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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Literarische Rundschau

Kleinodien von unvergänglicher Leuchtkraft emporhob. Dazu gelang ihm der
Vers zu schnell, ihm fehlte die Straffheit der Selbstbescheidung, und sogar in
jenen uns lieb gewordnen Versen: "O lieb, solang dn lieben kannst" empfinden
wir bereits den Hauch einer Vergänglichkeit, die zu überwinden die Konzentration
des Gedichts nicht stark genug ist. Aber wenn Freiligrath ohne jede Pose ans
einem, wie seine Geständnisse ergeben, von selbst erwachsnen Herzensdrang
heraus mitjubelt in dem Jubel seiner Tage und mitjammert uuter ihrem
Druck -- dann geht auch uns, die wir diesen Kämpfen nun lange entrückt sind,
das Herz auf. Wenn wir den großen Erfolg seines ersten Gedichtbandes versteh"
wollen, müssen wir uns schon umständlich in die Zeit seines Erscheinens ver¬
setzen. Um die Wirkung des "Glaubensbekenntnisses" oder des ()g. ira! nach¬
zufühlen, bedarf es dessen nicht. In diesen Versen bebt und lebt zu viel
Durchrungnes, von einer starken Seele ganz Durchempfundnes, und ihr Bestes
wird und soll noch auf lange hin nicht vergessen sein. Die neue Ausgabe
bringt in dem nun schon gewohnten Gewände alles, auch an Übersetzungen,
was von dem Dichter überhaupt dem Druck zugänglich war. Die Biographie
von Ludwig Schröder ist wohl aus verlagstechnischen Gründen nicht so aus-
führlich geworden, wie sie Schröder nach verschiednen eingestreuten Bemerkungen
gern gegeben hätte. Wir Hütten es ihm gedankt, ebenso wenn es möglich gewesen
wäre, die Anzahl der prächtigen Briefe des Dichters auch in dieser Ausgabe
uoch zu vermehren. Hoffentlich findet Freiligrath, dessen Persönlichkeit in ihrer
ganzen hellen Lebensfähigkeit, in ihrem mutvollen Idealismus klar hervor¬
tritt, von neuem viel Verbreitung.

Wenn Freiligrath und seine Zeitgenossen, auf welcher Seite sie auch standen,
den politischen Umschwung der Dinge aufs heißeste mitempfanden, so hat doch
kaum einer die große technische Umwälzung im zweiten Viertel des neunzehnten
Jahrhunderts nach ihrer vollen Bedeutung erfaßt. Auch wer nicht, wie Justinus
Kerner. grollend die Tür verschloß vor Dampf und Kohlenstaub, wußte doch
die eigentümliche Bedeutung, die eigentümliche Schönheit dieser Umwälzung
kaum zu fassen. Max Eyes, von dem ich im 22. Heft an dieser Stelle ge¬
schrieben habe, hat das oft beklagt und war selbst Poet genug, an seinem
Teil die Lücke auszufüllen. Und eine ihm verwandte Gestalt ist Max Maria
von Weber, dessen gesammelte Schriften seine Tochter, Frau Maria von
Wildenbruch, jetzt unter dem Titel "Aus der Welt der Arbeit" (bei G. Grote in
Berlin) neu herausgegeben hat. Auch Weber, der Sohn des großen Komponisten,
war Ingenieur, Eisenbahner; auch er empfand zugleich durchaus als Künstler
und wußte die Eindrücke, die Beruf und Leben ihm brachten, in einer Form
wiederzugeben, die sich der Dichtung zum mindesten nähert. In dem köstlichen,
nicht genug zu empfehlenden Buche, zu dem Ernst von Wildenbruch eine tief¬
ernste Einleitung und der verstorbne Max Jähns eine warme Biographie
geschrieben haben, finden sich prachtvolle Sachen. Techniker, denen wir viel ver¬
danken, ohne gemeinhin viel von ihnen zu wissen, werden in scharfer Profilierung


Literarische Rundschau

Kleinodien von unvergänglicher Leuchtkraft emporhob. Dazu gelang ihm der
Vers zu schnell, ihm fehlte die Straffheit der Selbstbescheidung, und sogar in
jenen uns lieb gewordnen Versen: „O lieb, solang dn lieben kannst" empfinden
wir bereits den Hauch einer Vergänglichkeit, die zu überwinden die Konzentration
des Gedichts nicht stark genug ist. Aber wenn Freiligrath ohne jede Pose ans
einem, wie seine Geständnisse ergeben, von selbst erwachsnen Herzensdrang
heraus mitjubelt in dem Jubel seiner Tage und mitjammert uuter ihrem
Druck — dann geht auch uns, die wir diesen Kämpfen nun lange entrückt sind,
das Herz auf. Wenn wir den großen Erfolg seines ersten Gedichtbandes versteh»
wollen, müssen wir uns schon umständlich in die Zeit seines Erscheinens ver¬
setzen. Um die Wirkung des „Glaubensbekenntnisses" oder des ()g. ira! nach¬
zufühlen, bedarf es dessen nicht. In diesen Versen bebt und lebt zu viel
Durchrungnes, von einer starken Seele ganz Durchempfundnes, und ihr Bestes
wird und soll noch auf lange hin nicht vergessen sein. Die neue Ausgabe
bringt in dem nun schon gewohnten Gewände alles, auch an Übersetzungen,
was von dem Dichter überhaupt dem Druck zugänglich war. Die Biographie
von Ludwig Schröder ist wohl aus verlagstechnischen Gründen nicht so aus-
führlich geworden, wie sie Schröder nach verschiednen eingestreuten Bemerkungen
gern gegeben hätte. Wir Hütten es ihm gedankt, ebenso wenn es möglich gewesen
wäre, die Anzahl der prächtigen Briefe des Dichters auch in dieser Ausgabe
uoch zu vermehren. Hoffentlich findet Freiligrath, dessen Persönlichkeit in ihrer
ganzen hellen Lebensfähigkeit, in ihrem mutvollen Idealismus klar hervor¬
tritt, von neuem viel Verbreitung.

Wenn Freiligrath und seine Zeitgenossen, auf welcher Seite sie auch standen,
den politischen Umschwung der Dinge aufs heißeste mitempfanden, so hat doch
kaum einer die große technische Umwälzung im zweiten Viertel des neunzehnten
Jahrhunderts nach ihrer vollen Bedeutung erfaßt. Auch wer nicht, wie Justinus
Kerner. grollend die Tür verschloß vor Dampf und Kohlenstaub, wußte doch
die eigentümliche Bedeutung, die eigentümliche Schönheit dieser Umwälzung
kaum zu fassen. Max Eyes, von dem ich im 22. Heft an dieser Stelle ge¬
schrieben habe, hat das oft beklagt und war selbst Poet genug, an seinem
Teil die Lücke auszufüllen. Und eine ihm verwandte Gestalt ist Max Maria
von Weber, dessen gesammelte Schriften seine Tochter, Frau Maria von
Wildenbruch, jetzt unter dem Titel „Aus der Welt der Arbeit" (bei G. Grote in
Berlin) neu herausgegeben hat. Auch Weber, der Sohn des großen Komponisten,
war Ingenieur, Eisenbahner; auch er empfand zugleich durchaus als Künstler
und wußte die Eindrücke, die Beruf und Leben ihm brachten, in einer Form
wiederzugeben, die sich der Dichtung zum mindesten nähert. In dem köstlichen,
nicht genug zu empfehlenden Buche, zu dem Ernst von Wildenbruch eine tief¬
ernste Einleitung und der verstorbne Max Jähns eine warme Biographie
geschrieben haben, finden sich prachtvolle Sachen. Techniker, denen wir viel ver¬
danken, ohne gemeinhin viel von ihnen zu wissen, werden in scharfer Profilierung


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[0524] Literarische Rundschau Kleinodien von unvergänglicher Leuchtkraft emporhob. Dazu gelang ihm der Vers zu schnell, ihm fehlte die Straffheit der Selbstbescheidung, und sogar in jenen uns lieb gewordnen Versen: „O lieb, solang dn lieben kannst" empfinden wir bereits den Hauch einer Vergänglichkeit, die zu überwinden die Konzentration des Gedichts nicht stark genug ist. Aber wenn Freiligrath ohne jede Pose ans einem, wie seine Geständnisse ergeben, von selbst erwachsnen Herzensdrang heraus mitjubelt in dem Jubel seiner Tage und mitjammert uuter ihrem Druck — dann geht auch uns, die wir diesen Kämpfen nun lange entrückt sind, das Herz auf. Wenn wir den großen Erfolg seines ersten Gedichtbandes versteh» wollen, müssen wir uns schon umständlich in die Zeit seines Erscheinens ver¬ setzen. Um die Wirkung des „Glaubensbekenntnisses" oder des ()g. ira! nach¬ zufühlen, bedarf es dessen nicht. In diesen Versen bebt und lebt zu viel Durchrungnes, von einer starken Seele ganz Durchempfundnes, und ihr Bestes wird und soll noch auf lange hin nicht vergessen sein. Die neue Ausgabe bringt in dem nun schon gewohnten Gewände alles, auch an Übersetzungen, was von dem Dichter überhaupt dem Druck zugänglich war. Die Biographie von Ludwig Schröder ist wohl aus verlagstechnischen Gründen nicht so aus- führlich geworden, wie sie Schröder nach verschiednen eingestreuten Bemerkungen gern gegeben hätte. Wir Hütten es ihm gedankt, ebenso wenn es möglich gewesen wäre, die Anzahl der prächtigen Briefe des Dichters auch in dieser Ausgabe uoch zu vermehren. Hoffentlich findet Freiligrath, dessen Persönlichkeit in ihrer ganzen hellen Lebensfähigkeit, in ihrem mutvollen Idealismus klar hervor¬ tritt, von neuem viel Verbreitung. Wenn Freiligrath und seine Zeitgenossen, auf welcher Seite sie auch standen, den politischen Umschwung der Dinge aufs heißeste mitempfanden, so hat doch kaum einer die große technische Umwälzung im zweiten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts nach ihrer vollen Bedeutung erfaßt. Auch wer nicht, wie Justinus Kerner. grollend die Tür verschloß vor Dampf und Kohlenstaub, wußte doch die eigentümliche Bedeutung, die eigentümliche Schönheit dieser Umwälzung kaum zu fassen. Max Eyes, von dem ich im 22. Heft an dieser Stelle ge¬ schrieben habe, hat das oft beklagt und war selbst Poet genug, an seinem Teil die Lücke auszufüllen. Und eine ihm verwandte Gestalt ist Max Maria von Weber, dessen gesammelte Schriften seine Tochter, Frau Maria von Wildenbruch, jetzt unter dem Titel „Aus der Welt der Arbeit" (bei G. Grote in Berlin) neu herausgegeben hat. Auch Weber, der Sohn des großen Komponisten, war Ingenieur, Eisenbahner; auch er empfand zugleich durchaus als Künstler und wußte die Eindrücke, die Beruf und Leben ihm brachten, in einer Form wiederzugeben, die sich der Dichtung zum mindesten nähert. In dem köstlichen, nicht genug zu empfehlenden Buche, zu dem Ernst von Wildenbruch eine tief¬ ernste Einleitung und der verstorbne Max Jähns eine warme Biographie geschrieben haben, finden sich prachtvolle Sachen. Techniker, denen wir viel ver¬ danken, ohne gemeinhin viel von ihnen zu wissen, werden in scharfer Profilierung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/524>, abgerufen am 01.09.2024.