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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Soziale und wirtschaftliche Kämpfe

industriellen Entwicklung ist; und wir haben ferner darauf hingewiesen, daß die
politische Einigung, der Übergang vom binnenstaatlichen und zum Teil klein-
staatlichen Leben zur Weltpolitik und Weltwirtschaft für unser Volk zu un¬
vermittelt kam, daß die Vorbereitung und Schulung fehlte, und damit auch das
Verständnis für die Aufgaben einer neuen Zeit. Auf der Grundlage der Um¬
schichtung des größten Teils unsers Volks und der kapitalistischen Entwicklung
ist der Klassenhaß entstanden; der Mangel an politischer Schulung hatte zur
Folge, daß sich die Massen Führern anvertrauten, deren Ziel es nicht ist, die
Lage der handarbeitenden Klassen innerhalb der Gesellschaftsordnung möglichst
glücklich und gesund zu gestalten, die vielmehr danach streben, diese Gesellschafts¬
ordnung zu zerbrechen, ohne daß sie anzugeben vermögen, was sie an deren
Stelle setzen wollen, und obgleich die Entwicklung der letzten Jahrzehnte gerade
den Arbeitern eine solche Besserung ihrer materiellen Lage gebracht hat, daß
selbst die Utopisten der roten Partei Lassalles Lehre vom ehernen Lohngesetz
als unhaltbar haben fallen lassen müssen. Sollten die Ursachen unsrer Krank¬
heit im wesentlichen richtig angegeben sein, so ergeben sich daraus auch von
selbst die Mittel zur Heilung der Krankheit, dann muß die Losung für die
Zukunft heißen: Bevölkernugspolitik und nationale politische Erziehung.

Wir haben uns daran gewöhnt, vom vierten Stande zu sprechen. So wie
in der französischen Revolution der dritte Stand, das Bürgertum auftrat und
politische Rechte für sich forderte neben Adel und Klerus, so sind im neun"
zehnten Jahrhundert die breiten Massen ans den Plan getreten und haben den
Ruf nach politischer Gleichberechtigung erhoben. In Deutschland haben wir
ihren Forderungen so weit nachgegeben, wie nur möglich war, indem wir uns
die Fiktion von der Gleichheit der Menschen zu eigen machten und dem Arbeiter
dieselben politischen Rechte gewährten wie dem geistig Gebildeten, dem Besitz¬
losen dieselben Rechte wie dem durch Besitz an der Erhaltung des Staates
Interessierten. Und nun haben wir uns daran gewöhnt, alle, die sozial unter
dem Bürgertum stehn, als eine einheitliche Masse zu betrachten und sie zusammen¬
zufassen unter dem Begriffe des vierten Standes. Bestärkt worden sind wir
darin durch die Tatsache, daß der größte Teil der Leute, die dieser untersten
Klasse angehören, zur Fahne der Sozialdemokratie schwört, sodaß der Anschein
erweckt wird, als ob diese Massen tatsächlich in ihren Interessen solidarisch
seien. Wenn man näher zusieht, erkennt man, daß hier ein Irrtum vorliegt.
Masse im eigentlichen Sinn, Proletariat, ist nur die unterste Schicht, sind nur
die Menschen, die keine regelmäßige Arbeit haben, vielfach nur deshalb, weil
sie sie gar nicht suchen. Diese Schicht umfaßt die unruhigen und unzuverlässigen
Elemente, denen man nicht beikommen kann, die zu heben und zu fördern
niemals gelingen wird, weil ihnen Arbeitsamkeit und Streben fehlt. Darüber
steht die große Zahl der arbeitsamen, ungelernten Arbeiter, die, im wesentlichen
auf ihre Muskelkraft angewiesen, von der wechselnden Konjunktur abhängig
sind. Sie haben hohe Löhne, aber bei den teuern Lebensverhältnissen in den


Soziale und wirtschaftliche Kämpfe

industriellen Entwicklung ist; und wir haben ferner darauf hingewiesen, daß die
politische Einigung, der Übergang vom binnenstaatlichen und zum Teil klein-
staatlichen Leben zur Weltpolitik und Weltwirtschaft für unser Volk zu un¬
vermittelt kam, daß die Vorbereitung und Schulung fehlte, und damit auch das
Verständnis für die Aufgaben einer neuen Zeit. Auf der Grundlage der Um¬
schichtung des größten Teils unsers Volks und der kapitalistischen Entwicklung
ist der Klassenhaß entstanden; der Mangel an politischer Schulung hatte zur
Folge, daß sich die Massen Führern anvertrauten, deren Ziel es nicht ist, die
Lage der handarbeitenden Klassen innerhalb der Gesellschaftsordnung möglichst
glücklich und gesund zu gestalten, die vielmehr danach streben, diese Gesellschafts¬
ordnung zu zerbrechen, ohne daß sie anzugeben vermögen, was sie an deren
Stelle setzen wollen, und obgleich die Entwicklung der letzten Jahrzehnte gerade
den Arbeitern eine solche Besserung ihrer materiellen Lage gebracht hat, daß
selbst die Utopisten der roten Partei Lassalles Lehre vom ehernen Lohngesetz
als unhaltbar haben fallen lassen müssen. Sollten die Ursachen unsrer Krank¬
heit im wesentlichen richtig angegeben sein, so ergeben sich daraus auch von
selbst die Mittel zur Heilung der Krankheit, dann muß die Losung für die
Zukunft heißen: Bevölkernugspolitik und nationale politische Erziehung.

Wir haben uns daran gewöhnt, vom vierten Stande zu sprechen. So wie
in der französischen Revolution der dritte Stand, das Bürgertum auftrat und
politische Rechte für sich forderte neben Adel und Klerus, so sind im neun«
zehnten Jahrhundert die breiten Massen ans den Plan getreten und haben den
Ruf nach politischer Gleichberechtigung erhoben. In Deutschland haben wir
ihren Forderungen so weit nachgegeben, wie nur möglich war, indem wir uns
die Fiktion von der Gleichheit der Menschen zu eigen machten und dem Arbeiter
dieselben politischen Rechte gewährten wie dem geistig Gebildeten, dem Besitz¬
losen dieselben Rechte wie dem durch Besitz an der Erhaltung des Staates
Interessierten. Und nun haben wir uns daran gewöhnt, alle, die sozial unter
dem Bürgertum stehn, als eine einheitliche Masse zu betrachten und sie zusammen¬
zufassen unter dem Begriffe des vierten Standes. Bestärkt worden sind wir
darin durch die Tatsache, daß der größte Teil der Leute, die dieser untersten
Klasse angehören, zur Fahne der Sozialdemokratie schwört, sodaß der Anschein
erweckt wird, als ob diese Massen tatsächlich in ihren Interessen solidarisch
seien. Wenn man näher zusieht, erkennt man, daß hier ein Irrtum vorliegt.
Masse im eigentlichen Sinn, Proletariat, ist nur die unterste Schicht, sind nur
die Menschen, die keine regelmäßige Arbeit haben, vielfach nur deshalb, weil
sie sie gar nicht suchen. Diese Schicht umfaßt die unruhigen und unzuverlässigen
Elemente, denen man nicht beikommen kann, die zu heben und zu fördern
niemals gelingen wird, weil ihnen Arbeitsamkeit und Streben fehlt. Darüber
steht die große Zahl der arbeitsamen, ungelernten Arbeiter, die, im wesentlichen
auf ihre Muskelkraft angewiesen, von der wechselnden Konjunktur abhängig
sind. Sie haben hohe Löhne, aber bei den teuern Lebensverhältnissen in den


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[0614] Soziale und wirtschaftliche Kämpfe industriellen Entwicklung ist; und wir haben ferner darauf hingewiesen, daß die politische Einigung, der Übergang vom binnenstaatlichen und zum Teil klein- staatlichen Leben zur Weltpolitik und Weltwirtschaft für unser Volk zu un¬ vermittelt kam, daß die Vorbereitung und Schulung fehlte, und damit auch das Verständnis für die Aufgaben einer neuen Zeit. Auf der Grundlage der Um¬ schichtung des größten Teils unsers Volks und der kapitalistischen Entwicklung ist der Klassenhaß entstanden; der Mangel an politischer Schulung hatte zur Folge, daß sich die Massen Führern anvertrauten, deren Ziel es nicht ist, die Lage der handarbeitenden Klassen innerhalb der Gesellschaftsordnung möglichst glücklich und gesund zu gestalten, die vielmehr danach streben, diese Gesellschafts¬ ordnung zu zerbrechen, ohne daß sie anzugeben vermögen, was sie an deren Stelle setzen wollen, und obgleich die Entwicklung der letzten Jahrzehnte gerade den Arbeitern eine solche Besserung ihrer materiellen Lage gebracht hat, daß selbst die Utopisten der roten Partei Lassalles Lehre vom ehernen Lohngesetz als unhaltbar haben fallen lassen müssen. Sollten die Ursachen unsrer Krank¬ heit im wesentlichen richtig angegeben sein, so ergeben sich daraus auch von selbst die Mittel zur Heilung der Krankheit, dann muß die Losung für die Zukunft heißen: Bevölkernugspolitik und nationale politische Erziehung. Wir haben uns daran gewöhnt, vom vierten Stande zu sprechen. So wie in der französischen Revolution der dritte Stand, das Bürgertum auftrat und politische Rechte für sich forderte neben Adel und Klerus, so sind im neun« zehnten Jahrhundert die breiten Massen ans den Plan getreten und haben den Ruf nach politischer Gleichberechtigung erhoben. In Deutschland haben wir ihren Forderungen so weit nachgegeben, wie nur möglich war, indem wir uns die Fiktion von der Gleichheit der Menschen zu eigen machten und dem Arbeiter dieselben politischen Rechte gewährten wie dem geistig Gebildeten, dem Besitz¬ losen dieselben Rechte wie dem durch Besitz an der Erhaltung des Staates Interessierten. Und nun haben wir uns daran gewöhnt, alle, die sozial unter dem Bürgertum stehn, als eine einheitliche Masse zu betrachten und sie zusammen¬ zufassen unter dem Begriffe des vierten Standes. Bestärkt worden sind wir darin durch die Tatsache, daß der größte Teil der Leute, die dieser untersten Klasse angehören, zur Fahne der Sozialdemokratie schwört, sodaß der Anschein erweckt wird, als ob diese Massen tatsächlich in ihren Interessen solidarisch seien. Wenn man näher zusieht, erkennt man, daß hier ein Irrtum vorliegt. Masse im eigentlichen Sinn, Proletariat, ist nur die unterste Schicht, sind nur die Menschen, die keine regelmäßige Arbeit haben, vielfach nur deshalb, weil sie sie gar nicht suchen. Diese Schicht umfaßt die unruhigen und unzuverlässigen Elemente, denen man nicht beikommen kann, die zu heben und zu fördern niemals gelingen wird, weil ihnen Arbeitsamkeit und Streben fehlt. Darüber steht die große Zahl der arbeitsamen, ungelernten Arbeiter, die, im wesentlichen auf ihre Muskelkraft angewiesen, von der wechselnden Konjunktur abhängig sind. Sie haben hohe Löhne, aber bei den teuern Lebensverhältnissen in den

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/614>, abgerufen am 01.09.2024.