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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Neues von Seilliere und über Gobineau

Eitelkeit haben, braucht nicht im einzelnen ausgeführt zu werden, und auch zur
Herstellung von Kanonen und Kriegsschiffen treiben Beweggründe, die mehr ans
Ncmbtierleben als an die Gemeinschaft der Heiligen erinnern. Doch wäre es
Übertreibung, wenn man behaupten wollte, daß diese Produktion ausschließlich
auf "Laster" angewiesen sei. Der größere Teil der Produktion dient immer
noch der Befriedigung von Bedürfnissen, die wirkliche Bedürfnisse sind; freilich
Bedürfnisse nicht von Wilden, sondern von Kulturmenschen. Für einen solchen
ist es wirkliches Bedürfnis, sich anständig zu kleiden, behaglich zu wohnen, hie
und da eine Reise auf der Eisenbahn zu machen, Bücher und Zeitungen zu
lesen, Kunstwerke zu genießen. Will man solche Bedürfnisse künstliche nennen,
so muß dazu bemerkt werden, daß eben der Mensch als reines Naturprodukt
"och gar kein Mensch ist; sich selbst und seine Umgebung kunstvoll zu gestalten,
ist dem Menschen natürlich. Von künstlichen Bedürfnissen sollte man im tadelnden
Sinne nur bei solchen sprechen, die den Menschen schädigen, sodaß die Natur
im Recht ist. wenn sie sich dagegen sträubt, daß sie ihr aufgezwungen werden.
Freilich ist die Grenze zwischen berechtigten und unberechtigten künstlichen Be¬
dürfnissen schwer anzugeben. Auch darf und muß bei Prüfung der Volkswirt¬
schaft auf ihre Gesundheit die Moral gehört werden. Wo ein unverhältnismäßig
großer Teil der Produktion der Befriedigung von Bedürfnissen dient, die nach
dem gewöhnlichen Sprachgebrauch, nicht nach dem der Zeloten und der Schwärmer,
unsittlich genannt werden, da ist die Volkswirtschaft nicht gesund, und ihr Be¬
harren in der eingeschlagnen Bahn gefährdet Volk und Staat. Man denke an
die Luxusproduktion bei notleidender Bevölkerung im Frankreich des anvien
rSZiiue, und an die Basierung der Finanzen auf die Trunksucht der Massen im
heutigen Rußland.

Um das Ergebnis dieser Betrachtung kurz zusammenzufassen: jeder Einzelne,
jede Genossenschaft, jedes Volk sucht sich zu erhalten, zu behaupten, zu wachsen.
Wachstum muß sehr häufig schon als Mittel der Selbstbehauptung erstrebt
werden; Einzelne wie Staaten müssen, was Seilliere mit Recht hervorhebt, ihren
Machtbereich erweitern, wenn sie ihre Zukunft sichern wollen. Diese Bestrebungen
und die sich daraus ergebenden Kämpfe schaffen Abhängigkeits- und Herrschafts¬
verhältnisse, in denen sich, wie überhaupt im Kulturleben, vou dem sie eine
Seite darstellen, gleich allen andern Anlagen anch die sittlichen entfalten und
in den mannigfaltigsten Formen, im Guten wie im Schlimmen, beendigen. Für
diesen allgemein bekannten Entwicklungsprozeß die Bezeichnung Imperialismus
einführen, ist überflüssig und stiftet Verwirrung; der Name ist nur für politische
Erscheinungen der eingangs bezeichneten Art berechtigt. Ganz unsinnig ist es,
von individualistischen'und demokratischen Imperialismus zu sprechen. Solange
der Individualist wirklich als Individualist lebt, demnach allein bleibt, herrscht er
"icht. und was die Demokratie betrifft, so gibt es zwar demokratische Mmmtur-
staaten. aber keine demokratischen Jmperia. Was um, im heutigen Großstaat
Demokratie nennt, das ist nur die Organisation des Demos zur Abwehr der von


Grenzboten III 1907
Neues von Seilliere und über Gobineau

Eitelkeit haben, braucht nicht im einzelnen ausgeführt zu werden, und auch zur
Herstellung von Kanonen und Kriegsschiffen treiben Beweggründe, die mehr ans
Ncmbtierleben als an die Gemeinschaft der Heiligen erinnern. Doch wäre es
Übertreibung, wenn man behaupten wollte, daß diese Produktion ausschließlich
auf „Laster" angewiesen sei. Der größere Teil der Produktion dient immer
noch der Befriedigung von Bedürfnissen, die wirkliche Bedürfnisse sind; freilich
Bedürfnisse nicht von Wilden, sondern von Kulturmenschen. Für einen solchen
ist es wirkliches Bedürfnis, sich anständig zu kleiden, behaglich zu wohnen, hie
und da eine Reise auf der Eisenbahn zu machen, Bücher und Zeitungen zu
lesen, Kunstwerke zu genießen. Will man solche Bedürfnisse künstliche nennen,
so muß dazu bemerkt werden, daß eben der Mensch als reines Naturprodukt
»och gar kein Mensch ist; sich selbst und seine Umgebung kunstvoll zu gestalten,
ist dem Menschen natürlich. Von künstlichen Bedürfnissen sollte man im tadelnden
Sinne nur bei solchen sprechen, die den Menschen schädigen, sodaß die Natur
im Recht ist. wenn sie sich dagegen sträubt, daß sie ihr aufgezwungen werden.
Freilich ist die Grenze zwischen berechtigten und unberechtigten künstlichen Be¬
dürfnissen schwer anzugeben. Auch darf und muß bei Prüfung der Volkswirt¬
schaft auf ihre Gesundheit die Moral gehört werden. Wo ein unverhältnismäßig
großer Teil der Produktion der Befriedigung von Bedürfnissen dient, die nach
dem gewöhnlichen Sprachgebrauch, nicht nach dem der Zeloten und der Schwärmer,
unsittlich genannt werden, da ist die Volkswirtschaft nicht gesund, und ihr Be¬
harren in der eingeschlagnen Bahn gefährdet Volk und Staat. Man denke an
die Luxusproduktion bei notleidender Bevölkerung im Frankreich des anvien
rSZiiue, und an die Basierung der Finanzen auf die Trunksucht der Massen im
heutigen Rußland.

Um das Ergebnis dieser Betrachtung kurz zusammenzufassen: jeder Einzelne,
jede Genossenschaft, jedes Volk sucht sich zu erhalten, zu behaupten, zu wachsen.
Wachstum muß sehr häufig schon als Mittel der Selbstbehauptung erstrebt
werden; Einzelne wie Staaten müssen, was Seilliere mit Recht hervorhebt, ihren
Machtbereich erweitern, wenn sie ihre Zukunft sichern wollen. Diese Bestrebungen
und die sich daraus ergebenden Kämpfe schaffen Abhängigkeits- und Herrschafts¬
verhältnisse, in denen sich, wie überhaupt im Kulturleben, vou dem sie eine
Seite darstellen, gleich allen andern Anlagen anch die sittlichen entfalten und
in den mannigfaltigsten Formen, im Guten wie im Schlimmen, beendigen. Für
diesen allgemein bekannten Entwicklungsprozeß die Bezeichnung Imperialismus
einführen, ist überflüssig und stiftet Verwirrung; der Name ist nur für politische
Erscheinungen der eingangs bezeichneten Art berechtigt. Ganz unsinnig ist es,
von individualistischen'und demokratischen Imperialismus zu sprechen. Solange
der Individualist wirklich als Individualist lebt, demnach allein bleibt, herrscht er
"icht. und was die Demokratie betrifft, so gibt es zwar demokratische Mmmtur-
staaten. aber keine demokratischen Jmperia. Was um, im heutigen Großstaat
Demokratie nennt, das ist nur die Organisation des Demos zur Abwehr der von


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[0625] Neues von Seilliere und über Gobineau Eitelkeit haben, braucht nicht im einzelnen ausgeführt zu werden, und auch zur Herstellung von Kanonen und Kriegsschiffen treiben Beweggründe, die mehr ans Ncmbtierleben als an die Gemeinschaft der Heiligen erinnern. Doch wäre es Übertreibung, wenn man behaupten wollte, daß diese Produktion ausschließlich auf „Laster" angewiesen sei. Der größere Teil der Produktion dient immer noch der Befriedigung von Bedürfnissen, die wirkliche Bedürfnisse sind; freilich Bedürfnisse nicht von Wilden, sondern von Kulturmenschen. Für einen solchen ist es wirkliches Bedürfnis, sich anständig zu kleiden, behaglich zu wohnen, hie und da eine Reise auf der Eisenbahn zu machen, Bücher und Zeitungen zu lesen, Kunstwerke zu genießen. Will man solche Bedürfnisse künstliche nennen, so muß dazu bemerkt werden, daß eben der Mensch als reines Naturprodukt »och gar kein Mensch ist; sich selbst und seine Umgebung kunstvoll zu gestalten, ist dem Menschen natürlich. Von künstlichen Bedürfnissen sollte man im tadelnden Sinne nur bei solchen sprechen, die den Menschen schädigen, sodaß die Natur im Recht ist. wenn sie sich dagegen sträubt, daß sie ihr aufgezwungen werden. Freilich ist die Grenze zwischen berechtigten und unberechtigten künstlichen Be¬ dürfnissen schwer anzugeben. Auch darf und muß bei Prüfung der Volkswirt¬ schaft auf ihre Gesundheit die Moral gehört werden. Wo ein unverhältnismäßig großer Teil der Produktion der Befriedigung von Bedürfnissen dient, die nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch, nicht nach dem der Zeloten und der Schwärmer, unsittlich genannt werden, da ist die Volkswirtschaft nicht gesund, und ihr Be¬ harren in der eingeschlagnen Bahn gefährdet Volk und Staat. Man denke an die Luxusproduktion bei notleidender Bevölkerung im Frankreich des anvien rSZiiue, und an die Basierung der Finanzen auf die Trunksucht der Massen im heutigen Rußland. Um das Ergebnis dieser Betrachtung kurz zusammenzufassen: jeder Einzelne, jede Genossenschaft, jedes Volk sucht sich zu erhalten, zu behaupten, zu wachsen. Wachstum muß sehr häufig schon als Mittel der Selbstbehauptung erstrebt werden; Einzelne wie Staaten müssen, was Seilliere mit Recht hervorhebt, ihren Machtbereich erweitern, wenn sie ihre Zukunft sichern wollen. Diese Bestrebungen und die sich daraus ergebenden Kämpfe schaffen Abhängigkeits- und Herrschafts¬ verhältnisse, in denen sich, wie überhaupt im Kulturleben, vou dem sie eine Seite darstellen, gleich allen andern Anlagen anch die sittlichen entfalten und in den mannigfaltigsten Formen, im Guten wie im Schlimmen, beendigen. Für diesen allgemein bekannten Entwicklungsprozeß die Bezeichnung Imperialismus einführen, ist überflüssig und stiftet Verwirrung; der Name ist nur für politische Erscheinungen der eingangs bezeichneten Art berechtigt. Ganz unsinnig ist es, von individualistischen'und demokratischen Imperialismus zu sprechen. Solange der Individualist wirklich als Individualist lebt, demnach allein bleibt, herrscht er "icht. und was die Demokratie betrifft, so gibt es zwar demokratische Mmmtur- staaten. aber keine demokratischen Jmperia. Was um, im heutigen Großstaat Demokratie nennt, das ist nur die Organisation des Demos zur Abwehr der von Grenzboten III 1907

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/625>, abgerufen am 01.09.2024.