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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Der Antiquar

Lachen nicht mehr hörte und keinen Ärger über ihre ketzerischen Marginalien zum
unvergänglichen Texte der großen Dichter und Redner des Altertums mehr empfand,
als die Perle aller Frauen erschien. Sie war das Urbild des Lebens und der
gesunden Sinnlichkeit im Sinne Catulls, sie war eine plastische Illustration zu der
L.rs s-inkiM des Ovid, sie war für ihn die majestätische Hera, die schalkhaft¬
schmeichlerische Aphrodite und -- daran waren hauptsächlich die grünen Bohnen
schuld -- die Hestia der Griechen oder die Vesta der Römer in einer Person!

Was half es, daß sich Fräulein Rosalie, die ganz genau wußte, daß sie in
der jungen Witwe eine Rivalin losgeworden war, jetzt von ihrer vorteilhaftester
Seite zu zeigen suchte, daß sie ihre Verden durch alle Tempora herunterschnurrte
und aus freien Stücken in den gallischen Krieg des großen Julius Cäsar zog!
Sie war um doch einmal nicht Frau Minna! Wenn sie ausharrte, so tat sie es,
weil der Name Polykarp mit glühenden Lettern in ihr jungfräuliches Herz geschrieben
stand, während Frau Minna -- leider, leider! -- nur durch die geheimnisvolle
Kraft der Wundersalbe an das Lttdchen gefesselt worden war. Aber dem Manne,
der so lange wie Buridans Esel zwischen den beiden Heubündeln hin und her
geschwankt hatte, erschien jetzt plötzlich die wenn auch erzwungne Liebe der rund¬
lichen jungen Witwe tausendmal süßer und begehrenswerter als die freiwillige, immer
deutlicher erkennbare Zuneigung der magern Jungfrau.

Fräulein Rosalie konnte dies auf die Dauer nicht verborgen bleiben. Aus der
Tatsache, daß er ihre Übersetzungen deutscher Sätze ins Lateinische nur noch flüchtig
ansah und grobe Fehler ungerügt ließ, schloß die ehemalige Lehrerin auf ein Er¬
kalten seiner Gefühle. Und da er immer wieder die entschwundne Witwe erwähnte,
wurde ihr klar, daß mir die unfreiwillige Trennung von der Treulosen die uner¬
wünschte Wirkung auf sein Herz ausgeübt hatte. Was blieb Fräulein Rosalie also
anders übrig, als zu demselben Mittel ihre Zuflucht zu nehmen? Sie setzte sich
eines Tages hin und schrieb, so schwer es ihr auch wurde, an unsern Freund ein
nach einem unbestimmbaren Parfüm duftendes Briefchen, worin sie ihm mitteilte,
sie fühle sich in der letzten Zeit nicht ganz wohl und wolle ein paar Tage das
Bett hüten. Er möge entschuldigen, daß sie gezwungen sei, die lateinischen Stunden
für eine Weile zu unterbrechen.

Nun hätte es sich gehört, daß Herr Polykarp Seyler diese Botschaft mit
einigen Zeilen der Teilnahme beantwortet und sich von Zeit zu Zeit nach dem
Befinden der Patientin erkundigt hätte. Das tat er jedoch nicht, sei es aus Purer
Vergeßlichkeit, sei es, daß er dem Leiden Fräulein Rosaliens keine besondre Be¬
deutung beimaß. Er wartete ruhig auf ihre Wiederkehr, wartete, als sich diese
immer weiter hinauszog, sogar mit einer Art von Ungeduld, nicht gerade wie ein
Liebender auf die Geliebte, sondern wie ein Lehrer auf die Schülerin wartet, von
der er Pünktlichkeit gewohnt ist, und die nun plötzlich den ihr erteilten Urlaub
unberechtigterweise und ohne ein Wort der Entschuldigung über Gebühr ausdehnt.
Und währenddessen wartete sie auf einen Brief von ihm, wartete zuerst mit einer
Art von süßen Aufregung, dann mit nervöser Gereiztheit, endlich mit der ganzen
Bitterkeit eines in seinen heiligsten Gefühlen gekränkten Herzens. Sie begann an
ihre Krankheit selbst zu glauben und empfand es als eine unerhörte Rücksichts¬
losigkeit seinerseits, daß er sich nicht im geringsten um sie bekümmerte. Am liebsten
wäre sie gestorben, bloß um ihn dadurch von der Schwere ihres Leidens und der
Größe seiner Schuld zu überzeugen. Sie wollte ihm schreiben, ihm Vorwürfe
über Vorwürfe machen, aber da legte sich ihr Stolz ins Mittel, und sie beschloß,
schweigend zu leiden und ihren Schmerz und ihren Zorn mit in das kühle Grab
zu nehmen.


Grenzboten III 1907 69
Der Antiquar

Lachen nicht mehr hörte und keinen Ärger über ihre ketzerischen Marginalien zum
unvergänglichen Texte der großen Dichter und Redner des Altertums mehr empfand,
als die Perle aller Frauen erschien. Sie war das Urbild des Lebens und der
gesunden Sinnlichkeit im Sinne Catulls, sie war eine plastische Illustration zu der
L.rs s-inkiM des Ovid, sie war für ihn die majestätische Hera, die schalkhaft¬
schmeichlerische Aphrodite und — daran waren hauptsächlich die grünen Bohnen
schuld — die Hestia der Griechen oder die Vesta der Römer in einer Person!

Was half es, daß sich Fräulein Rosalie, die ganz genau wußte, daß sie in
der jungen Witwe eine Rivalin losgeworden war, jetzt von ihrer vorteilhaftester
Seite zu zeigen suchte, daß sie ihre Verden durch alle Tempora herunterschnurrte
und aus freien Stücken in den gallischen Krieg des großen Julius Cäsar zog!
Sie war um doch einmal nicht Frau Minna! Wenn sie ausharrte, so tat sie es,
weil der Name Polykarp mit glühenden Lettern in ihr jungfräuliches Herz geschrieben
stand, während Frau Minna — leider, leider! — nur durch die geheimnisvolle
Kraft der Wundersalbe an das Lttdchen gefesselt worden war. Aber dem Manne,
der so lange wie Buridans Esel zwischen den beiden Heubündeln hin und her
geschwankt hatte, erschien jetzt plötzlich die wenn auch erzwungne Liebe der rund¬
lichen jungen Witwe tausendmal süßer und begehrenswerter als die freiwillige, immer
deutlicher erkennbare Zuneigung der magern Jungfrau.

Fräulein Rosalie konnte dies auf die Dauer nicht verborgen bleiben. Aus der
Tatsache, daß er ihre Übersetzungen deutscher Sätze ins Lateinische nur noch flüchtig
ansah und grobe Fehler ungerügt ließ, schloß die ehemalige Lehrerin auf ein Er¬
kalten seiner Gefühle. Und da er immer wieder die entschwundne Witwe erwähnte,
wurde ihr klar, daß mir die unfreiwillige Trennung von der Treulosen die uner¬
wünschte Wirkung auf sein Herz ausgeübt hatte. Was blieb Fräulein Rosalie also
anders übrig, als zu demselben Mittel ihre Zuflucht zu nehmen? Sie setzte sich
eines Tages hin und schrieb, so schwer es ihr auch wurde, an unsern Freund ein
nach einem unbestimmbaren Parfüm duftendes Briefchen, worin sie ihm mitteilte,
sie fühle sich in der letzten Zeit nicht ganz wohl und wolle ein paar Tage das
Bett hüten. Er möge entschuldigen, daß sie gezwungen sei, die lateinischen Stunden
für eine Weile zu unterbrechen.

Nun hätte es sich gehört, daß Herr Polykarp Seyler diese Botschaft mit
einigen Zeilen der Teilnahme beantwortet und sich von Zeit zu Zeit nach dem
Befinden der Patientin erkundigt hätte. Das tat er jedoch nicht, sei es aus Purer
Vergeßlichkeit, sei es, daß er dem Leiden Fräulein Rosaliens keine besondre Be¬
deutung beimaß. Er wartete ruhig auf ihre Wiederkehr, wartete, als sich diese
immer weiter hinauszog, sogar mit einer Art von Ungeduld, nicht gerade wie ein
Liebender auf die Geliebte, sondern wie ein Lehrer auf die Schülerin wartet, von
der er Pünktlichkeit gewohnt ist, und die nun plötzlich den ihr erteilten Urlaub
unberechtigterweise und ohne ein Wort der Entschuldigung über Gebühr ausdehnt.
Und währenddessen wartete sie auf einen Brief von ihm, wartete zuerst mit einer
Art von süßen Aufregung, dann mit nervöser Gereiztheit, endlich mit der ganzen
Bitterkeit eines in seinen heiligsten Gefühlen gekränkten Herzens. Sie begann an
ihre Krankheit selbst zu glauben und empfand es als eine unerhörte Rücksichts¬
losigkeit seinerseits, daß er sich nicht im geringsten um sie bekümmerte. Am liebsten
wäre sie gestorben, bloß um ihn dadurch von der Schwere ihres Leidens und der
Größe seiner Schuld zu überzeugen. Sie wollte ihm schreiben, ihm Vorwürfe
über Vorwürfe machen, aber da legte sich ihr Stolz ins Mittel, und sie beschloß,
schweigend zu leiden und ihren Schmerz und ihren Zorn mit in das kühle Grab
zu nehmen.


Grenzboten III 1907 69
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[0537] Der Antiquar Lachen nicht mehr hörte und keinen Ärger über ihre ketzerischen Marginalien zum unvergänglichen Texte der großen Dichter und Redner des Altertums mehr empfand, als die Perle aller Frauen erschien. Sie war das Urbild des Lebens und der gesunden Sinnlichkeit im Sinne Catulls, sie war eine plastische Illustration zu der L.rs s-inkiM des Ovid, sie war für ihn die majestätische Hera, die schalkhaft¬ schmeichlerische Aphrodite und — daran waren hauptsächlich die grünen Bohnen schuld — die Hestia der Griechen oder die Vesta der Römer in einer Person! Was half es, daß sich Fräulein Rosalie, die ganz genau wußte, daß sie in der jungen Witwe eine Rivalin losgeworden war, jetzt von ihrer vorteilhaftester Seite zu zeigen suchte, daß sie ihre Verden durch alle Tempora herunterschnurrte und aus freien Stücken in den gallischen Krieg des großen Julius Cäsar zog! Sie war um doch einmal nicht Frau Minna! Wenn sie ausharrte, so tat sie es, weil der Name Polykarp mit glühenden Lettern in ihr jungfräuliches Herz geschrieben stand, während Frau Minna — leider, leider! — nur durch die geheimnisvolle Kraft der Wundersalbe an das Lttdchen gefesselt worden war. Aber dem Manne, der so lange wie Buridans Esel zwischen den beiden Heubündeln hin und her geschwankt hatte, erschien jetzt plötzlich die wenn auch erzwungne Liebe der rund¬ lichen jungen Witwe tausendmal süßer und begehrenswerter als die freiwillige, immer deutlicher erkennbare Zuneigung der magern Jungfrau. Fräulein Rosalie konnte dies auf die Dauer nicht verborgen bleiben. Aus der Tatsache, daß er ihre Übersetzungen deutscher Sätze ins Lateinische nur noch flüchtig ansah und grobe Fehler ungerügt ließ, schloß die ehemalige Lehrerin auf ein Er¬ kalten seiner Gefühle. Und da er immer wieder die entschwundne Witwe erwähnte, wurde ihr klar, daß mir die unfreiwillige Trennung von der Treulosen die uner¬ wünschte Wirkung auf sein Herz ausgeübt hatte. Was blieb Fräulein Rosalie also anders übrig, als zu demselben Mittel ihre Zuflucht zu nehmen? Sie setzte sich eines Tages hin und schrieb, so schwer es ihr auch wurde, an unsern Freund ein nach einem unbestimmbaren Parfüm duftendes Briefchen, worin sie ihm mitteilte, sie fühle sich in der letzten Zeit nicht ganz wohl und wolle ein paar Tage das Bett hüten. Er möge entschuldigen, daß sie gezwungen sei, die lateinischen Stunden für eine Weile zu unterbrechen. Nun hätte es sich gehört, daß Herr Polykarp Seyler diese Botschaft mit einigen Zeilen der Teilnahme beantwortet und sich von Zeit zu Zeit nach dem Befinden der Patientin erkundigt hätte. Das tat er jedoch nicht, sei es aus Purer Vergeßlichkeit, sei es, daß er dem Leiden Fräulein Rosaliens keine besondre Be¬ deutung beimaß. Er wartete ruhig auf ihre Wiederkehr, wartete, als sich diese immer weiter hinauszog, sogar mit einer Art von Ungeduld, nicht gerade wie ein Liebender auf die Geliebte, sondern wie ein Lehrer auf die Schülerin wartet, von der er Pünktlichkeit gewohnt ist, und die nun plötzlich den ihr erteilten Urlaub unberechtigterweise und ohne ein Wort der Entschuldigung über Gebühr ausdehnt. Und währenddessen wartete sie auf einen Brief von ihm, wartete zuerst mit einer Art von süßen Aufregung, dann mit nervöser Gereiztheit, endlich mit der ganzen Bitterkeit eines in seinen heiligsten Gefühlen gekränkten Herzens. Sie begann an ihre Krankheit selbst zu glauben und empfand es als eine unerhörte Rücksichts¬ losigkeit seinerseits, daß er sich nicht im geringsten um sie bekümmerte. Am liebsten wäre sie gestorben, bloß um ihn dadurch von der Schwere ihres Leidens und der Größe seiner Schuld zu überzeugen. Sie wollte ihm schreiben, ihm Vorwürfe über Vorwürfe machen, aber da legte sich ihr Stolz ins Mittel, und sie beschloß, schweigend zu leiden und ihren Schmerz und ihren Zorn mit in das kühle Grab zu nehmen. Grenzboten III 1907 69

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/537>, abgerufen am 01.09.2024.