist. Ihre Niederlage im letzten Wahl¬
kampfe ist zu einem großen Teil dem Umstände zuzuschreiben, daß die marxischen
Schlagwörter, an die außer einigen unbelehrbarer Doktrinären kein Mensch mehr
glaubt, nicht mehr ziehn. Die deutschen Arbeiter werden sich bald vor die Wahl
gestellt sehen, ob sie die Taktik annehmen wollen, die ihren englischen Genossen
die entscheidenden Erfolge gebracht hat: jedesmal die von den bürgerlichen
Parteien zu unterstützen, die ihnen das meiste verspricht, oder sich als reine
Arbeiterpartei ohne marxistische und Umsturzphrasen zu organisieren.

Gobineau, von dem Seillieres schriftstellerische Tätigkeit ausgegangen ist,
fährt fort, in Deutschland eine Wirkung auszuüben, die sein französischer Kritiker
mit — natürlich ganz unbegründeter — Besorgnis verfolgt. Das Haupt der
stetig noch wachsenden „Gobineau-Vereinigung", Ludwig Schemann, der Über¬
setzer seines Rassenwerkes, hat die Verwaltung der Straßburger Universitäts¬
bibliothek bewogen, dem literarischen und künstlerischen Nachlaß und einigen
Möbeln des verstorbnen Grafen ein Zimmer einzuräumen, und berichtet darüber
in einer Broschüre. (Die Gobineau-Sammlung der Kaiserlichen Universitäts¬
und Landesbibliothek zu Straßburg. Mit drei Tafeln in Lichtdruck. Straßburg,
Karl I. Trübner, 1907.) Vorher schon hatte Fritz Friedrich den Werken
Gobineaus ein Buch gewidmet: Studien über Gobineau. Kritik seiner Be¬
deutung für die Wissenschaft. (Leipzig, Eduard Avenarius, 1906.) Der Verfasser
schätzt Gobineaus Bedeutung sehr hoch, ist aber weder ein schwärmerischer Jünger
noch ein kritikloser Bewundrer des genialen Forschers und Dichters, sondern
unterwirft seine Leistungen einer strengen und sorgfältigen Kritik und scheut
sich nicht, ihm auch „Tertianerschnitzer" nachzuweisen. Seine Ergebnisse stimmen
im allgemeinen, und stellenweise beinahe wörtlich, mit denen meiner eignen Kritik
überein, die allerdings bei weitem nicht so umfangreich und gründlich ausfallen
konnte, da ich ja niemals beabsichtigte, ein ganzes Buch über Gobineau zu
schreiben, sondern nur in den Grenzboten über sein Rassenwerk berichtet habe
(im dritten Bande des Jahrgangs 1898 Seite 442, im ersten Bande des Jahr¬
gangs 1899 Seite 523 und 586 und im vierten Bande des Jahrgangs 1900
Seite 118). Hätte Friedrich diese Aufsätze gekannt, so würde er weniger unwirsch
über einige Äußerungen in der „Sozialauslese" urteilen, die auf ihn den Ein¬
druck gemacht zu haben scheinen, daß ich Gobineau unbedingt und vollständig
ablehne. Er findet unhaltbaren Doktrinarismus darin, wenn ich behaupte, im
Laufe der Jahrtausende könnten durch klimatische Einflüsse aus Kankasiern Neger,


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[0626] Neues von Zeilliere und über Gobineau oben drohenden Unterdrückung. Die „Herrschaft des Proletariats" mögen einige ehrliche Schwärmer wirklich als Ziel im Auge haben, daß sie es erreichen werden, glaubt kein Verständiger. Die sehr ausführliche Marxkritik in Seillieres Buche ist gut ausgefallen, kommt aber um einige Jahre zu spät. An theore¬ tischer Marxkritik haben wir in Deutschland keinen Mangel, und der Verlauf der wirtschaftlichen Entwicklung hat den im „Kapital" aufgerichteten dialektischen Kunstbau so vollständig zertrümmert, daß von dem Zusammenbruch auch unsre sozialdemokratische Partei getroffen worden ist. Ihre Niederlage im letzten Wahl¬ kampfe ist zu einem großen Teil dem Umstände zuzuschreiben, daß die marxischen Schlagwörter, an die außer einigen unbelehrbarer Doktrinären kein Mensch mehr glaubt, nicht mehr ziehn. Die deutschen Arbeiter werden sich bald vor die Wahl gestellt sehen, ob sie die Taktik annehmen wollen, die ihren englischen Genossen die entscheidenden Erfolge gebracht hat: jedesmal die von den bürgerlichen Parteien zu unterstützen, die ihnen das meiste verspricht, oder sich als reine Arbeiterpartei ohne marxistische und Umsturzphrasen zu organisieren. Gobineau, von dem Seillieres schriftstellerische Tätigkeit ausgegangen ist, fährt fort, in Deutschland eine Wirkung auszuüben, die sein französischer Kritiker mit — natürlich ganz unbegründeter — Besorgnis verfolgt. Das Haupt der stetig noch wachsenden „Gobineau-Vereinigung", Ludwig Schemann, der Über¬ setzer seines Rassenwerkes, hat die Verwaltung der Straßburger Universitäts¬ bibliothek bewogen, dem literarischen und künstlerischen Nachlaß und einigen Möbeln des verstorbnen Grafen ein Zimmer einzuräumen, und berichtet darüber in einer Broschüre. (Die Gobineau-Sammlung der Kaiserlichen Universitäts¬ und Landesbibliothek zu Straßburg. Mit drei Tafeln in Lichtdruck. Straßburg, Karl I. Trübner, 1907.) Vorher schon hatte Fritz Friedrich den Werken Gobineaus ein Buch gewidmet: Studien über Gobineau. Kritik seiner Be¬ deutung für die Wissenschaft. (Leipzig, Eduard Avenarius, 1906.) Der Verfasser schätzt Gobineaus Bedeutung sehr hoch, ist aber weder ein schwärmerischer Jünger noch ein kritikloser Bewundrer des genialen Forschers und Dichters, sondern unterwirft seine Leistungen einer strengen und sorgfältigen Kritik und scheut sich nicht, ihm auch „Tertianerschnitzer" nachzuweisen. Seine Ergebnisse stimmen im allgemeinen, und stellenweise beinahe wörtlich, mit denen meiner eignen Kritik überein, die allerdings bei weitem nicht so umfangreich und gründlich ausfallen konnte, da ich ja niemals beabsichtigte, ein ganzes Buch über Gobineau zu schreiben, sondern nur in den Grenzboten über sein Rassenwerk berichtet habe (im dritten Bande des Jahrgangs 1898 Seite 442, im ersten Bande des Jahr¬ gangs 1899 Seite 523 und 586 und im vierten Bande des Jahrgangs 1900 Seite 118). Hätte Friedrich diese Aufsätze gekannt, so würde er weniger unwirsch über einige Äußerungen in der „Sozialauslese" urteilen, die auf ihn den Ein¬ druck gemacht zu haben scheinen, daß ich Gobineau unbedingt und vollständig ablehne. Er findet unhaltbaren Doktrinarismus darin, wenn ich behaupte, im Laufe der Jahrtausende könnten durch klimatische Einflüsse aus Kankasiern Neger,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/626>, abgerufen am 12.12.2024.