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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Russische Briefe

Besser war das Leben in den Hauptstädten. Dort fand sich ein ver¬
hältnismäßig wohlhabendes und anziehendes Milieu, fanden sich mehr und ver¬
schiedenartigere Interessen, bessere Erziehung und Bildung sowie eine größere
Mannigfaltigkeit der Lebensweise. "Das war aber auch alles, meint Tschetschulin,
im übrigen war das Leben des Adels ebenso einfach und unkultiviert wie in
den kleinen Städten." Unter diesen Umständen war auch in der eben skizzierten
Periode eine Entwicklung ständischer Interessen kaum möglich. Solange sich
der Adel in den Hauptstädten und beim Militär im aufgezwungnen Dienst
befand, hatte jeder einzelne nur sein persönliches Fortkommen, seine Stellung
und das Avancement im Staatsdienst im Auge. Jedes Einzelnen Denken und
Fühlen war auf den Staatsdienst gerichtet, der ihm allein die Mittel zu einer
bessern Existenz und zur Befriedigung eines, wie wir sahen, äußerlichen Ehr¬
geizes bot. So wirkten, abgesehen von innern Gründen, auch alle äußern
Verhältnisse dcchiu, den Adel vom Lande in die Städte, in den Staatsdienst
zu treiben, er verlor auch durch die unwirtschaftliche Verwendung seiner Ein¬
künfte die geringe Bodenständigkeit, die er teils durch die Gnade des Gro߬
fürsten als deren Lehens- oder Dienstmann besessen hatte.

Dann kamen die Reformen Peters des Großen und mit ihnen neue An¬
sprüche des erstarkenden Staates. Der Dienst selbst wurde schwieriger. Das
Reich dehnte sich nach Westen hin aus. Mit den neuen Landesteilen kamen
Vertreter deutschen Adels an den Zarenhof. Die Zaren und Zarinnen selbst
waren keine Russen, sondern Germanen, in germanischen Anschauungen erzogen
und fühlten sich als erste Vertreter des Adels. Alle diese Neuerungen der
ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts mußten die clvorsimswo beun¬
ruhigen. In ihre Domäne, den Staatsdienst, brachen neue Elemente ein,
die besser dafür vorbereitet waren als sie selbst. Elisabeth, Peter der Dritte
und später Katharina die Zweite, befangen in ihren deutschen Anschauungen,
deuteten die in der änorjanstvo aufkommende Bewegung so, als wünsche sie
eine ähnliche Stellung im Lande einzunehmen, wie sie der Adel des Westens
iniie hatte. Es schien ihnen, als sei das bis dahin schlummernde Standes¬
bewußtsein erwacht. Auf dieser Auffassung beruhen die Reformen von 1762
bis 1795.

Peter der Dritte erließ am 17. Februar 1762 sein berühmtes Manifest
von den Freiheiten des Adels, das die a>orjg,ii8t>on> u. c>. von der Ver¬
pflichtung entband, dem Staate zu dienen. Mit welcher Verbitterung und
wie ungern der Adel den durch Peter den Großen reformierten Staatsdienst
trug, geht aus dem Umstände hervor, daß nach dem Manifest in kurzer Zeit
Tausende die Armee und die staatlichen Kanzleien verließen, um sich auf die
eiguen oder den Verwandten gehörenden Güter zu begeben. Doch damit
wurden nur negative Kräfte ausgelöst, der Beamtenadel wurde kein Gutsadel.



S. A. Korff, Der Zidek und seine ständische Leitung 1762 bis 18os. Se. Peters¬
burg, 1W6,
Russische Briefe

Besser war das Leben in den Hauptstädten. Dort fand sich ein ver¬
hältnismäßig wohlhabendes und anziehendes Milieu, fanden sich mehr und ver¬
schiedenartigere Interessen, bessere Erziehung und Bildung sowie eine größere
Mannigfaltigkeit der Lebensweise. „Das war aber auch alles, meint Tschetschulin,
im übrigen war das Leben des Adels ebenso einfach und unkultiviert wie in
den kleinen Städten." Unter diesen Umständen war auch in der eben skizzierten
Periode eine Entwicklung ständischer Interessen kaum möglich. Solange sich
der Adel in den Hauptstädten und beim Militär im aufgezwungnen Dienst
befand, hatte jeder einzelne nur sein persönliches Fortkommen, seine Stellung
und das Avancement im Staatsdienst im Auge. Jedes Einzelnen Denken und
Fühlen war auf den Staatsdienst gerichtet, der ihm allein die Mittel zu einer
bessern Existenz und zur Befriedigung eines, wie wir sahen, äußerlichen Ehr¬
geizes bot. So wirkten, abgesehen von innern Gründen, auch alle äußern
Verhältnisse dcchiu, den Adel vom Lande in die Städte, in den Staatsdienst
zu treiben, er verlor auch durch die unwirtschaftliche Verwendung seiner Ein¬
künfte die geringe Bodenständigkeit, die er teils durch die Gnade des Gro߬
fürsten als deren Lehens- oder Dienstmann besessen hatte.

Dann kamen die Reformen Peters des Großen und mit ihnen neue An¬
sprüche des erstarkenden Staates. Der Dienst selbst wurde schwieriger. Das
Reich dehnte sich nach Westen hin aus. Mit den neuen Landesteilen kamen
Vertreter deutschen Adels an den Zarenhof. Die Zaren und Zarinnen selbst
waren keine Russen, sondern Germanen, in germanischen Anschauungen erzogen
und fühlten sich als erste Vertreter des Adels. Alle diese Neuerungen der
ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts mußten die clvorsimswo beun¬
ruhigen. In ihre Domäne, den Staatsdienst, brachen neue Elemente ein,
die besser dafür vorbereitet waren als sie selbst. Elisabeth, Peter der Dritte
und später Katharina die Zweite, befangen in ihren deutschen Anschauungen,
deuteten die in der änorjanstvo aufkommende Bewegung so, als wünsche sie
eine ähnliche Stellung im Lande einzunehmen, wie sie der Adel des Westens
iniie hatte. Es schien ihnen, als sei das bis dahin schlummernde Standes¬
bewußtsein erwacht. Auf dieser Auffassung beruhen die Reformen von 1762
bis 1795.

Peter der Dritte erließ am 17. Februar 1762 sein berühmtes Manifest
von den Freiheiten des Adels, das die a>orjg,ii8t>on> u. c>. von der Ver¬
pflichtung entband, dem Staate zu dienen. Mit welcher Verbitterung und
wie ungern der Adel den durch Peter den Großen reformierten Staatsdienst
trug, geht aus dem Umstände hervor, daß nach dem Manifest in kurzer Zeit
Tausende die Armee und die staatlichen Kanzleien verließen, um sich auf die
eiguen oder den Verwandten gehörenden Güter zu begeben. Doch damit
wurden nur negative Kräfte ausgelöst, der Beamtenadel wurde kein Gutsadel.



S. A. Korff, Der Zidek und seine ständische Leitung 1762 bis 18os. Se. Peters¬
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[0507] Russische Briefe Besser war das Leben in den Hauptstädten. Dort fand sich ein ver¬ hältnismäßig wohlhabendes und anziehendes Milieu, fanden sich mehr und ver¬ schiedenartigere Interessen, bessere Erziehung und Bildung sowie eine größere Mannigfaltigkeit der Lebensweise. „Das war aber auch alles, meint Tschetschulin, im übrigen war das Leben des Adels ebenso einfach und unkultiviert wie in den kleinen Städten." Unter diesen Umständen war auch in der eben skizzierten Periode eine Entwicklung ständischer Interessen kaum möglich. Solange sich der Adel in den Hauptstädten und beim Militär im aufgezwungnen Dienst befand, hatte jeder einzelne nur sein persönliches Fortkommen, seine Stellung und das Avancement im Staatsdienst im Auge. Jedes Einzelnen Denken und Fühlen war auf den Staatsdienst gerichtet, der ihm allein die Mittel zu einer bessern Existenz und zur Befriedigung eines, wie wir sahen, äußerlichen Ehr¬ geizes bot. So wirkten, abgesehen von innern Gründen, auch alle äußern Verhältnisse dcchiu, den Adel vom Lande in die Städte, in den Staatsdienst zu treiben, er verlor auch durch die unwirtschaftliche Verwendung seiner Ein¬ künfte die geringe Bodenständigkeit, die er teils durch die Gnade des Gro߬ fürsten als deren Lehens- oder Dienstmann besessen hatte. Dann kamen die Reformen Peters des Großen und mit ihnen neue An¬ sprüche des erstarkenden Staates. Der Dienst selbst wurde schwieriger. Das Reich dehnte sich nach Westen hin aus. Mit den neuen Landesteilen kamen Vertreter deutschen Adels an den Zarenhof. Die Zaren und Zarinnen selbst waren keine Russen, sondern Germanen, in germanischen Anschauungen erzogen und fühlten sich als erste Vertreter des Adels. Alle diese Neuerungen der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts mußten die clvorsimswo beun¬ ruhigen. In ihre Domäne, den Staatsdienst, brachen neue Elemente ein, die besser dafür vorbereitet waren als sie selbst. Elisabeth, Peter der Dritte und später Katharina die Zweite, befangen in ihren deutschen Anschauungen, deuteten die in der änorjanstvo aufkommende Bewegung so, als wünsche sie eine ähnliche Stellung im Lande einzunehmen, wie sie der Adel des Westens iniie hatte. Es schien ihnen, als sei das bis dahin schlummernde Standes¬ bewußtsein erwacht. Auf dieser Auffassung beruhen die Reformen von 1762 bis 1795. Peter der Dritte erließ am 17. Februar 1762 sein berühmtes Manifest von den Freiheiten des Adels, das die a>orjg,ii8t>on> u. c>. von der Ver¬ pflichtung entband, dem Staate zu dienen. Mit welcher Verbitterung und wie ungern der Adel den durch Peter den Großen reformierten Staatsdienst trug, geht aus dem Umstände hervor, daß nach dem Manifest in kurzer Zeit Tausende die Armee und die staatlichen Kanzleien verließen, um sich auf die eiguen oder den Verwandten gehörenden Güter zu begeben. Doch damit wurden nur negative Kräfte ausgelöst, der Beamtenadel wurde kein Gutsadel. S. A. Korff, Der Zidek und seine ständische Leitung 1762 bis 18os. Se. Peters¬ burg, 1W6,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/507>, abgerufen am 12.12.2024.