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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

sonderbaren Mannes, der nach und nach alle Bande abstreifte, die ihn an das Irdische
gefesselt hatten, der in den kalten Winternächten, ohne den Frost zu spüren, beim
Scheine eines Talglichts über seinen Büchern saß (denn die Gasleitung war ihm
längst gesperrt worden!), und der, von geistiger Nahrung gesättigt, immer wieder
zu vergessen schien, daß auch sein Körper nach Kost verlangte. In Reichenbachs
Hof sprachen die Leute kopfschüttelnd davon, daß der Antiquar, seit er nicht mehr
unter der Obhut der Nichte stehe, ganz und gar verkomme, und ein bekannter
Buchhändler, der sich schon immer für den gelehrten Kollegen interessiert hatte,
und dem die Not des Sonderlings zu Ohren gekommen war, besuchte ihn und
händigte ihm eine größere Summe ein, die er als Betriebskapital betrachten und, wenn
er es einmal zu einigem Wohlstand gebracht haben werde, zurückerstatten sollte.

Schier nahm das Geld mit Dank an und verwandte es noch an demselben
Tage zum Ankauf eines kompletten Exemplars von Bursians Jahresbericht über
die Fortschritte der klassischen Altertumswissenschaft.

Acht Tage darauf blieb eines Morgens das Lädchen geschlossen. Die Nach¬
barn, denen bekannt war, daß Seyler nie mehr in seine Wohnung hinaufging,
sondern Tag und Nacht in dem Gewölbe hauste, verständigten die Polizei. Man
erbrach die Ladentür und fand den Bücherfreund, in seinen alten Lodenmantel
gehüllt, tot an dem Tische sitzend, auf dessen Platte noch die Spuren 'eines gänz¬
lich herabgebrannten Lichts zu bemerken waren. Seine Hände umklammerten die
^.rs "NianÄi des Ovid, das Haupt war auf die Brust gesunken, aber auf dem
bleichen Antlitz mit den unter den Brillengläsern halb geschlossenen Augen lag ein
Schimmer stiller Seligkeit.

Der Arzt, der die Leiche untersuchte, stellte als Todesursache Entkräftung
infolge mangelhafter Ernährung fest. In der Ladenkasse jedoch entdeckte man noch
fünfundsiebzig Pfennig -- und das ist das Allerwunderbarste an dieser Geschichte!




Maßgebliches und Unmaßgebliches

Reichsspiegel. (Der "Deutsche Tag" in Bromberg und die Polenpolitik.
Der Katholikentag in Würzburg. Der Kaiser in Hannover und in Westfalen. Die
Bewegung für Wahlrechtsänderung in Sachsen und in Preußen. Marokko. Die
Lage der amerikanischen Union.)

Von den vielen Kongressen, die in diesen Wochen auf deutschem Boden tagten,
wollen wir außer dem Sozialistenkongreß, von dem schon die Rede gewesen ist,
noch den "Deutschen Tag" in Bromberg am 17. August und den Katholikentag in
Würzburg hervorheben. Jener war ein erfreulicher Beweis davon, daß das
Deutschtum der Ostmarken sich auf sich selbst und seine nationalen Pflichten besinnt
und gewillt ist, mit der Regierung zusammenzuarbeiten, aber nicht alles von ihr
allein zu erwarten. Ob alle die in Bromberg angenommnen Resolutionen beifalls¬
würdig oder ausführbar sind, wollen wir hier nicht erörtern; die Hauptsache ist,
daß die Versammlung im ganzen mit der bisherigen Polenpolittk der Regierung
einverstanden ist und keine Umkehr wünscht, wie manche ernste Politiker empfehlen,
indem sie die völlige Erfolglosigkeit dieser Politik behaupten. Ob ein solches
Urteil auch gegenüber dem ausführlichen Bericht, den jüngst die Ansiedlungs-
kommission über ihre zwanzigjährige Tätigkeit (seit 1886) in Posen und in West¬
preußen erstattet hat, aufrechterhalten werden kann, ist doch sehr zweifelhaft.


Maßgebliches und Unmaßgebliches

sonderbaren Mannes, der nach und nach alle Bande abstreifte, die ihn an das Irdische
gefesselt hatten, der in den kalten Winternächten, ohne den Frost zu spüren, beim
Scheine eines Talglichts über seinen Büchern saß (denn die Gasleitung war ihm
längst gesperrt worden!), und der, von geistiger Nahrung gesättigt, immer wieder
zu vergessen schien, daß auch sein Körper nach Kost verlangte. In Reichenbachs
Hof sprachen die Leute kopfschüttelnd davon, daß der Antiquar, seit er nicht mehr
unter der Obhut der Nichte stehe, ganz und gar verkomme, und ein bekannter
Buchhändler, der sich schon immer für den gelehrten Kollegen interessiert hatte,
und dem die Not des Sonderlings zu Ohren gekommen war, besuchte ihn und
händigte ihm eine größere Summe ein, die er als Betriebskapital betrachten und, wenn
er es einmal zu einigem Wohlstand gebracht haben werde, zurückerstatten sollte.

Schier nahm das Geld mit Dank an und verwandte es noch an demselben
Tage zum Ankauf eines kompletten Exemplars von Bursians Jahresbericht über
die Fortschritte der klassischen Altertumswissenschaft.

Acht Tage darauf blieb eines Morgens das Lädchen geschlossen. Die Nach¬
barn, denen bekannt war, daß Seyler nie mehr in seine Wohnung hinaufging,
sondern Tag und Nacht in dem Gewölbe hauste, verständigten die Polizei. Man
erbrach die Ladentür und fand den Bücherfreund, in seinen alten Lodenmantel
gehüllt, tot an dem Tische sitzend, auf dessen Platte noch die Spuren 'eines gänz¬
lich herabgebrannten Lichts zu bemerken waren. Seine Hände umklammerten die
^.rs »NianÄi des Ovid, das Haupt war auf die Brust gesunken, aber auf dem
bleichen Antlitz mit den unter den Brillengläsern halb geschlossenen Augen lag ein
Schimmer stiller Seligkeit.

Der Arzt, der die Leiche untersuchte, stellte als Todesursache Entkräftung
infolge mangelhafter Ernährung fest. In der Ladenkasse jedoch entdeckte man noch
fünfundsiebzig Pfennig — und das ist das Allerwunderbarste an dieser Geschichte!




Maßgebliches und Unmaßgebliches

Reichsspiegel. (Der „Deutsche Tag" in Bromberg und die Polenpolitik.
Der Katholikentag in Würzburg. Der Kaiser in Hannover und in Westfalen. Die
Bewegung für Wahlrechtsänderung in Sachsen und in Preußen. Marokko. Die
Lage der amerikanischen Union.)

Von den vielen Kongressen, die in diesen Wochen auf deutschem Boden tagten,
wollen wir außer dem Sozialistenkongreß, von dem schon die Rede gewesen ist,
noch den „Deutschen Tag" in Bromberg am 17. August und den Katholikentag in
Würzburg hervorheben. Jener war ein erfreulicher Beweis davon, daß das
Deutschtum der Ostmarken sich auf sich selbst und seine nationalen Pflichten besinnt
und gewillt ist, mit der Regierung zusammenzuarbeiten, aber nicht alles von ihr
allein zu erwarten. Ob alle die in Bromberg angenommnen Resolutionen beifalls¬
würdig oder ausführbar sind, wollen wir hier nicht erörtern; die Hauptsache ist,
daß die Versammlung im ganzen mit der bisherigen Polenpolittk der Regierung
einverstanden ist und keine Umkehr wünscht, wie manche ernste Politiker empfehlen,
indem sie die völlige Erfolglosigkeit dieser Politik behaupten. Ob ein solches
Urteil auch gegenüber dem ausführlichen Bericht, den jüngst die Ansiedlungs-
kommission über ihre zwanzigjährige Tätigkeit (seit 1886) in Posen und in West¬
preußen erstattet hat, aufrechterhalten werden kann, ist doch sehr zweifelhaft.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/542>, abgerufen am 12.12.2024.