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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Greifswald

Silhouette als Bild einer Küstenstadt immerhin plausibel sein. So, in Duft
und Dunst, ist man ja gewöhnt, sich die Anwohner der Wasserkanten vor¬
zustellen. Freilich, so ähnlich habe ich Greifswald auch manchesmal gesehen.
Manchmal im Nebel, manchmal im Höhenrauch, der mit braunem Gespinst
die Sonne verdunkelte und sich schwer über das Land legte.

Aber nicht dieses Bild hat sich mir in die Seele gegraben. Ein ganz
andres! Blaßblauer Himmel überm tiefblauen Bodden, hellblau hinten die
Wand von Rügen; hier und da und dort terrakottafarbige Segel; ein Streif
von lichtgrünem Buchenwald; und scharf, wie mit der Schere in den Himmel
geschnitten, die drei Türme. Zwischen ihnen die wellige Linie von alten
Baumkronen, rechts und links unermeßliches Land, in das sich die Chausseen
wie weißgraue Bänder aufrollen. Grünes Land, zumeist mit glänzenden
Rübenblättern bedeckt. Ewig ein leiser, bald an- bald abschwellender Wind:
jetzt bringt er die Kühle des Meeres, dann wieder ein paar üble Gerüche vom
Ryk, und nun gar den scharfen Dunst der Räuchereien.

So sehe ich Greifswald. Die echte, rechte Ostseestadt. Denn so allein
entfaltet, scheint mirs, die Ostsee ihre eigne und einzige Schönheit. Nicht,
wenn sie weiße Kämme schlägt, über denen mit weißeren Schwingen die Möwen
flattern. Nicht wenn sie graue Nebel ins Land schickt. Dann fordert sie den
Vergleich mit der Schwester zur Linken, der Nordsee, heraus -- und wird
klein in jeder Hinsicht. Sturm, Regen, Nebel an der Nordsee, das alles kann
Größe haben, hat sie oft; an der baltischen Küste ist das alles trostlos, nur
trostlos. Aber die Ostsee bei klarem Himmel und leuchtender Sonne! Wer
sie so einmal gesehen hat -- etwa auf Rügen, vom Nordpeerd bei Göhren
oder vom Königsstuhl bei Stubbenkammer: die unendliche, hellblaue Fläche,
spiegelglatt oder nur leicht, nur hier und da gekräuselt, und zu Füßen dieses
Blau mit einemmal in smaragdnes Grün gewandelt, einen schmalen Streif
nur, wo das Meer an die Felsen tritt, und zwischen Blau und Grün eine
märchenhafte Palette von vermittelnden Tinten: der hütet sich, sie je einem
andern Meere zu vergleichen. Denn so gewiß sie kleiner, unbedeutender, lang¬
weiliger sein kann als alle andern, so gewiß ist sie in solchen Stunden
größer, herrlicher, zauberhafter. So trage ich sie im Herzen und beklage
jeden, der sie so nicht kennt, sich sie so nicht eingeprägt hat. So lag sie an
einem wunderbaren Abend, da ich von Altefähr zum erstenmal die Silhouette
des alten Stralsund grüßte; so lag sie unzähligemale vor Greifswald. So
gab sie mir den Rahmen für Greifswald selber her. Nur in diesem Rahmen
von Himmelsblau und Meeresblau, Buchengrün und Feldergrün ist Greifs¬
wald mir auch rein äußerlich, rein als Bild eine schöne Erinnerung geblieben.
Vielleicht, in mancher Stunde dünkt minds so, die schönste, die ich habe; ganz
gewiß eine einzige: blauer Himmel, blauer Bodden, grüne Buchenhaine,
grüne Rübenfelder, und mitten drinnen das alte, liebe, kleine, rötlich-graue
Nest: Greifswald.

Nicht so sah ichs, als ichs zum erstenmal sah. Ein trostloser Tag.
Mitte Oktober. Mit dem unbändigen Eifer des Mulus traf ich gewissenhaft
zur ersten Immatrikulation des Wintersemesters ein. Hinter mir eine Reise
von achtzehn Stunden im Bummelzug, denn die Finanzlage erlaubte uns nur
die vierte Klasse. Von Kohlfurt bis Frankfurt an der Oder und von Frank¬
furt an der Oder wiederum bis Pasewalk bekam ich keinen Sitzplatz. Es half
meinen geräderten Gliedern wenig, daß ich in Frankfurt meiner grauen Fahr¬
karte zu Trotz in den Wartesaal zweiter Güte ging und der Aufräumerei


Greifswald

Silhouette als Bild einer Küstenstadt immerhin plausibel sein. So, in Duft
und Dunst, ist man ja gewöhnt, sich die Anwohner der Wasserkanten vor¬
zustellen. Freilich, so ähnlich habe ich Greifswald auch manchesmal gesehen.
Manchmal im Nebel, manchmal im Höhenrauch, der mit braunem Gespinst
die Sonne verdunkelte und sich schwer über das Land legte.

Aber nicht dieses Bild hat sich mir in die Seele gegraben. Ein ganz
andres! Blaßblauer Himmel überm tiefblauen Bodden, hellblau hinten die
Wand von Rügen; hier und da und dort terrakottafarbige Segel; ein Streif
von lichtgrünem Buchenwald; und scharf, wie mit der Schere in den Himmel
geschnitten, die drei Türme. Zwischen ihnen die wellige Linie von alten
Baumkronen, rechts und links unermeßliches Land, in das sich die Chausseen
wie weißgraue Bänder aufrollen. Grünes Land, zumeist mit glänzenden
Rübenblättern bedeckt. Ewig ein leiser, bald an- bald abschwellender Wind:
jetzt bringt er die Kühle des Meeres, dann wieder ein paar üble Gerüche vom
Ryk, und nun gar den scharfen Dunst der Räuchereien.

So sehe ich Greifswald. Die echte, rechte Ostseestadt. Denn so allein
entfaltet, scheint mirs, die Ostsee ihre eigne und einzige Schönheit. Nicht,
wenn sie weiße Kämme schlägt, über denen mit weißeren Schwingen die Möwen
flattern. Nicht wenn sie graue Nebel ins Land schickt. Dann fordert sie den
Vergleich mit der Schwester zur Linken, der Nordsee, heraus — und wird
klein in jeder Hinsicht. Sturm, Regen, Nebel an der Nordsee, das alles kann
Größe haben, hat sie oft; an der baltischen Küste ist das alles trostlos, nur
trostlos. Aber die Ostsee bei klarem Himmel und leuchtender Sonne! Wer
sie so einmal gesehen hat — etwa auf Rügen, vom Nordpeerd bei Göhren
oder vom Königsstuhl bei Stubbenkammer: die unendliche, hellblaue Fläche,
spiegelglatt oder nur leicht, nur hier und da gekräuselt, und zu Füßen dieses
Blau mit einemmal in smaragdnes Grün gewandelt, einen schmalen Streif
nur, wo das Meer an die Felsen tritt, und zwischen Blau und Grün eine
märchenhafte Palette von vermittelnden Tinten: der hütet sich, sie je einem
andern Meere zu vergleichen. Denn so gewiß sie kleiner, unbedeutender, lang¬
weiliger sein kann als alle andern, so gewiß ist sie in solchen Stunden
größer, herrlicher, zauberhafter. So trage ich sie im Herzen und beklage
jeden, der sie so nicht kennt, sich sie so nicht eingeprägt hat. So lag sie an
einem wunderbaren Abend, da ich von Altefähr zum erstenmal die Silhouette
des alten Stralsund grüßte; so lag sie unzähligemale vor Greifswald. So
gab sie mir den Rahmen für Greifswald selber her. Nur in diesem Rahmen
von Himmelsblau und Meeresblau, Buchengrün und Feldergrün ist Greifs¬
wald mir auch rein äußerlich, rein als Bild eine schöne Erinnerung geblieben.
Vielleicht, in mancher Stunde dünkt minds so, die schönste, die ich habe; ganz
gewiß eine einzige: blauer Himmel, blauer Bodden, grüne Buchenhaine,
grüne Rübenfelder, und mitten drinnen das alte, liebe, kleine, rötlich-graue
Nest: Greifswald.

Nicht so sah ichs, als ichs zum erstenmal sah. Ein trostloser Tag.
Mitte Oktober. Mit dem unbändigen Eifer des Mulus traf ich gewissenhaft
zur ersten Immatrikulation des Wintersemesters ein. Hinter mir eine Reise
von achtzehn Stunden im Bummelzug, denn die Finanzlage erlaubte uns nur
die vierte Klasse. Von Kohlfurt bis Frankfurt an der Oder und von Frank¬
furt an der Oder wiederum bis Pasewalk bekam ich keinen Sitzplatz. Es half
meinen geräderten Gliedern wenig, daß ich in Frankfurt meiner grauen Fahr¬
karte zu Trotz in den Wartesaal zweiter Güte ging und der Aufräumerei


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[0474] Greifswald Silhouette als Bild einer Küstenstadt immerhin plausibel sein. So, in Duft und Dunst, ist man ja gewöhnt, sich die Anwohner der Wasserkanten vor¬ zustellen. Freilich, so ähnlich habe ich Greifswald auch manchesmal gesehen. Manchmal im Nebel, manchmal im Höhenrauch, der mit braunem Gespinst die Sonne verdunkelte und sich schwer über das Land legte. Aber nicht dieses Bild hat sich mir in die Seele gegraben. Ein ganz andres! Blaßblauer Himmel überm tiefblauen Bodden, hellblau hinten die Wand von Rügen; hier und da und dort terrakottafarbige Segel; ein Streif von lichtgrünem Buchenwald; und scharf, wie mit der Schere in den Himmel geschnitten, die drei Türme. Zwischen ihnen die wellige Linie von alten Baumkronen, rechts und links unermeßliches Land, in das sich die Chausseen wie weißgraue Bänder aufrollen. Grünes Land, zumeist mit glänzenden Rübenblättern bedeckt. Ewig ein leiser, bald an- bald abschwellender Wind: jetzt bringt er die Kühle des Meeres, dann wieder ein paar üble Gerüche vom Ryk, und nun gar den scharfen Dunst der Räuchereien. So sehe ich Greifswald. Die echte, rechte Ostseestadt. Denn so allein entfaltet, scheint mirs, die Ostsee ihre eigne und einzige Schönheit. Nicht, wenn sie weiße Kämme schlägt, über denen mit weißeren Schwingen die Möwen flattern. Nicht wenn sie graue Nebel ins Land schickt. Dann fordert sie den Vergleich mit der Schwester zur Linken, der Nordsee, heraus — und wird klein in jeder Hinsicht. Sturm, Regen, Nebel an der Nordsee, das alles kann Größe haben, hat sie oft; an der baltischen Küste ist das alles trostlos, nur trostlos. Aber die Ostsee bei klarem Himmel und leuchtender Sonne! Wer sie so einmal gesehen hat — etwa auf Rügen, vom Nordpeerd bei Göhren oder vom Königsstuhl bei Stubbenkammer: die unendliche, hellblaue Fläche, spiegelglatt oder nur leicht, nur hier und da gekräuselt, und zu Füßen dieses Blau mit einemmal in smaragdnes Grün gewandelt, einen schmalen Streif nur, wo das Meer an die Felsen tritt, und zwischen Blau und Grün eine märchenhafte Palette von vermittelnden Tinten: der hütet sich, sie je einem andern Meere zu vergleichen. Denn so gewiß sie kleiner, unbedeutender, lang¬ weiliger sein kann als alle andern, so gewiß ist sie in solchen Stunden größer, herrlicher, zauberhafter. So trage ich sie im Herzen und beklage jeden, der sie so nicht kennt, sich sie so nicht eingeprägt hat. So lag sie an einem wunderbaren Abend, da ich von Altefähr zum erstenmal die Silhouette des alten Stralsund grüßte; so lag sie unzähligemale vor Greifswald. So gab sie mir den Rahmen für Greifswald selber her. Nur in diesem Rahmen von Himmelsblau und Meeresblau, Buchengrün und Feldergrün ist Greifs¬ wald mir auch rein äußerlich, rein als Bild eine schöne Erinnerung geblieben. Vielleicht, in mancher Stunde dünkt minds so, die schönste, die ich habe; ganz gewiß eine einzige: blauer Himmel, blauer Bodden, grüne Buchenhaine, grüne Rübenfelder, und mitten drinnen das alte, liebe, kleine, rötlich-graue Nest: Greifswald. Nicht so sah ichs, als ichs zum erstenmal sah. Ein trostloser Tag. Mitte Oktober. Mit dem unbändigen Eifer des Mulus traf ich gewissenhaft zur ersten Immatrikulation des Wintersemesters ein. Hinter mir eine Reise von achtzehn Stunden im Bummelzug, denn die Finanzlage erlaubte uns nur die vierte Klasse. Von Kohlfurt bis Frankfurt an der Oder und von Frank¬ furt an der Oder wiederum bis Pasewalk bekam ich keinen Sitzplatz. Es half meinen geräderten Gliedern wenig, daß ich in Frankfurt meiner grauen Fahr¬ karte zu Trotz in den Wartesaal zweiter Güte ging und der Aufräumerei

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/474>, abgerufen am 05.12.2024.