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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Neues von Seilliere und über Gobineau

um die alten Fragen: Ist der Mensch von Natur gut? Wird er durch den
Kulturfortschritt besser oder schlechter? Ist das Streben der Individuen und
der Völker nach Herrschaft unsittlich? Legen wir unsre Ansicht darüber kurz
dar, ohne uns um Seilliere und seine sechs Denker viel zu kümmern, und ohne
das überflüssige und durch den beschriebnen Mißbrauch zur läppischen Phrase
gewordne Wort Imperialismus zu gebrauchen. Jedem Lebewesen ist der Trieb
eingepflanzt, sich zu erhalten, neben Konkurrenten zu behaupten und zu wachsen --
auch wohl auf Kosten seiner Mitgeschöpfe; dem Vernunftwesen Mensch sind
für diesen Zweck körperliche und geistige Mittel und Werkzeuge verliehen, die
ihn zum Herrn seiner vernunftlosen Mitgeschöpfe machen, und die im Konkurrenz¬
kampfe auch ein Mensch gegen den andern anwendet. Außerdem sind ihm aber
noch andre Triebe eingepflanzt, die wir sittliche zu nennen pflegen, und die das
Walten des Selbstbehauptungstriebes teils regeln, teils einschränken. Bekannte
Biologen behaupten, die Triebe zweiter Art seien nichts andres als Wirkungen
des Selbsterhaltungstriebes, indem dieser von der Einsicht geleitet werde, daß
die Anerkennung und Erfüllung gewisser Pflichten gegen den Nächsten zu den
Bedingungen der Selbsterhaltung gehöre. Wir weisen diese Ansicht zurück, weil
es ja Tatsache ist. daß jede der sittlichen Ideen: Gerechtigkeit. Liebe, Selbst¬
vervollkommnung, sittliche Freiheit unter Umstünden den Menschen zwingt, sein
leibliches Leben zu opfern. Es ist das allerdings auch eine Art Selbsterhal¬
tung: der höhere, der geistige Mensch behauptet sich auf Kosten des leiblichen;
aber man kann diese Selbstbehauptung schlechterdings nicht biologisch, aus
animalischen Trieben, erklären. Dagegen muß zugegeben werden, daß sich die
sittlichen Triebe mir in. Konkurrenzkampfe der Menschen entfalten, indem dieser
zu Verträgen, zu Einrichtungen, zu Gesetzen führt, in deren Schaffung und
Abschaffung. Beobachtung und Verletzung der Einzelne sich über seine sittliche
Natur klar wird und als sittliches Wesen bewährt. Zu den Grundversclncden-
heiten der Menschen untereinander gehört die in den Graden der Energie. Die
einen fühlen den Trieb zur Selbstbehauptung stärker als andre. Die einen
sind aktive, die andern passive Naturen. Jene empfinden den Drang, zu herrschen,
diese den, sich beherrschen zu lassen. Kinder sind bei aller sonstigen Aktivität
leitungsbedürftig und empfinden es als eine Wohltat, wenn eine feste Hand sie
stützt und leitet. Früher glaubte man ziemlich allgemein, das Weib bleibe in
dieser Beziehung dem Kinde zeitlebens einigermaßen ähnlich, heute würden wir
bei den Vertreterinnen des schönen Geschlechts schön ankommen, wenn wir uns
M diesem "von den herrschsüchtigen Männern erfundnen Vorurteil" bekennen
Wollten, auf dessen Prüfung wir uns hier nicht weiter einlassen. Unzählige
Menschen endlich, ja ganze Völker bleiben im angegebnen Sinne zeitlebens
Kinder, und es ist klar, daß ihnen durch die Unterwerfung uuter den Willen
eines Einsichtigen und zur Leitung Befähigten kein Unrecht zugefügt, sondern
eine Wohltat erwiesen wird, wofern die Herrschenden ihre Macht gewissenhaft
anwenden, was freilich nicht ausschließt, daß sie das in selbstsüchtiger Absicht


Neues von Seilliere und über Gobineau

um die alten Fragen: Ist der Mensch von Natur gut? Wird er durch den
Kulturfortschritt besser oder schlechter? Ist das Streben der Individuen und
der Völker nach Herrschaft unsittlich? Legen wir unsre Ansicht darüber kurz
dar, ohne uns um Seilliere und seine sechs Denker viel zu kümmern, und ohne
das überflüssige und durch den beschriebnen Mißbrauch zur läppischen Phrase
gewordne Wort Imperialismus zu gebrauchen. Jedem Lebewesen ist der Trieb
eingepflanzt, sich zu erhalten, neben Konkurrenten zu behaupten und zu wachsen —
auch wohl auf Kosten seiner Mitgeschöpfe; dem Vernunftwesen Mensch sind
für diesen Zweck körperliche und geistige Mittel und Werkzeuge verliehen, die
ihn zum Herrn seiner vernunftlosen Mitgeschöpfe machen, und die im Konkurrenz¬
kampfe auch ein Mensch gegen den andern anwendet. Außerdem sind ihm aber
noch andre Triebe eingepflanzt, die wir sittliche zu nennen pflegen, und die das
Walten des Selbstbehauptungstriebes teils regeln, teils einschränken. Bekannte
Biologen behaupten, die Triebe zweiter Art seien nichts andres als Wirkungen
des Selbsterhaltungstriebes, indem dieser von der Einsicht geleitet werde, daß
die Anerkennung und Erfüllung gewisser Pflichten gegen den Nächsten zu den
Bedingungen der Selbsterhaltung gehöre. Wir weisen diese Ansicht zurück, weil
es ja Tatsache ist. daß jede der sittlichen Ideen: Gerechtigkeit. Liebe, Selbst¬
vervollkommnung, sittliche Freiheit unter Umstünden den Menschen zwingt, sein
leibliches Leben zu opfern. Es ist das allerdings auch eine Art Selbsterhal¬
tung: der höhere, der geistige Mensch behauptet sich auf Kosten des leiblichen;
aber man kann diese Selbstbehauptung schlechterdings nicht biologisch, aus
animalischen Trieben, erklären. Dagegen muß zugegeben werden, daß sich die
sittlichen Triebe mir in. Konkurrenzkampfe der Menschen entfalten, indem dieser
zu Verträgen, zu Einrichtungen, zu Gesetzen führt, in deren Schaffung und
Abschaffung. Beobachtung und Verletzung der Einzelne sich über seine sittliche
Natur klar wird und als sittliches Wesen bewährt. Zu den Grundversclncden-
heiten der Menschen untereinander gehört die in den Graden der Energie. Die
einen fühlen den Trieb zur Selbstbehauptung stärker als andre. Die einen
sind aktive, die andern passive Naturen. Jene empfinden den Drang, zu herrschen,
diese den, sich beherrschen zu lassen. Kinder sind bei aller sonstigen Aktivität
leitungsbedürftig und empfinden es als eine Wohltat, wenn eine feste Hand sie
stützt und leitet. Früher glaubte man ziemlich allgemein, das Weib bleibe in
dieser Beziehung dem Kinde zeitlebens einigermaßen ähnlich, heute würden wir
bei den Vertreterinnen des schönen Geschlechts schön ankommen, wenn wir uns
M diesem „von den herrschsüchtigen Männern erfundnen Vorurteil» bekennen
Wollten, auf dessen Prüfung wir uns hier nicht weiter einlassen. Unzählige
Menschen endlich, ja ganze Völker bleiben im angegebnen Sinne zeitlebens
Kinder, und es ist klar, daß ihnen durch die Unterwerfung uuter den Willen
eines Einsichtigen und zur Leitung Befähigten kein Unrecht zugefügt, sondern
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anwenden, was freilich nicht ausschließt, daß sie das in selbstsüchtiger Absicht


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[0621] Neues von Seilliere und über Gobineau um die alten Fragen: Ist der Mensch von Natur gut? Wird er durch den Kulturfortschritt besser oder schlechter? Ist das Streben der Individuen und der Völker nach Herrschaft unsittlich? Legen wir unsre Ansicht darüber kurz dar, ohne uns um Seilliere und seine sechs Denker viel zu kümmern, und ohne das überflüssige und durch den beschriebnen Mißbrauch zur läppischen Phrase gewordne Wort Imperialismus zu gebrauchen. Jedem Lebewesen ist der Trieb eingepflanzt, sich zu erhalten, neben Konkurrenten zu behaupten und zu wachsen — auch wohl auf Kosten seiner Mitgeschöpfe; dem Vernunftwesen Mensch sind für diesen Zweck körperliche und geistige Mittel und Werkzeuge verliehen, die ihn zum Herrn seiner vernunftlosen Mitgeschöpfe machen, und die im Konkurrenz¬ kampfe auch ein Mensch gegen den andern anwendet. Außerdem sind ihm aber noch andre Triebe eingepflanzt, die wir sittliche zu nennen pflegen, und die das Walten des Selbstbehauptungstriebes teils regeln, teils einschränken. Bekannte Biologen behaupten, die Triebe zweiter Art seien nichts andres als Wirkungen des Selbsterhaltungstriebes, indem dieser von der Einsicht geleitet werde, daß die Anerkennung und Erfüllung gewisser Pflichten gegen den Nächsten zu den Bedingungen der Selbsterhaltung gehöre. Wir weisen diese Ansicht zurück, weil es ja Tatsache ist. daß jede der sittlichen Ideen: Gerechtigkeit. Liebe, Selbst¬ vervollkommnung, sittliche Freiheit unter Umstünden den Menschen zwingt, sein leibliches Leben zu opfern. Es ist das allerdings auch eine Art Selbsterhal¬ tung: der höhere, der geistige Mensch behauptet sich auf Kosten des leiblichen; aber man kann diese Selbstbehauptung schlechterdings nicht biologisch, aus animalischen Trieben, erklären. Dagegen muß zugegeben werden, daß sich die sittlichen Triebe mir in. Konkurrenzkampfe der Menschen entfalten, indem dieser zu Verträgen, zu Einrichtungen, zu Gesetzen führt, in deren Schaffung und Abschaffung. Beobachtung und Verletzung der Einzelne sich über seine sittliche Natur klar wird und als sittliches Wesen bewährt. Zu den Grundversclncden- heiten der Menschen untereinander gehört die in den Graden der Energie. Die einen fühlen den Trieb zur Selbstbehauptung stärker als andre. Die einen sind aktive, die andern passive Naturen. Jene empfinden den Drang, zu herrschen, diese den, sich beherrschen zu lassen. Kinder sind bei aller sonstigen Aktivität leitungsbedürftig und empfinden es als eine Wohltat, wenn eine feste Hand sie stützt und leitet. Früher glaubte man ziemlich allgemein, das Weib bleibe in dieser Beziehung dem Kinde zeitlebens einigermaßen ähnlich, heute würden wir bei den Vertreterinnen des schönen Geschlechts schön ankommen, wenn wir uns M diesem „von den herrschsüchtigen Männern erfundnen Vorurteil» bekennen Wollten, auf dessen Prüfung wir uns hier nicht weiter einlassen. Unzählige Menschen endlich, ja ganze Völker bleiben im angegebnen Sinne zeitlebens Kinder, und es ist klar, daß ihnen durch die Unterwerfung uuter den Willen eines Einsichtigen und zur Leitung Befähigten kein Unrecht zugefügt, sondern eine Wohltat erwiesen wird, wofern die Herrschenden ihre Macht gewissenhaft anwenden, was freilich nicht ausschließt, daß sie das in selbstsüchtiger Absicht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/621>, abgerufen am 01.09.2024.