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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Russische Briefe

Nach den Berichten damaliger Chronisten veränderte sich wohl das Leben in
der Provinz gegen früher zwischen 1762 bis 1767 von Grund aus, aber nicht
die Auffassung der clworjan^ über Standespflichten. Bis dahin in der Provinz
unbekannte gesellschaftliche Kräfte und Talente mit Ansprüchen, mit gewisser
Bildung und neumodischen Lebensgewohnheiten strömten auf das platte Land.
Da sie aber vom Regiment oder von der Zentralbehörde her an geselliges
Leben gewohnt waren, schlössen sie sich auch in Kreisen und Gouvernements
zusammen, und nach Verlauf von kaum zwei bis drei Jahren gab es
vorübergehend eine adliche Gesellschaft mit sie verbindenden geistigen, gesell¬
schaftlichen und teilweise auch wirtschaftlichen Interessen. In der schweren
Zeit von 1700 und 1767 schien sich der Dienstadel eines besondern ständischen
Wertes bewußt geworden zu sein und sich in einen geschlossenen Stand um¬
gewandelt zu haben. Doch wie die weitere Entwicklung zeigt, war diese Um¬
wandlung der alten äworM^ in eine ständische Organisation wirklich eine mir
scheinbare. Es war nicht das Bewußtsein übernommner Pflichten gegen sich
selbst, gegen die eigne und weitere Familie oder gegen den Stand, sondern
einfach eine jener rätselhaften Reaktionen des slawischen Charakters auf un¬
bequeme äußere Eindrücke. Wäre es anders gewesen, wäre in der äMor^n8t^vo
wirklich ständisches Selbstbewußtsein erstarkt, dann hätten wir in den sechziger
Jahren des achtzehnten Jahrhunderts neben einem Aufblühen der Landwirt¬
schaft auch die Bildung von Kreis- und Gouvernementscliquen, Brüderschaften
und Vereinigungen aller Art mit politischem Unterton sehen müssen. Der
unzufriedne, angeblich zur Gewalt strebende Adel hat tatsächlich keinen einzige,?
praktischen Schritt getan, um die Wurzel seiner Macht in den Grundbesitz zu
versenken und aus seiner wirtschaftlichen Tätigkeit zwischen Wäldern und
Sümpfen mit Hilfe der Bauern die Fundamente zu legen, die den Bau einer
oligarchischen Verfassung, wie sie Graf Pcmin anstrebte, hätten ertragen und
halten können. Der Adel strömte in die Provinz, um zu faulenzen, um ein
ihm neues geselliges und sorgloses Leben zu führen, nicht um sich der Bevor-
mundung des Staates für immer zu entziehen. An dieser Auffassung kann
auch das Auftreten solcher Männer nichts ändern, wie das des Fürsten
Schtscherbntow in Katharinas bekannten Kommissionen. Im Gegenteil, es
bestärkt unsre Auffassung, daß die eworjanstwo trotz ihrer Flucht auf das
Laud auch um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts nicht befähigt war,
ihre Autorität aus andern Quellen zu schöpfen, als aus der Gnade der
Herrscher oder konkret ausgedrückt aus dem Staatsdienst. Infolgedessen ist
auch Schtscherbatows Auffassung, als seien die Rangtabellen Peters des Großen
an dem niedrigen Niveau der ävoi-Mnstwo schuld, nicht gerechtfertigt.*) Gewiß,



Alle diese Aufdringlichen, schreibt Fürst Schtschcrbatow, zufällige Leute, die in den Adel
gelangten durch Ränke und Gaunerei, alle diese Zuckerbäcker, Hutmacher, Schneider haben in den
Adel die Niedertracht, die Gaunerei, die Gewinnsucht hineingetragen, mit der sie geboren und
aufgezogen wurden, und mit denen sie den alten Adel angesteckt haben. Zitat bei Körös a. a. O.
Russische Briefe

Nach den Berichten damaliger Chronisten veränderte sich wohl das Leben in
der Provinz gegen früher zwischen 1762 bis 1767 von Grund aus, aber nicht
die Auffassung der clworjan^ über Standespflichten. Bis dahin in der Provinz
unbekannte gesellschaftliche Kräfte und Talente mit Ansprüchen, mit gewisser
Bildung und neumodischen Lebensgewohnheiten strömten auf das platte Land.
Da sie aber vom Regiment oder von der Zentralbehörde her an geselliges
Leben gewohnt waren, schlössen sie sich auch in Kreisen und Gouvernements
zusammen, und nach Verlauf von kaum zwei bis drei Jahren gab es
vorübergehend eine adliche Gesellschaft mit sie verbindenden geistigen, gesell¬
schaftlichen und teilweise auch wirtschaftlichen Interessen. In der schweren
Zeit von 1700 und 1767 schien sich der Dienstadel eines besondern ständischen
Wertes bewußt geworden zu sein und sich in einen geschlossenen Stand um¬
gewandelt zu haben. Doch wie die weitere Entwicklung zeigt, war diese Um¬
wandlung der alten äworM^ in eine ständische Organisation wirklich eine mir
scheinbare. Es war nicht das Bewußtsein übernommner Pflichten gegen sich
selbst, gegen die eigne und weitere Familie oder gegen den Stand, sondern
einfach eine jener rätselhaften Reaktionen des slawischen Charakters auf un¬
bequeme äußere Eindrücke. Wäre es anders gewesen, wäre in der äMor^n8t^vo
wirklich ständisches Selbstbewußtsein erstarkt, dann hätten wir in den sechziger
Jahren des achtzehnten Jahrhunderts neben einem Aufblühen der Landwirt¬
schaft auch die Bildung von Kreis- und Gouvernementscliquen, Brüderschaften
und Vereinigungen aller Art mit politischem Unterton sehen müssen. Der
unzufriedne, angeblich zur Gewalt strebende Adel hat tatsächlich keinen einzige,?
praktischen Schritt getan, um die Wurzel seiner Macht in den Grundbesitz zu
versenken und aus seiner wirtschaftlichen Tätigkeit zwischen Wäldern und
Sümpfen mit Hilfe der Bauern die Fundamente zu legen, die den Bau einer
oligarchischen Verfassung, wie sie Graf Pcmin anstrebte, hätten ertragen und
halten können. Der Adel strömte in die Provinz, um zu faulenzen, um ein
ihm neues geselliges und sorgloses Leben zu führen, nicht um sich der Bevor-
mundung des Staates für immer zu entziehen. An dieser Auffassung kann
auch das Auftreten solcher Männer nichts ändern, wie das des Fürsten
Schtscherbntow in Katharinas bekannten Kommissionen. Im Gegenteil, es
bestärkt unsre Auffassung, daß die eworjanstwo trotz ihrer Flucht auf das
Laud auch um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts nicht befähigt war,
ihre Autorität aus andern Quellen zu schöpfen, als aus der Gnade der
Herrscher oder konkret ausgedrückt aus dem Staatsdienst. Infolgedessen ist
auch Schtscherbatows Auffassung, als seien die Rangtabellen Peters des Großen
an dem niedrigen Niveau der ävoi-Mnstwo schuld, nicht gerechtfertigt.*) Gewiß,



Alle diese Aufdringlichen, schreibt Fürst Schtschcrbatow, zufällige Leute, die in den Adel
gelangten durch Ränke und Gaunerei, alle diese Zuckerbäcker, Hutmacher, Schneider haben in den
Adel die Niedertracht, die Gaunerei, die Gewinnsucht hineingetragen, mit der sie geboren und
aufgezogen wurden, und mit denen sie den alten Adel angesteckt haben. Zitat bei Körös a. a. O.
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[0508] Russische Briefe Nach den Berichten damaliger Chronisten veränderte sich wohl das Leben in der Provinz gegen früher zwischen 1762 bis 1767 von Grund aus, aber nicht die Auffassung der clworjan^ über Standespflichten. Bis dahin in der Provinz unbekannte gesellschaftliche Kräfte und Talente mit Ansprüchen, mit gewisser Bildung und neumodischen Lebensgewohnheiten strömten auf das platte Land. Da sie aber vom Regiment oder von der Zentralbehörde her an geselliges Leben gewohnt waren, schlössen sie sich auch in Kreisen und Gouvernements zusammen, und nach Verlauf von kaum zwei bis drei Jahren gab es vorübergehend eine adliche Gesellschaft mit sie verbindenden geistigen, gesell¬ schaftlichen und teilweise auch wirtschaftlichen Interessen. In der schweren Zeit von 1700 und 1767 schien sich der Dienstadel eines besondern ständischen Wertes bewußt geworden zu sein und sich in einen geschlossenen Stand um¬ gewandelt zu haben. Doch wie die weitere Entwicklung zeigt, war diese Um¬ wandlung der alten äworM^ in eine ständische Organisation wirklich eine mir scheinbare. Es war nicht das Bewußtsein übernommner Pflichten gegen sich selbst, gegen die eigne und weitere Familie oder gegen den Stand, sondern einfach eine jener rätselhaften Reaktionen des slawischen Charakters auf un¬ bequeme äußere Eindrücke. Wäre es anders gewesen, wäre in der äMor^n8t^vo wirklich ständisches Selbstbewußtsein erstarkt, dann hätten wir in den sechziger Jahren des achtzehnten Jahrhunderts neben einem Aufblühen der Landwirt¬ schaft auch die Bildung von Kreis- und Gouvernementscliquen, Brüderschaften und Vereinigungen aller Art mit politischem Unterton sehen müssen. Der unzufriedne, angeblich zur Gewalt strebende Adel hat tatsächlich keinen einzige,? praktischen Schritt getan, um die Wurzel seiner Macht in den Grundbesitz zu versenken und aus seiner wirtschaftlichen Tätigkeit zwischen Wäldern und Sümpfen mit Hilfe der Bauern die Fundamente zu legen, die den Bau einer oligarchischen Verfassung, wie sie Graf Pcmin anstrebte, hätten ertragen und halten können. Der Adel strömte in die Provinz, um zu faulenzen, um ein ihm neues geselliges und sorgloses Leben zu führen, nicht um sich der Bevor- mundung des Staates für immer zu entziehen. An dieser Auffassung kann auch das Auftreten solcher Männer nichts ändern, wie das des Fürsten Schtscherbntow in Katharinas bekannten Kommissionen. Im Gegenteil, es bestärkt unsre Auffassung, daß die eworjanstwo trotz ihrer Flucht auf das Laud auch um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts nicht befähigt war, ihre Autorität aus andern Quellen zu schöpfen, als aus der Gnade der Herrscher oder konkret ausgedrückt aus dem Staatsdienst. Infolgedessen ist auch Schtscherbatows Auffassung, als seien die Rangtabellen Peters des Großen an dem niedrigen Niveau der ävoi-Mnstwo schuld, nicht gerechtfertigt.*) Gewiß, Alle diese Aufdringlichen, schreibt Fürst Schtschcrbatow, zufällige Leute, die in den Adel gelangten durch Ränke und Gaunerei, alle diese Zuckerbäcker, Hutmacher, Schneider haben in den Adel die Niedertracht, die Gaunerei, die Gewinnsucht hineingetragen, mit der sie geboren und aufgezogen wurden, und mit denen sie den alten Adel angesteckt haben. Zitat bei Körös a. a. O.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/508>, abgerufen am 28.07.2024.