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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Ronfession und Wirtschaftsleben

In der neuesten Zeit hat Max Weber die der reformierten Kirche, des
Kalvinismus, entwickelt, Ernst Troeltsch die lutherische wenigstens kurz charak¬
terisiert. Was die katholische betrifft, so hat man sie natürlich bei Thomas
von Aquin zu suchen, den ja Leo der Dreizehnte aufs neue als den authen¬
tischen Darsteller der römischen Kirchenlehre empfohlen hat. Das herrschende
protestantische Vorurteil gegen die Scholastik hat Harnack für unbegründet
erklärt. Sie war wissenschaftliches Denken, schreibt er in seiner Dogmenge¬
schichte. Daß dieses Denken von Vorurteilen abhängig war und sich teils gar
nicht, teils nur sehr langsam von ihnen befreite, das sei ein Gebrechen, an dem
die Wissenschaft aller Zeiten kranke. Es sei auch nicht richtig, daß im Mittel¬
alter die deduktive Methode allein geherrscht habe; man habe vielfach die Er¬
fahrung herangezogen; nur habe man das Sinnliche weniger zu beobachten
verstanden als das Geistesleben und darum in den Naturwissenschaften keine
Fortschritte gemacht. "Somit ist die Scholastik einfach Wissenschaft gewesen,
und es wird lediglich ein ungerechtfertigtes Mißtrauen dadurch verewigt, daß
man diesen Teil aus der allgemeinen Geschichte der Wissenschaft mit einem
besondern Namen glaubt absondern zu dürfen." Das Vorurteil beginne ja zu
weichen. Man lese die Scholastiker wieder und finde, daß sie nicht so unver¬
nünftig sind, wie man sie sich vorgestellt hatte. Hier und da würden sie sogar
überschätzt, so von einem berühmten Juristen. Damit ist ohne Zweifel Jhering
gemeint, der in der zweiten Auflage seines Werkes: Der Zweck im Recht
(2. Anmerkung auf S. 161 des 2. Bandes) schreibt: "Kaplan Hohoff ... weist
mir durch Zitate aus Thomas von Aquin nach, daß dieser große Geist das
realistisch-praktische und gesellschaftliche Moment des Sittlichen ebenso wie das
historische bereits vollkommen richtig erkannt hatte. Den Vorwurf der Un¬
kenntnis, den er für mich daran knüpft, kann ich nicht von mir ablehnen, aber
mit ungleich schwereren Gewicht als mich trifft er die modernen Philosophen
und die protestantischen Theologen, die es versäumt haben, sich die großartigen
Gedanken dieses Mannes zunutze zu machen. Staunend frage ich mich, wie
war es möglich, daß solche Wahrheiten, nachdem sie einmal ausgesprochen
waren, bei unsrer protestantischen Wissenschaft so gänzlich in Vergessenheit ge¬
raten konnten? Welche Irrwege hätte sie sich ersparen können, wenn sie
dieselben beherzigt hätte! Ich meinerseits hätte vielleicht mein ganzes Buch
nicht geschrieben, wenn ich sie gekannt hätte, denn die Grundgedanken, um die
es mir zu tun war, finden sich schon bei jenem gewaltigen Denker in vollendeter
Klarheit und Prägnantester Fassung ausgesprochen."

Dieses Zitat wird den Grenzboten hoffentlich Absolution dafür erwirken,
daß sie sich einmal mit einen: Scholastiker abgeben. In der nachfolgenden
Skizze der volkswirtschaftlichen Ansichten des Aquinaten stütze ich mich auf die
vortreffliche Studie von Max Maurenbrecher: Thomas von Aquins Stellung
zum Wirtschaftsleben seiner Zeit (Leipzig, I. I. Weber, 1898), und ziehe noch
einen Katholiken zu Rate, Franz Walter: Das Eigentum nach der Lehre


Grenzboten III 1907 S8
Ronfession und Wirtschaftsleben

In der neuesten Zeit hat Max Weber die der reformierten Kirche, des
Kalvinismus, entwickelt, Ernst Troeltsch die lutherische wenigstens kurz charak¬
terisiert. Was die katholische betrifft, so hat man sie natürlich bei Thomas
von Aquin zu suchen, den ja Leo der Dreizehnte aufs neue als den authen¬
tischen Darsteller der römischen Kirchenlehre empfohlen hat. Das herrschende
protestantische Vorurteil gegen die Scholastik hat Harnack für unbegründet
erklärt. Sie war wissenschaftliches Denken, schreibt er in seiner Dogmenge¬
schichte. Daß dieses Denken von Vorurteilen abhängig war und sich teils gar
nicht, teils nur sehr langsam von ihnen befreite, das sei ein Gebrechen, an dem
die Wissenschaft aller Zeiten kranke. Es sei auch nicht richtig, daß im Mittel¬
alter die deduktive Methode allein geherrscht habe; man habe vielfach die Er¬
fahrung herangezogen; nur habe man das Sinnliche weniger zu beobachten
verstanden als das Geistesleben und darum in den Naturwissenschaften keine
Fortschritte gemacht. „Somit ist die Scholastik einfach Wissenschaft gewesen,
und es wird lediglich ein ungerechtfertigtes Mißtrauen dadurch verewigt, daß
man diesen Teil aus der allgemeinen Geschichte der Wissenschaft mit einem
besondern Namen glaubt absondern zu dürfen." Das Vorurteil beginne ja zu
weichen. Man lese die Scholastiker wieder und finde, daß sie nicht so unver¬
nünftig sind, wie man sie sich vorgestellt hatte. Hier und da würden sie sogar
überschätzt, so von einem berühmten Juristen. Damit ist ohne Zweifel Jhering
gemeint, der in der zweiten Auflage seines Werkes: Der Zweck im Recht
(2. Anmerkung auf S. 161 des 2. Bandes) schreibt: „Kaplan Hohoff ... weist
mir durch Zitate aus Thomas von Aquin nach, daß dieser große Geist das
realistisch-praktische und gesellschaftliche Moment des Sittlichen ebenso wie das
historische bereits vollkommen richtig erkannt hatte. Den Vorwurf der Un¬
kenntnis, den er für mich daran knüpft, kann ich nicht von mir ablehnen, aber
mit ungleich schwereren Gewicht als mich trifft er die modernen Philosophen
und die protestantischen Theologen, die es versäumt haben, sich die großartigen
Gedanken dieses Mannes zunutze zu machen. Staunend frage ich mich, wie
war es möglich, daß solche Wahrheiten, nachdem sie einmal ausgesprochen
waren, bei unsrer protestantischen Wissenschaft so gänzlich in Vergessenheit ge¬
raten konnten? Welche Irrwege hätte sie sich ersparen können, wenn sie
dieselben beherzigt hätte! Ich meinerseits hätte vielleicht mein ganzes Buch
nicht geschrieben, wenn ich sie gekannt hätte, denn die Grundgedanken, um die
es mir zu tun war, finden sich schon bei jenem gewaltigen Denker in vollendeter
Klarheit und Prägnantester Fassung ausgesprochen."

Dieses Zitat wird den Grenzboten hoffentlich Absolution dafür erwirken,
daß sie sich einmal mit einen: Scholastiker abgeben. In der nachfolgenden
Skizze der volkswirtschaftlichen Ansichten des Aquinaten stütze ich mich auf die
vortreffliche Studie von Max Maurenbrecher: Thomas von Aquins Stellung
zum Wirtschaftsleben seiner Zeit (Leipzig, I. I. Weber, 1898), und ziehe noch
einen Katholiken zu Rate, Franz Walter: Das Eigentum nach der Lehre


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[0449] Ronfession und Wirtschaftsleben In der neuesten Zeit hat Max Weber die der reformierten Kirche, des Kalvinismus, entwickelt, Ernst Troeltsch die lutherische wenigstens kurz charak¬ terisiert. Was die katholische betrifft, so hat man sie natürlich bei Thomas von Aquin zu suchen, den ja Leo der Dreizehnte aufs neue als den authen¬ tischen Darsteller der römischen Kirchenlehre empfohlen hat. Das herrschende protestantische Vorurteil gegen die Scholastik hat Harnack für unbegründet erklärt. Sie war wissenschaftliches Denken, schreibt er in seiner Dogmenge¬ schichte. Daß dieses Denken von Vorurteilen abhängig war und sich teils gar nicht, teils nur sehr langsam von ihnen befreite, das sei ein Gebrechen, an dem die Wissenschaft aller Zeiten kranke. Es sei auch nicht richtig, daß im Mittel¬ alter die deduktive Methode allein geherrscht habe; man habe vielfach die Er¬ fahrung herangezogen; nur habe man das Sinnliche weniger zu beobachten verstanden als das Geistesleben und darum in den Naturwissenschaften keine Fortschritte gemacht. „Somit ist die Scholastik einfach Wissenschaft gewesen, und es wird lediglich ein ungerechtfertigtes Mißtrauen dadurch verewigt, daß man diesen Teil aus der allgemeinen Geschichte der Wissenschaft mit einem besondern Namen glaubt absondern zu dürfen." Das Vorurteil beginne ja zu weichen. Man lese die Scholastiker wieder und finde, daß sie nicht so unver¬ nünftig sind, wie man sie sich vorgestellt hatte. Hier und da würden sie sogar überschätzt, so von einem berühmten Juristen. Damit ist ohne Zweifel Jhering gemeint, der in der zweiten Auflage seines Werkes: Der Zweck im Recht (2. Anmerkung auf S. 161 des 2. Bandes) schreibt: „Kaplan Hohoff ... weist mir durch Zitate aus Thomas von Aquin nach, daß dieser große Geist das realistisch-praktische und gesellschaftliche Moment des Sittlichen ebenso wie das historische bereits vollkommen richtig erkannt hatte. Den Vorwurf der Un¬ kenntnis, den er für mich daran knüpft, kann ich nicht von mir ablehnen, aber mit ungleich schwereren Gewicht als mich trifft er die modernen Philosophen und die protestantischen Theologen, die es versäumt haben, sich die großartigen Gedanken dieses Mannes zunutze zu machen. Staunend frage ich mich, wie war es möglich, daß solche Wahrheiten, nachdem sie einmal ausgesprochen waren, bei unsrer protestantischen Wissenschaft so gänzlich in Vergessenheit ge¬ raten konnten? Welche Irrwege hätte sie sich ersparen können, wenn sie dieselben beherzigt hätte! Ich meinerseits hätte vielleicht mein ganzes Buch nicht geschrieben, wenn ich sie gekannt hätte, denn die Grundgedanken, um die es mir zu tun war, finden sich schon bei jenem gewaltigen Denker in vollendeter Klarheit und Prägnantester Fassung ausgesprochen." Dieses Zitat wird den Grenzboten hoffentlich Absolution dafür erwirken, daß sie sich einmal mit einen: Scholastiker abgeben. In der nachfolgenden Skizze der volkswirtschaftlichen Ansichten des Aquinaten stütze ich mich auf die vortreffliche Studie von Max Maurenbrecher: Thomas von Aquins Stellung zum Wirtschaftsleben seiner Zeit (Leipzig, I. I. Weber, 1898), und ziehe noch einen Katholiken zu Rate, Franz Walter: Das Eigentum nach der Lehre Grenzboten III 1907 S8

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/449>, abgerufen am 12.12.2024.