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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Soziale und wirtschaftliche Kämpfe

und hob sie über ihre eigentliche Bedeutung hinaus, ließ sie größer erscheinen,
als sie waren.

Aber eine so hochgespannte Stimmung konnte nicht anhalten. Der Über¬
gang vom Kleinbetrieb zur Weltwirtschaft, von dem doch engen politischen Leben
eines im wesentlichen binnenstaatlichen Volks zur Weltmacht war zu schnell,
zu unvermittelt gewesen. Das deutsche Volk war nicht organisch hineingewachsen
in die neuen, großen Verhältnisse, es war uuter der Führung großer Männer
und unter der Gunst der Umstände Hals über Kopf in sie hineingestürzt. Es
war äußerlich und innerlich völlig umgestaltet, aber es war noch nicht in einer
langen Schule der Erfahrung in sich gefestigt, noch nicht politisch reif geworden
für die neuen Aufgaben, die nun zu erfüllen waren. Norden und Süden waren
noch nicht zusammengewachsen. Und diesem von Grund aus aufgewühlten, in
sich noch nicht gefestigten Volke gaben wir nach dem siegreichen Kriege, der
nicht den Abschluß einer langen Entwicklung, sondern den Beginn unsers
nationalen und politischen Lebens bezeichnet, das demokratischste aller Wahl¬
rechte, das allgemeine, gleiche und geheime Wahlrecht.

Es ist lehrreich, zu betrachten, wie vorsichtig die Engländer bei dem Ausbau
ihres Wahlrechts verfahren sind. Bis zum Jahre 1832 beherrschte der englische
Adel nicht nur das Oberhaus, sondern auch das Unterhaus, weil er über die
verrotteten Burgfleckcn verfügte, in denen ein großer Teil der Abgeordneten
gewählt wurde. Der Einfluß in diesen rotten dorou^Z wurde wie Eigentum
veräußert und vererbt und mit lo.ters8t bezeichnet. Man sprach von einem
Lsätorä-intersst, einem U'öveg.Leis-intsrkst, je nachdem der Herzog von Bedford
oder der von Newcastle bei der Parlamentswahl über den Ort verfügte. Bei
der Reform von 1832 wurde der Kreis der Wahlberechtigten nur wenig er¬
weitert, dagegen das Vorrecht dieser Wahlflecken beseitigt und eine gerechtere
Verteilung der in Stadt und Land zu wählenden Abgeordneten herbeigeführt.
Ein im Jahre 1867 von dem konservativen Ministerium Derby-Disraeli ein¬
gebrachtes Gesetz führte dann folgende Erweiterungen des Wahlrechts ein:

1. In den Grafschaften wurde für die auf Eigentum beruhende Wahl¬
berechtigung die Forderung eines Reinertrags von zehn Pfund Sterling auf
fünf Pfund Sterling herabgesetzt und die bisher nur in den Städten geltende
0oouvation-trg,Qe,Irish eingeführt. Doch mußte der Wähler seit zwölf Monaten
vor der Wahl ansässig sein und das liegende Gut, das ihn zur Wahl berechtigte,
einen Reinertrag von zehn Pfund Sterling abwerfen.

2. In den Städten wurden zwei Berechtigungen neu eingeführt. Es
erhielten das Wahlrecht die Mieter, die einen jährlichen Mietzins von zehn
Pfund Sterling zahlten und zwölf Monate vorher eingetragen waren, und
außerdem die Inhaber eines selbständigen Haushalts, die ein Haus oder
den Teil eines Hauses bewohnten, zwölf Monate vor dem 15. Juli des
Wahljahres zur Armensteuer eingeschützt waren und diese Steuer auch be¬
zahlt hatten.


Soziale und wirtschaftliche Kämpfe

und hob sie über ihre eigentliche Bedeutung hinaus, ließ sie größer erscheinen,
als sie waren.

Aber eine so hochgespannte Stimmung konnte nicht anhalten. Der Über¬
gang vom Kleinbetrieb zur Weltwirtschaft, von dem doch engen politischen Leben
eines im wesentlichen binnenstaatlichen Volks zur Weltmacht war zu schnell,
zu unvermittelt gewesen. Das deutsche Volk war nicht organisch hineingewachsen
in die neuen, großen Verhältnisse, es war uuter der Führung großer Männer
und unter der Gunst der Umstände Hals über Kopf in sie hineingestürzt. Es
war äußerlich und innerlich völlig umgestaltet, aber es war noch nicht in einer
langen Schule der Erfahrung in sich gefestigt, noch nicht politisch reif geworden
für die neuen Aufgaben, die nun zu erfüllen waren. Norden und Süden waren
noch nicht zusammengewachsen. Und diesem von Grund aus aufgewühlten, in
sich noch nicht gefestigten Volke gaben wir nach dem siegreichen Kriege, der
nicht den Abschluß einer langen Entwicklung, sondern den Beginn unsers
nationalen und politischen Lebens bezeichnet, das demokratischste aller Wahl¬
rechte, das allgemeine, gleiche und geheime Wahlrecht.

Es ist lehrreich, zu betrachten, wie vorsichtig die Engländer bei dem Ausbau
ihres Wahlrechts verfahren sind. Bis zum Jahre 1832 beherrschte der englische
Adel nicht nur das Oberhaus, sondern auch das Unterhaus, weil er über die
verrotteten Burgfleckcn verfügte, in denen ein großer Teil der Abgeordneten
gewählt wurde. Der Einfluß in diesen rotten dorou^Z wurde wie Eigentum
veräußert und vererbt und mit lo.ters8t bezeichnet. Man sprach von einem
Lsätorä-intersst, einem U'öveg.Leis-intsrkst, je nachdem der Herzog von Bedford
oder der von Newcastle bei der Parlamentswahl über den Ort verfügte. Bei
der Reform von 1832 wurde der Kreis der Wahlberechtigten nur wenig er¬
weitert, dagegen das Vorrecht dieser Wahlflecken beseitigt und eine gerechtere
Verteilung der in Stadt und Land zu wählenden Abgeordneten herbeigeführt.
Ein im Jahre 1867 von dem konservativen Ministerium Derby-Disraeli ein¬
gebrachtes Gesetz führte dann folgende Erweiterungen des Wahlrechts ein:

1. In den Grafschaften wurde für die auf Eigentum beruhende Wahl¬
berechtigung die Forderung eines Reinertrags von zehn Pfund Sterling auf
fünf Pfund Sterling herabgesetzt und die bisher nur in den Städten geltende
0oouvation-trg,Qe,Irish eingeführt. Doch mußte der Wähler seit zwölf Monaten
vor der Wahl ansässig sein und das liegende Gut, das ihn zur Wahl berechtigte,
einen Reinertrag von zehn Pfund Sterling abwerfen.

2. In den Städten wurden zwei Berechtigungen neu eingeführt. Es
erhielten das Wahlrecht die Mieter, die einen jährlichen Mietzins von zehn
Pfund Sterling zahlten und zwölf Monate vorher eingetragen waren, und
außerdem die Inhaber eines selbständigen Haushalts, die ein Haus oder
den Teil eines Hauses bewohnten, zwölf Monate vor dem 15. Juli des
Wahljahres zur Armensteuer eingeschützt waren und diese Steuer auch be¬
zahlt hatten.


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[0610] Soziale und wirtschaftliche Kämpfe und hob sie über ihre eigentliche Bedeutung hinaus, ließ sie größer erscheinen, als sie waren. Aber eine so hochgespannte Stimmung konnte nicht anhalten. Der Über¬ gang vom Kleinbetrieb zur Weltwirtschaft, von dem doch engen politischen Leben eines im wesentlichen binnenstaatlichen Volks zur Weltmacht war zu schnell, zu unvermittelt gewesen. Das deutsche Volk war nicht organisch hineingewachsen in die neuen, großen Verhältnisse, es war uuter der Führung großer Männer und unter der Gunst der Umstände Hals über Kopf in sie hineingestürzt. Es war äußerlich und innerlich völlig umgestaltet, aber es war noch nicht in einer langen Schule der Erfahrung in sich gefestigt, noch nicht politisch reif geworden für die neuen Aufgaben, die nun zu erfüllen waren. Norden und Süden waren noch nicht zusammengewachsen. Und diesem von Grund aus aufgewühlten, in sich noch nicht gefestigten Volke gaben wir nach dem siegreichen Kriege, der nicht den Abschluß einer langen Entwicklung, sondern den Beginn unsers nationalen und politischen Lebens bezeichnet, das demokratischste aller Wahl¬ rechte, das allgemeine, gleiche und geheime Wahlrecht. Es ist lehrreich, zu betrachten, wie vorsichtig die Engländer bei dem Ausbau ihres Wahlrechts verfahren sind. Bis zum Jahre 1832 beherrschte der englische Adel nicht nur das Oberhaus, sondern auch das Unterhaus, weil er über die verrotteten Burgfleckcn verfügte, in denen ein großer Teil der Abgeordneten gewählt wurde. Der Einfluß in diesen rotten dorou^Z wurde wie Eigentum veräußert und vererbt und mit lo.ters8t bezeichnet. Man sprach von einem Lsätorä-intersst, einem U'öveg.Leis-intsrkst, je nachdem der Herzog von Bedford oder der von Newcastle bei der Parlamentswahl über den Ort verfügte. Bei der Reform von 1832 wurde der Kreis der Wahlberechtigten nur wenig er¬ weitert, dagegen das Vorrecht dieser Wahlflecken beseitigt und eine gerechtere Verteilung der in Stadt und Land zu wählenden Abgeordneten herbeigeführt. Ein im Jahre 1867 von dem konservativen Ministerium Derby-Disraeli ein¬ gebrachtes Gesetz führte dann folgende Erweiterungen des Wahlrechts ein: 1. In den Grafschaften wurde für die auf Eigentum beruhende Wahl¬ berechtigung die Forderung eines Reinertrags von zehn Pfund Sterling auf fünf Pfund Sterling herabgesetzt und die bisher nur in den Städten geltende 0oouvation-trg,Qe,Irish eingeführt. Doch mußte der Wähler seit zwölf Monaten vor der Wahl ansässig sein und das liegende Gut, das ihn zur Wahl berechtigte, einen Reinertrag von zehn Pfund Sterling abwerfen. 2. In den Städten wurden zwei Berechtigungen neu eingeführt. Es erhielten das Wahlrecht die Mieter, die einen jährlichen Mietzins von zehn Pfund Sterling zahlten und zwölf Monate vorher eingetragen waren, und außerdem die Inhaber eines selbständigen Haushalts, die ein Haus oder den Teil eines Hauses bewohnten, zwölf Monate vor dem 15. Juli des Wahljahres zur Armensteuer eingeschützt waren und diese Steuer auch be¬ zahlt hatten.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/610>, abgerufen am 01.09.2024.