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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Neues von Zeilliere und über Gobineau

tun: UM die Zuneigung der Unterworfnen zu gewinnen und sie ohne Gefahr
"ausbeuten" zu können. Augustin faßt diesen Fall ins Auge, wenn er die
Tugenden der Heiden verhüllte Laster nennt, weil sie ja nicht aus Liebe zu
Gott, sondern aus Selbstsucht, aus Ruhm- oder Herrschbegier und zur Befriedi¬
gung der Habsucht, geübt würden. Trotzdem erscheinen ihm die Römertugenden
-- es sind die vier, die die christlichen Theologen der aristotelischen Ethik
als "Kardinaltugenden" entnommen haben: Klugheit, Mäßigkeit, Gerechtigkeit
und Stärke -- nicht ohne Wert. Ihre Übung schließe die den Menschen ent¬
würdigenden Laster des Sinnengenusses aus, und sie verdienten darum wenigstens
einen irdischen Lohn; dieser sei den Römern in der Beherrschung des Erdkreises
zuteil geworden. Darin liegt schon zugleich die Antwort auf die Frage, in
welchem Verhältnis das Streben nach Herrschaft zur Moralität steht. Die
spezifisch christlichen Tugenden: Demut, Sanftmut, Geduld, Barmherzigkeit
treiben natürlich nicht zu kriegerischen Eroberungen und würden in Eroberungs¬
kriegen mehr hinderlich als nützlich sein; dagegen sind für solche von den oben
genannten vier Tugenden drei nicht zu entbehren. Der Nutzen der Gerechtig¬
keit hängt von Umständen ab. Die Unterjochten gerecht zu regieren ist gewöhn¬
lich klug; aber die Eroberungskriege an sich sind meist ungerecht; nicht immer.
Zum Beispiel nicht in dem Falle, daß ohne die Eroberung eines Grenz¬
landes der eigne Staat vor Angriffen eines unruhigen Nachbars nicht geschützt
werden kann, und das wird immer der Fall sein, wenn dieser ein räuberischer
Barbar ist. Damit sind wir bei dem Konflikt zwischen gleich Energischen ange¬
langt, einem Konflikt, der natürlich nicht bloß zwischen Völkern und Staaten
entsteht, die ihn durch Krieg lösen, sondern auch zwischen Ständen im Staate,
die sich als feindliche Parteien organisieren, und zwischen Privatpersonen, die
wirtschaftliche und Beförderungskämpfe miteinander auszufechten haben; im
Staatsdienst ringen die Streber und die Kleber miteinander; meist so
geräuschlos, daß kein Uneingeweihter etwas merkt; manchmal jedoch macht sich
die verhaltne Leidenschaft Luft, und es kommt zu einem öffentlichen Skandal.
Daran schließen sich Wettkampfe der verschiedensten Art wie Schönheitskonkur¬
renzen, Regatten und mörderische Automobilrennen. Endlich die Kämpfe in den
kleinsten Kreisen bis in die Familien hinein. Und in alledem kann ebensogut
die edelste Ritterlichkeit wie die gemeinste, betrügerische Selbstsucht geübt werden.
Die Kämpfe machen eben den Menschen weder gut noch schlecht oder böse,
sondern sie geben nur Gelegenheit, das Gute, Schlechte oder Böse, das in ihm
steckt, zu offenbaren und zu stärken. Ein Gutes erwirken sie auf jeden Fall:
sie erhöhen die Energie, die an sich, auch wenn sie zum Bösen angewandt wird,
eine virtus im ursprünglichen Sinne dieses Wortes ist.

Die Güte des Naturmenschen, falls es einen solchen gibt oder jemals
gegeben hat, kann natürlich nur negativ gedacht werden. Hat sich der Mensch
aus einem Tiere entwickelt, dann ist er nach Erlangung der Menschengestalt
wahrscheinlich noch lange Zeit Tier geblieben. Das Gewissen hat sich erst aus


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tun: UM die Zuneigung der Unterworfnen zu gewinnen und sie ohne Gefahr
„ausbeuten" zu können. Augustin faßt diesen Fall ins Auge, wenn er die
Tugenden der Heiden verhüllte Laster nennt, weil sie ja nicht aus Liebe zu
Gott, sondern aus Selbstsucht, aus Ruhm- oder Herrschbegier und zur Befriedi¬
gung der Habsucht, geübt würden. Trotzdem erscheinen ihm die Römertugenden
— es sind die vier, die die christlichen Theologen der aristotelischen Ethik
als „Kardinaltugenden" entnommen haben: Klugheit, Mäßigkeit, Gerechtigkeit
und Stärke — nicht ohne Wert. Ihre Übung schließe die den Menschen ent¬
würdigenden Laster des Sinnengenusses aus, und sie verdienten darum wenigstens
einen irdischen Lohn; dieser sei den Römern in der Beherrschung des Erdkreises
zuteil geworden. Darin liegt schon zugleich die Antwort auf die Frage, in
welchem Verhältnis das Streben nach Herrschaft zur Moralität steht. Die
spezifisch christlichen Tugenden: Demut, Sanftmut, Geduld, Barmherzigkeit
treiben natürlich nicht zu kriegerischen Eroberungen und würden in Eroberungs¬
kriegen mehr hinderlich als nützlich sein; dagegen sind für solche von den oben
genannten vier Tugenden drei nicht zu entbehren. Der Nutzen der Gerechtig¬
keit hängt von Umständen ab. Die Unterjochten gerecht zu regieren ist gewöhn¬
lich klug; aber die Eroberungskriege an sich sind meist ungerecht; nicht immer.
Zum Beispiel nicht in dem Falle, daß ohne die Eroberung eines Grenz¬
landes der eigne Staat vor Angriffen eines unruhigen Nachbars nicht geschützt
werden kann, und das wird immer der Fall sein, wenn dieser ein räuberischer
Barbar ist. Damit sind wir bei dem Konflikt zwischen gleich Energischen ange¬
langt, einem Konflikt, der natürlich nicht bloß zwischen Völkern und Staaten
entsteht, die ihn durch Krieg lösen, sondern auch zwischen Ständen im Staate,
die sich als feindliche Parteien organisieren, und zwischen Privatpersonen, die
wirtschaftliche und Beförderungskämpfe miteinander auszufechten haben; im
Staatsdienst ringen die Streber und die Kleber miteinander; meist so
geräuschlos, daß kein Uneingeweihter etwas merkt; manchmal jedoch macht sich
die verhaltne Leidenschaft Luft, und es kommt zu einem öffentlichen Skandal.
Daran schließen sich Wettkampfe der verschiedensten Art wie Schönheitskonkur¬
renzen, Regatten und mörderische Automobilrennen. Endlich die Kämpfe in den
kleinsten Kreisen bis in die Familien hinein. Und in alledem kann ebensogut
die edelste Ritterlichkeit wie die gemeinste, betrügerische Selbstsucht geübt werden.
Die Kämpfe machen eben den Menschen weder gut noch schlecht oder böse,
sondern sie geben nur Gelegenheit, das Gute, Schlechte oder Böse, das in ihm
steckt, zu offenbaren und zu stärken. Ein Gutes erwirken sie auf jeden Fall:
sie erhöhen die Energie, die an sich, auch wenn sie zum Bösen angewandt wird,
eine virtus im ursprünglichen Sinne dieses Wortes ist.

Die Güte des Naturmenschen, falls es einen solchen gibt oder jemals
gegeben hat, kann natürlich nur negativ gedacht werden. Hat sich der Mensch
aus einem Tiere entwickelt, dann ist er nach Erlangung der Menschengestalt
wahrscheinlich noch lange Zeit Tier geblieben. Das Gewissen hat sich erst aus


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[0622] Neues von Zeilliere und über Gobineau tun: UM die Zuneigung der Unterworfnen zu gewinnen und sie ohne Gefahr „ausbeuten" zu können. Augustin faßt diesen Fall ins Auge, wenn er die Tugenden der Heiden verhüllte Laster nennt, weil sie ja nicht aus Liebe zu Gott, sondern aus Selbstsucht, aus Ruhm- oder Herrschbegier und zur Befriedi¬ gung der Habsucht, geübt würden. Trotzdem erscheinen ihm die Römertugenden — es sind die vier, die die christlichen Theologen der aristotelischen Ethik als „Kardinaltugenden" entnommen haben: Klugheit, Mäßigkeit, Gerechtigkeit und Stärke — nicht ohne Wert. Ihre Übung schließe die den Menschen ent¬ würdigenden Laster des Sinnengenusses aus, und sie verdienten darum wenigstens einen irdischen Lohn; dieser sei den Römern in der Beherrschung des Erdkreises zuteil geworden. Darin liegt schon zugleich die Antwort auf die Frage, in welchem Verhältnis das Streben nach Herrschaft zur Moralität steht. Die spezifisch christlichen Tugenden: Demut, Sanftmut, Geduld, Barmherzigkeit treiben natürlich nicht zu kriegerischen Eroberungen und würden in Eroberungs¬ kriegen mehr hinderlich als nützlich sein; dagegen sind für solche von den oben genannten vier Tugenden drei nicht zu entbehren. Der Nutzen der Gerechtig¬ keit hängt von Umständen ab. Die Unterjochten gerecht zu regieren ist gewöhn¬ lich klug; aber die Eroberungskriege an sich sind meist ungerecht; nicht immer. Zum Beispiel nicht in dem Falle, daß ohne die Eroberung eines Grenz¬ landes der eigne Staat vor Angriffen eines unruhigen Nachbars nicht geschützt werden kann, und das wird immer der Fall sein, wenn dieser ein räuberischer Barbar ist. Damit sind wir bei dem Konflikt zwischen gleich Energischen ange¬ langt, einem Konflikt, der natürlich nicht bloß zwischen Völkern und Staaten entsteht, die ihn durch Krieg lösen, sondern auch zwischen Ständen im Staate, die sich als feindliche Parteien organisieren, und zwischen Privatpersonen, die wirtschaftliche und Beförderungskämpfe miteinander auszufechten haben; im Staatsdienst ringen die Streber und die Kleber miteinander; meist so geräuschlos, daß kein Uneingeweihter etwas merkt; manchmal jedoch macht sich die verhaltne Leidenschaft Luft, und es kommt zu einem öffentlichen Skandal. Daran schließen sich Wettkampfe der verschiedensten Art wie Schönheitskonkur¬ renzen, Regatten und mörderische Automobilrennen. Endlich die Kämpfe in den kleinsten Kreisen bis in die Familien hinein. Und in alledem kann ebensogut die edelste Ritterlichkeit wie die gemeinste, betrügerische Selbstsucht geübt werden. Die Kämpfe machen eben den Menschen weder gut noch schlecht oder böse, sondern sie geben nur Gelegenheit, das Gute, Schlechte oder Böse, das in ihm steckt, zu offenbaren und zu stärken. Ein Gutes erwirken sie auf jeden Fall: sie erhöhen die Energie, die an sich, auch wenn sie zum Bösen angewandt wird, eine virtus im ursprünglichen Sinne dieses Wortes ist. Die Güte des Naturmenschen, falls es einen solchen gibt oder jemals gegeben hat, kann natürlich nur negativ gedacht werden. Hat sich der Mensch aus einem Tiere entwickelt, dann ist er nach Erlangung der Menschengestalt wahrscheinlich noch lange Zeit Tier geblieben. Das Gewissen hat sich erst aus

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/622>, abgerufen am 01.09.2024.