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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Luftreisen

gehören, in die irdische Trübseligkeit. So lassen wir uns denn fallen, und in
umgekehrter, aber hastiger Folge gleiten alle die Bilder, wenn auch mannigfach
verändert, wieder an uns vorüber, die wir beim Steigen geschaut haben.
Fröstelnd durchschlagen wir die immer dunkler sich zusammenschließende graue
Schicht, Schneeflocken umtanzen uns, Regentropfen umsprühen uns. Die
Schnelligkeit, etwa 5 bis 6 Meter in der Sekunde, ist zwar im Verhältnis zu
der gewöhnlichen Geschwindigkeit der wagerechten Fortbewegung, 10 bis 15 Meter
in der Sekunde, an sich nicht bedeutend, aber doch sehr empfindlich für den
Körper, der sich dem so rasch zunehmenden Luftdruck nicht gleich anpaßt. Daher
starkes Drängen im Ohr nach dem Trommelfell, das sich bei unserm jüngsten
Reisegefährten zu heftigen, noch lange über die Landung hinausdauernden
Schmerzen steigert.

Wo mögen wir jetzt schweben? Immer noch über dem langweiligen Ge¬
lände zwischen Warthe und Netze? Wir haben ja keine Ahnung davon, ob wir
während der ganzen Zeit unsrer Hochfahrt stillgestanden oder ob und wie schnell
wir uns vorwärts bewegt haben. Die Wolken Hunger noch tiefer herab als
am frühen Nachmittag. Erst als wir in ununterbrochnem Fall bei 500 Meter
angelangt sind, tritt die Erde in Sicht, und was liegt gerade unter uns? Ein
See mitten in einem größern Walde. Das gäbe einen garstigen Spritzer.
Darum schnell gebremst! Vier Sack sind dazu nötig, neun hatte die Hochfahrt
gekostet, fünf bleiben uns noch übrig.

Wir schwimmen eine Weile in 750 Meter Höhe, doch zeigt der Ballon
eine so starke Neigung zum Sinken, daß wir an Beendigung der Fahrt denken
müssen. Noch immer sind wir über dem See; er ist zwar schmal, und wir
hoffen, nach links oder rechts über seine Ufer hinauszukommen, unser Pech aber
will es. daß wir, wieder bei trägem Winde, langsam über seine ganze Länge
hin nach Nordosten zu treiben. Eine menschliche Ansiedlung ist weder am See
noch im Walde zu sehen. Die Möglichkeit, ins Wasser zu fallen, besteht weiter,
wir müssen nochmals steigen und verschwinden in den Regenwolken. Als wir
uns wieder herablassen, ist die Bahn frei, der See liegt hinter uns, vor uns
zunächst noch ein kleines Stück Wald, dann Felder und Wiesen. Wir gehen
ans Schlepptau, gleiten an einigen armseligen, strohgedeckten Lehmhütten mit
kleinen, trüben Fenstern vorüber und landen Nachmittag 4 Uhr 20 Minuten
unter strömendem Regen, aber sehr glatt bei Ossowo. nächste Bahnstation Linde,
Kreis Flatow, Regierungsbezirk Marienwerder, Provinz Westpreußen, südwestlich
von Konitz. Der See, den wir zuletzt überflogen hatten, war der Vorowno-
see in der Kujaner Heide.

Das war allerdings eine große Überraschung. Wir messen auf der Karte
"ach und entdecken, daß wir über den Wolken, westlich an Kolmar, und nach
Kreuzung der Netze östlich an Schneidemühl und Flatow vorüber, in reichlich
2 Stunden 86 Kilometer zurückgelegt haben, während unten, in Posen wie in
Westpreußen, fast Windstille herrschte. Wären wir also bei anhaltendem Sonnen-


Grenzboten III 1907 75
Luftreisen

gehören, in die irdische Trübseligkeit. So lassen wir uns denn fallen, und in
umgekehrter, aber hastiger Folge gleiten alle die Bilder, wenn auch mannigfach
verändert, wieder an uns vorüber, die wir beim Steigen geschaut haben.
Fröstelnd durchschlagen wir die immer dunkler sich zusammenschließende graue
Schicht, Schneeflocken umtanzen uns, Regentropfen umsprühen uns. Die
Schnelligkeit, etwa 5 bis 6 Meter in der Sekunde, ist zwar im Verhältnis zu
der gewöhnlichen Geschwindigkeit der wagerechten Fortbewegung, 10 bis 15 Meter
in der Sekunde, an sich nicht bedeutend, aber doch sehr empfindlich für den
Körper, der sich dem so rasch zunehmenden Luftdruck nicht gleich anpaßt. Daher
starkes Drängen im Ohr nach dem Trommelfell, das sich bei unserm jüngsten
Reisegefährten zu heftigen, noch lange über die Landung hinausdauernden
Schmerzen steigert.

Wo mögen wir jetzt schweben? Immer noch über dem langweiligen Ge¬
lände zwischen Warthe und Netze? Wir haben ja keine Ahnung davon, ob wir
während der ganzen Zeit unsrer Hochfahrt stillgestanden oder ob und wie schnell
wir uns vorwärts bewegt haben. Die Wolken Hunger noch tiefer herab als
am frühen Nachmittag. Erst als wir in ununterbrochnem Fall bei 500 Meter
angelangt sind, tritt die Erde in Sicht, und was liegt gerade unter uns? Ein
See mitten in einem größern Walde. Das gäbe einen garstigen Spritzer.
Darum schnell gebremst! Vier Sack sind dazu nötig, neun hatte die Hochfahrt
gekostet, fünf bleiben uns noch übrig.

Wir schwimmen eine Weile in 750 Meter Höhe, doch zeigt der Ballon
eine so starke Neigung zum Sinken, daß wir an Beendigung der Fahrt denken
müssen. Noch immer sind wir über dem See; er ist zwar schmal, und wir
hoffen, nach links oder rechts über seine Ufer hinauszukommen, unser Pech aber
will es. daß wir, wieder bei trägem Winde, langsam über seine ganze Länge
hin nach Nordosten zu treiben. Eine menschliche Ansiedlung ist weder am See
noch im Walde zu sehen. Die Möglichkeit, ins Wasser zu fallen, besteht weiter,
wir müssen nochmals steigen und verschwinden in den Regenwolken. Als wir
uns wieder herablassen, ist die Bahn frei, der See liegt hinter uns, vor uns
zunächst noch ein kleines Stück Wald, dann Felder und Wiesen. Wir gehen
ans Schlepptau, gleiten an einigen armseligen, strohgedeckten Lehmhütten mit
kleinen, trüben Fenstern vorüber und landen Nachmittag 4 Uhr 20 Minuten
unter strömendem Regen, aber sehr glatt bei Ossowo. nächste Bahnstation Linde,
Kreis Flatow, Regierungsbezirk Marienwerder, Provinz Westpreußen, südwestlich
von Konitz. Der See, den wir zuletzt überflogen hatten, war der Vorowno-
see in der Kujaner Heide.

Das war allerdings eine große Überraschung. Wir messen auf der Karte
«ach und entdecken, daß wir über den Wolken, westlich an Kolmar, und nach
Kreuzung der Netze östlich an Schneidemühl und Flatow vorüber, in reichlich
2 Stunden 86 Kilometer zurückgelegt haben, während unten, in Posen wie in
Westpreußen, fast Windstille herrschte. Wären wir also bei anhaltendem Sonnen-


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[0581] Luftreisen gehören, in die irdische Trübseligkeit. So lassen wir uns denn fallen, und in umgekehrter, aber hastiger Folge gleiten alle die Bilder, wenn auch mannigfach verändert, wieder an uns vorüber, die wir beim Steigen geschaut haben. Fröstelnd durchschlagen wir die immer dunkler sich zusammenschließende graue Schicht, Schneeflocken umtanzen uns, Regentropfen umsprühen uns. Die Schnelligkeit, etwa 5 bis 6 Meter in der Sekunde, ist zwar im Verhältnis zu der gewöhnlichen Geschwindigkeit der wagerechten Fortbewegung, 10 bis 15 Meter in der Sekunde, an sich nicht bedeutend, aber doch sehr empfindlich für den Körper, der sich dem so rasch zunehmenden Luftdruck nicht gleich anpaßt. Daher starkes Drängen im Ohr nach dem Trommelfell, das sich bei unserm jüngsten Reisegefährten zu heftigen, noch lange über die Landung hinausdauernden Schmerzen steigert. Wo mögen wir jetzt schweben? Immer noch über dem langweiligen Ge¬ lände zwischen Warthe und Netze? Wir haben ja keine Ahnung davon, ob wir während der ganzen Zeit unsrer Hochfahrt stillgestanden oder ob und wie schnell wir uns vorwärts bewegt haben. Die Wolken Hunger noch tiefer herab als am frühen Nachmittag. Erst als wir in ununterbrochnem Fall bei 500 Meter angelangt sind, tritt die Erde in Sicht, und was liegt gerade unter uns? Ein See mitten in einem größern Walde. Das gäbe einen garstigen Spritzer. Darum schnell gebremst! Vier Sack sind dazu nötig, neun hatte die Hochfahrt gekostet, fünf bleiben uns noch übrig. Wir schwimmen eine Weile in 750 Meter Höhe, doch zeigt der Ballon eine so starke Neigung zum Sinken, daß wir an Beendigung der Fahrt denken müssen. Noch immer sind wir über dem See; er ist zwar schmal, und wir hoffen, nach links oder rechts über seine Ufer hinauszukommen, unser Pech aber will es. daß wir, wieder bei trägem Winde, langsam über seine ganze Länge hin nach Nordosten zu treiben. Eine menschliche Ansiedlung ist weder am See noch im Walde zu sehen. Die Möglichkeit, ins Wasser zu fallen, besteht weiter, wir müssen nochmals steigen und verschwinden in den Regenwolken. Als wir uns wieder herablassen, ist die Bahn frei, der See liegt hinter uns, vor uns zunächst noch ein kleines Stück Wald, dann Felder und Wiesen. Wir gehen ans Schlepptau, gleiten an einigen armseligen, strohgedeckten Lehmhütten mit kleinen, trüben Fenstern vorüber und landen Nachmittag 4 Uhr 20 Minuten unter strömendem Regen, aber sehr glatt bei Ossowo. nächste Bahnstation Linde, Kreis Flatow, Regierungsbezirk Marienwerder, Provinz Westpreußen, südwestlich von Konitz. Der See, den wir zuletzt überflogen hatten, war der Vorowno- see in der Kujaner Heide. Das war allerdings eine große Überraschung. Wir messen auf der Karte «ach und entdecken, daß wir über den Wolken, westlich an Kolmar, und nach Kreuzung der Netze östlich an Schneidemühl und Flatow vorüber, in reichlich 2 Stunden 86 Kilometer zurückgelegt haben, während unten, in Posen wie in Westpreußen, fast Windstille herrschte. Wären wir also bei anhaltendem Sonnen- Grenzboten III 1907 75

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/581>, abgerufen am 01.09.2024.