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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Luftreisen

anfangs 36 Kilometer, dann 30, 25, jetzt nur noch 20 in der Stunde. Wir
schweben über waldbedecktes Hügelland, meist dichte Laubwaldungen, unterbrochen
von Rodungen mit kleinen freundlichen Ortschaften und ansehnlichen Bauern¬
gütern, Liebtal mit Mühle, Treppeln am Fuße der nach ihm benannten
"Berge". Plothow, Lausitz und Krämpe. Südlich von uns erhebt sich das
Gelände bis zu 200 Metern, das sind die Rebenhügel und Obstgärten von
Grünberg, vor ihnen baut sich die alte Kreisstadt selbst auf als Mittelpunkt
von acht radienförmig verlaufenden Straßen. Die Karte belehrt uns, daß dort
die unbebaute Fläche östlich vom Bahnhof "Säure" heißt, in einer durch ihren
Weinbau berühmt gewordnen Gegend ein etwas unvorsichtig gewählter Name!

Jetzt weitet sich der Blick. Eine Landschaft, die an Großzügigkeit der
Rheinebene bei Worms nur wenig nachsteht, bietet sich unsern Blicken dar,
von den mächtigen Windungen der Oder durchzogen. Wo ihr Lauf von Osten
nach Westen mehr gestreckt ist, setzen sich nach Süden zu, ganz wie dort beim
Rhein, halbmondförmige Reste ihres verlassenen alten Flußbettes an, Werber
und Weiher auch hier, nur lugen sie schimmernd aus Wäldern hervor. Auf
die beinahe rechtwinklige Biegung des Flusses bei Gipstal fliegen wir zu.
Dort endet die früher weiter aufwärts von uns beobachtete Oderregulierung
mit ihren von beiden Seiten in den Fluß vorspringenden Buhnen. Am nörd¬
lichen Ufer zieht sich eine lange Kette von Weinbergen hin, die uns lebhaft
an die Meißner Heimat erinnern. Dahinter auf dem flachen Plateau liegt
eine Stadt, Züllichau.

Bei Tschicherzig westlich von dem erwähnten Knie erreichen wir früh
6 Uhr 15 Minuten in 400 Meter Höhe den breiten Strom, etwa 30 Kilo¬
meter nördlich von unsrer frühern Übergangsstelle bei Umsatz. Es ist eine
geographisch höchst merkwürdige Stelle. Die rechtwinklige Biegung ist nur
scheinbar, vielmehr mündete hier der obere Lauf der Oder als Nebenfluß in
den mittlern Parallelzug des großen ostwestlichen norddeutschen Urstroms.
Was der Scharfsinn des Gelehrten in zeitraubenden Studien mühsam ergründet
hat, das liegt für das Auge des Luftschiffers sonnenklar zutage. Die steil-
abfallende nördliche Böschung mit ihren Weinbergen biegt nicht etwa, dem
Laufe der Oder entsprechend, ebenfalls rechtwinklig nach Süden um, sondern
setzt sich geradlinig nach Osten fort, das Bett des Urstroms aufwärts begleitend,
das durch den schmalen Obrakanal und, etwa von Padligar an, durch die Faule
Ovra noch jetzt angedeutet wird. Es ist der Teil des Urstroms, der, im Osten
mit der Warthe beginnend, bei Sabrina sich westwärts durch den Oderbruch
Mr Oder wandte, dann durch deren Flußtal bis oberhalb Frankfurt und den
Friedrich-Wilhelm-Kanal, endlich durch die Spree über Berlin und die Havel
bezeichnet wird, bis er sich bei deren Einmündung in die Elbe mit dem nörd¬
lichen Arme des Urstroms vereinigt.

Der Wind, der sich mehr und mehr verlangsamt, treibt uns gerade über
dem Bette dieses Urstroms die Weinhügel entlang ostwärts und bietet uns so


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anfangs 36 Kilometer, dann 30, 25, jetzt nur noch 20 in der Stunde. Wir
schweben über waldbedecktes Hügelland, meist dichte Laubwaldungen, unterbrochen
von Rodungen mit kleinen freundlichen Ortschaften und ansehnlichen Bauern¬
gütern, Liebtal mit Mühle, Treppeln am Fuße der nach ihm benannten
„Berge". Plothow, Lausitz und Krämpe. Südlich von uns erhebt sich das
Gelände bis zu 200 Metern, das sind die Rebenhügel und Obstgärten von
Grünberg, vor ihnen baut sich die alte Kreisstadt selbst auf als Mittelpunkt
von acht radienförmig verlaufenden Straßen. Die Karte belehrt uns, daß dort
die unbebaute Fläche östlich vom Bahnhof „Säure" heißt, in einer durch ihren
Weinbau berühmt gewordnen Gegend ein etwas unvorsichtig gewählter Name!

Jetzt weitet sich der Blick. Eine Landschaft, die an Großzügigkeit der
Rheinebene bei Worms nur wenig nachsteht, bietet sich unsern Blicken dar,
von den mächtigen Windungen der Oder durchzogen. Wo ihr Lauf von Osten
nach Westen mehr gestreckt ist, setzen sich nach Süden zu, ganz wie dort beim
Rhein, halbmondförmige Reste ihres verlassenen alten Flußbettes an, Werber
und Weiher auch hier, nur lugen sie schimmernd aus Wäldern hervor. Auf
die beinahe rechtwinklige Biegung des Flusses bei Gipstal fliegen wir zu.
Dort endet die früher weiter aufwärts von uns beobachtete Oderregulierung
mit ihren von beiden Seiten in den Fluß vorspringenden Buhnen. Am nörd¬
lichen Ufer zieht sich eine lange Kette von Weinbergen hin, die uns lebhaft
an die Meißner Heimat erinnern. Dahinter auf dem flachen Plateau liegt
eine Stadt, Züllichau.

Bei Tschicherzig westlich von dem erwähnten Knie erreichen wir früh
6 Uhr 15 Minuten in 400 Meter Höhe den breiten Strom, etwa 30 Kilo¬
meter nördlich von unsrer frühern Übergangsstelle bei Umsatz. Es ist eine
geographisch höchst merkwürdige Stelle. Die rechtwinklige Biegung ist nur
scheinbar, vielmehr mündete hier der obere Lauf der Oder als Nebenfluß in
den mittlern Parallelzug des großen ostwestlichen norddeutschen Urstroms.
Was der Scharfsinn des Gelehrten in zeitraubenden Studien mühsam ergründet
hat, das liegt für das Auge des Luftschiffers sonnenklar zutage. Die steil-
abfallende nördliche Böschung mit ihren Weinbergen biegt nicht etwa, dem
Laufe der Oder entsprechend, ebenfalls rechtwinklig nach Süden um, sondern
setzt sich geradlinig nach Osten fort, das Bett des Urstroms aufwärts begleitend,
das durch den schmalen Obrakanal und, etwa von Padligar an, durch die Faule
Ovra noch jetzt angedeutet wird. Es ist der Teil des Urstroms, der, im Osten
mit der Warthe beginnend, bei Sabrina sich westwärts durch den Oderbruch
Mr Oder wandte, dann durch deren Flußtal bis oberhalb Frankfurt und den
Friedrich-Wilhelm-Kanal, endlich durch die Spree über Berlin und die Havel
bezeichnet wird, bis er sich bei deren Einmündung in die Elbe mit dem nörd¬
lichen Arme des Urstroms vereinigt.

Der Wind, der sich mehr und mehr verlangsamt, treibt uns gerade über
dem Bette dieses Urstroms die Weinhügel entlang ostwärts und bietet uns so


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[0575] Luftreisen anfangs 36 Kilometer, dann 30, 25, jetzt nur noch 20 in der Stunde. Wir schweben über waldbedecktes Hügelland, meist dichte Laubwaldungen, unterbrochen von Rodungen mit kleinen freundlichen Ortschaften und ansehnlichen Bauern¬ gütern, Liebtal mit Mühle, Treppeln am Fuße der nach ihm benannten „Berge". Plothow, Lausitz und Krämpe. Südlich von uns erhebt sich das Gelände bis zu 200 Metern, das sind die Rebenhügel und Obstgärten von Grünberg, vor ihnen baut sich die alte Kreisstadt selbst auf als Mittelpunkt von acht radienförmig verlaufenden Straßen. Die Karte belehrt uns, daß dort die unbebaute Fläche östlich vom Bahnhof „Säure" heißt, in einer durch ihren Weinbau berühmt gewordnen Gegend ein etwas unvorsichtig gewählter Name! Jetzt weitet sich der Blick. Eine Landschaft, die an Großzügigkeit der Rheinebene bei Worms nur wenig nachsteht, bietet sich unsern Blicken dar, von den mächtigen Windungen der Oder durchzogen. Wo ihr Lauf von Osten nach Westen mehr gestreckt ist, setzen sich nach Süden zu, ganz wie dort beim Rhein, halbmondförmige Reste ihres verlassenen alten Flußbettes an, Werber und Weiher auch hier, nur lugen sie schimmernd aus Wäldern hervor. Auf die beinahe rechtwinklige Biegung des Flusses bei Gipstal fliegen wir zu. Dort endet die früher weiter aufwärts von uns beobachtete Oderregulierung mit ihren von beiden Seiten in den Fluß vorspringenden Buhnen. Am nörd¬ lichen Ufer zieht sich eine lange Kette von Weinbergen hin, die uns lebhaft an die Meißner Heimat erinnern. Dahinter auf dem flachen Plateau liegt eine Stadt, Züllichau. Bei Tschicherzig westlich von dem erwähnten Knie erreichen wir früh 6 Uhr 15 Minuten in 400 Meter Höhe den breiten Strom, etwa 30 Kilo¬ meter nördlich von unsrer frühern Übergangsstelle bei Umsatz. Es ist eine geographisch höchst merkwürdige Stelle. Die rechtwinklige Biegung ist nur scheinbar, vielmehr mündete hier der obere Lauf der Oder als Nebenfluß in den mittlern Parallelzug des großen ostwestlichen norddeutschen Urstroms. Was der Scharfsinn des Gelehrten in zeitraubenden Studien mühsam ergründet hat, das liegt für das Auge des Luftschiffers sonnenklar zutage. Die steil- abfallende nördliche Böschung mit ihren Weinbergen biegt nicht etwa, dem Laufe der Oder entsprechend, ebenfalls rechtwinklig nach Süden um, sondern setzt sich geradlinig nach Osten fort, das Bett des Urstroms aufwärts begleitend, das durch den schmalen Obrakanal und, etwa von Padligar an, durch die Faule Ovra noch jetzt angedeutet wird. Es ist der Teil des Urstroms, der, im Osten mit der Warthe beginnend, bei Sabrina sich westwärts durch den Oderbruch Mr Oder wandte, dann durch deren Flußtal bis oberhalb Frankfurt und den Friedrich-Wilhelm-Kanal, endlich durch die Spree über Berlin und die Havel bezeichnet wird, bis er sich bei deren Einmündung in die Elbe mit dem nörd¬ lichen Arme des Urstroms vereinigt. Der Wind, der sich mehr und mehr verlangsamt, treibt uns gerade über dem Bette dieses Urstroms die Weinhügel entlang ostwärts und bietet uns so

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/575>, abgerufen am 01.09.2024.