Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Über Moskau heimwärts

wunderbare Fähigkeit zu entdecken, fremde Kunst zu adoptieren und gründlich
zu verderben.

In den ungeschlachten, schlecht gegliederten Profangebäuden des Großen
Kremlpalastes, des Findelhauses, des Großen Theaters, der städtischen Manege,
in den sonderbaren Denkmälern der großen Glocke und Kanone im Kremlhof
offenbart sich wieder ein andrer nicht sympathisch berührender Zug: die Gro߬
mannssucht, das Streben zu imponieren, die Neigung, aufs ganze zu gehn, ohne
Berücksichtigung der Ausführung im einzelnen, die Maßlosigkeit, mit der der
einzelne Nüsse wie die Gesamtheit des Volkes immer über das vernünftiger¬
weise zu steckende Ziel hinausschießt.

Das alles schließt nicht aus, daß Moskau eine der interessantesten Gro߬
städte ist und viel Sehenswertes bietet. Meine Aufgabe solls hier nicht mehr
sein, das alles systematisch aufzuzählen und zu beschreiben, gerade so wenig,
wie ich den Versuch gemacht habe, in den paar Tagen unsrer Anwesenheit
den Gefährten als Kundiger Moskau gründlich zeigen zu wollen.

Der Aufbau Moskaus auf dem linken Moskwaufer in mehreren Ringen
um den Kreml, das Vorhandensein dreier breiten Straßenzüge an der weißen
Mauer, im Zuge der Boulevards und der großen Ssadowaja(Garten)-Straße,
jenseits deren der Kranz der Vorstädte anschließt, die Anordnung radialer
Straßenzüge erleichtert die Orientierung, die an sich in einer eine so große
Fläche bedeckenden Millionenstadt nicht leicht sein würde. Von all den Straßen
weist die Twerskaja, die fast schnurgrade vom Kreml nach dem Petrowski-Park
führt, das meiste und bunteste Leben und Treiben zu jeder Tageszeit auf,
aber es ist überall reger Verkehr von Fußgängern und Wagen. Droschken sind
in den verschiedensten Formen vertreten und erreichen die höchste Vollendung
in den sogenannten Lichatschl. Das sind tadellos gehaltene Phaethons mit
weichen Federn und Gummireifen, bespannt mit Träbern guter Zucht, die der
wie ein herrschaftlicher Kutscher mit dick wattiertem dunkelblauem Schlafrock
und viereckiger Pelzmütze cmgetane Lenker mit verblüffender Sicherheit durch
das Getriebe steuert. Der Genuß, nach einem guten Diner mit einem Lichatsch
zum Kaffee nach Strjelna im Petrowski-Park zu fahren, ist wirklich mit einigen
Rubeln nicht zu teuer bezahlt.

Die Unsitte herrscht noch immer, daß man über den Fahrpreis mit dem
Kutscher verhandeln muß; oft ist man selber überrascht, wenn auf ein stark
gedrücktes Gegengebot der Nosselenker mit einem höflichen Pashäluitje (bitte)
zum Einsteigen einladet. Mit der nötigen Stirn führt man auf diese Weise
erstaunlich billig, Viertelstundenstrecken oft für dreißig Pfennige, und immer
flott. Die Droschke ist eine so wichtige und viel gebrauchte Erscheinung, daß
man in manchen Redewendungen zwischen Kutscher und Wagen zu unterscheiden
sich gar keine Mühe gibt, und der Deutschrusse in wörtlicher Übersetzung die
herrliche Wendung aus der russischen Sprache übernommen hat: "ich setze mich
auf einen Fuhrmann".


Über Moskau heimwärts

wunderbare Fähigkeit zu entdecken, fremde Kunst zu adoptieren und gründlich
zu verderben.

In den ungeschlachten, schlecht gegliederten Profangebäuden des Großen
Kremlpalastes, des Findelhauses, des Großen Theaters, der städtischen Manege,
in den sonderbaren Denkmälern der großen Glocke und Kanone im Kremlhof
offenbart sich wieder ein andrer nicht sympathisch berührender Zug: die Gro߬
mannssucht, das Streben zu imponieren, die Neigung, aufs ganze zu gehn, ohne
Berücksichtigung der Ausführung im einzelnen, die Maßlosigkeit, mit der der
einzelne Nüsse wie die Gesamtheit des Volkes immer über das vernünftiger¬
weise zu steckende Ziel hinausschießt.

Das alles schließt nicht aus, daß Moskau eine der interessantesten Gro߬
städte ist und viel Sehenswertes bietet. Meine Aufgabe solls hier nicht mehr
sein, das alles systematisch aufzuzählen und zu beschreiben, gerade so wenig,
wie ich den Versuch gemacht habe, in den paar Tagen unsrer Anwesenheit
den Gefährten als Kundiger Moskau gründlich zeigen zu wollen.

Der Aufbau Moskaus auf dem linken Moskwaufer in mehreren Ringen
um den Kreml, das Vorhandensein dreier breiten Straßenzüge an der weißen
Mauer, im Zuge der Boulevards und der großen Ssadowaja(Garten)-Straße,
jenseits deren der Kranz der Vorstädte anschließt, die Anordnung radialer
Straßenzüge erleichtert die Orientierung, die an sich in einer eine so große
Fläche bedeckenden Millionenstadt nicht leicht sein würde. Von all den Straßen
weist die Twerskaja, die fast schnurgrade vom Kreml nach dem Petrowski-Park
führt, das meiste und bunteste Leben und Treiben zu jeder Tageszeit auf,
aber es ist überall reger Verkehr von Fußgängern und Wagen. Droschken sind
in den verschiedensten Formen vertreten und erreichen die höchste Vollendung
in den sogenannten Lichatschl. Das sind tadellos gehaltene Phaethons mit
weichen Federn und Gummireifen, bespannt mit Träbern guter Zucht, die der
wie ein herrschaftlicher Kutscher mit dick wattiertem dunkelblauem Schlafrock
und viereckiger Pelzmütze cmgetane Lenker mit verblüffender Sicherheit durch
das Getriebe steuert. Der Genuß, nach einem guten Diner mit einem Lichatsch
zum Kaffee nach Strjelna im Petrowski-Park zu fahren, ist wirklich mit einigen
Rubeln nicht zu teuer bezahlt.

Die Unsitte herrscht noch immer, daß man über den Fahrpreis mit dem
Kutscher verhandeln muß; oft ist man selber überrascht, wenn auf ein stark
gedrücktes Gegengebot der Nosselenker mit einem höflichen Pashäluitje (bitte)
zum Einsteigen einladet. Mit der nötigen Stirn führt man auf diese Weise
erstaunlich billig, Viertelstundenstrecken oft für dreißig Pfennige, und immer
flott. Die Droschke ist eine so wichtige und viel gebrauchte Erscheinung, daß
man in manchen Redewendungen zwischen Kutscher und Wagen zu unterscheiden
sich gar keine Mühe gibt, und der Deutschrusse in wörtlicher Übersetzung die
herrliche Wendung aus der russischen Sprache übernommen hat: „ich setze mich
auf einen Fuhrmann".


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0420" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/303122"/>
          <fw type="header" place="top"> Über Moskau heimwärts</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2389" prev="#ID_2388"> wunderbare Fähigkeit zu entdecken, fremde Kunst zu adoptieren und gründlich<lb/>
zu verderben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2390"> In den ungeschlachten, schlecht gegliederten Profangebäuden des Großen<lb/>
Kremlpalastes, des Findelhauses, des Großen Theaters, der städtischen Manege,<lb/>
in den sonderbaren Denkmälern der großen Glocke und Kanone im Kremlhof<lb/>
offenbart sich wieder ein andrer nicht sympathisch berührender Zug: die Gro߬<lb/>
mannssucht, das Streben zu imponieren, die Neigung, aufs ganze zu gehn, ohne<lb/>
Berücksichtigung der Ausführung im einzelnen, die Maßlosigkeit, mit der der<lb/>
einzelne Nüsse wie die Gesamtheit des Volkes immer über das vernünftiger¬<lb/>
weise zu steckende Ziel hinausschießt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2391"> Das alles schließt nicht aus, daß Moskau eine der interessantesten Gro߬<lb/>
städte ist und viel Sehenswertes bietet. Meine Aufgabe solls hier nicht mehr<lb/>
sein, das alles systematisch aufzuzählen und zu beschreiben, gerade so wenig,<lb/>
wie ich den Versuch gemacht habe, in den paar Tagen unsrer Anwesenheit<lb/>
den Gefährten als Kundiger Moskau gründlich zeigen zu wollen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2392"> Der Aufbau Moskaus auf dem linken Moskwaufer in mehreren Ringen<lb/>
um den Kreml, das Vorhandensein dreier breiten Straßenzüge an der weißen<lb/>
Mauer, im Zuge der Boulevards und der großen Ssadowaja(Garten)-Straße,<lb/>
jenseits deren der Kranz der Vorstädte anschließt, die Anordnung radialer<lb/>
Straßenzüge erleichtert die Orientierung, die an sich in einer eine so große<lb/>
Fläche bedeckenden Millionenstadt nicht leicht sein würde. Von all den Straßen<lb/>
weist die Twerskaja, die fast schnurgrade vom Kreml nach dem Petrowski-Park<lb/>
führt, das meiste und bunteste Leben und Treiben zu jeder Tageszeit auf,<lb/>
aber es ist überall reger Verkehr von Fußgängern und Wagen. Droschken sind<lb/>
in den verschiedensten Formen vertreten und erreichen die höchste Vollendung<lb/>
in den sogenannten Lichatschl. Das sind tadellos gehaltene Phaethons mit<lb/>
weichen Federn und Gummireifen, bespannt mit Träbern guter Zucht, die der<lb/>
wie ein herrschaftlicher Kutscher mit dick wattiertem dunkelblauem Schlafrock<lb/>
und viereckiger Pelzmütze cmgetane Lenker mit verblüffender Sicherheit durch<lb/>
das Getriebe steuert. Der Genuß, nach einem guten Diner mit einem Lichatsch<lb/>
zum Kaffee nach Strjelna im Petrowski-Park zu fahren, ist wirklich mit einigen<lb/>
Rubeln nicht zu teuer bezahlt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2393"> Die Unsitte herrscht noch immer, daß man über den Fahrpreis mit dem<lb/>
Kutscher verhandeln muß; oft ist man selber überrascht, wenn auf ein stark<lb/>
gedrücktes Gegengebot der Nosselenker mit einem höflichen Pashäluitje (bitte)<lb/>
zum Einsteigen einladet. Mit der nötigen Stirn führt man auf diese Weise<lb/>
erstaunlich billig, Viertelstundenstrecken oft für dreißig Pfennige, und immer<lb/>
flott. Die Droschke ist eine so wichtige und viel gebrauchte Erscheinung, daß<lb/>
man in manchen Redewendungen zwischen Kutscher und Wagen zu unterscheiden<lb/>
sich gar keine Mühe gibt, und der Deutschrusse in wörtlicher Übersetzung die<lb/>
herrliche Wendung aus der russischen Sprache übernommen hat: &#x201E;ich setze mich<lb/>
auf einen Fuhrmann".</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0420] Über Moskau heimwärts wunderbare Fähigkeit zu entdecken, fremde Kunst zu adoptieren und gründlich zu verderben. In den ungeschlachten, schlecht gegliederten Profangebäuden des Großen Kremlpalastes, des Findelhauses, des Großen Theaters, der städtischen Manege, in den sonderbaren Denkmälern der großen Glocke und Kanone im Kremlhof offenbart sich wieder ein andrer nicht sympathisch berührender Zug: die Gro߬ mannssucht, das Streben zu imponieren, die Neigung, aufs ganze zu gehn, ohne Berücksichtigung der Ausführung im einzelnen, die Maßlosigkeit, mit der der einzelne Nüsse wie die Gesamtheit des Volkes immer über das vernünftiger¬ weise zu steckende Ziel hinausschießt. Das alles schließt nicht aus, daß Moskau eine der interessantesten Gro߬ städte ist und viel Sehenswertes bietet. Meine Aufgabe solls hier nicht mehr sein, das alles systematisch aufzuzählen und zu beschreiben, gerade so wenig, wie ich den Versuch gemacht habe, in den paar Tagen unsrer Anwesenheit den Gefährten als Kundiger Moskau gründlich zeigen zu wollen. Der Aufbau Moskaus auf dem linken Moskwaufer in mehreren Ringen um den Kreml, das Vorhandensein dreier breiten Straßenzüge an der weißen Mauer, im Zuge der Boulevards und der großen Ssadowaja(Garten)-Straße, jenseits deren der Kranz der Vorstädte anschließt, die Anordnung radialer Straßenzüge erleichtert die Orientierung, die an sich in einer eine so große Fläche bedeckenden Millionenstadt nicht leicht sein würde. Von all den Straßen weist die Twerskaja, die fast schnurgrade vom Kreml nach dem Petrowski-Park führt, das meiste und bunteste Leben und Treiben zu jeder Tageszeit auf, aber es ist überall reger Verkehr von Fußgängern und Wagen. Droschken sind in den verschiedensten Formen vertreten und erreichen die höchste Vollendung in den sogenannten Lichatschl. Das sind tadellos gehaltene Phaethons mit weichen Federn und Gummireifen, bespannt mit Träbern guter Zucht, die der wie ein herrschaftlicher Kutscher mit dick wattiertem dunkelblauem Schlafrock und viereckiger Pelzmütze cmgetane Lenker mit verblüffender Sicherheit durch das Getriebe steuert. Der Genuß, nach einem guten Diner mit einem Lichatsch zum Kaffee nach Strjelna im Petrowski-Park zu fahren, ist wirklich mit einigen Rubeln nicht zu teuer bezahlt. Die Unsitte herrscht noch immer, daß man über den Fahrpreis mit dem Kutscher verhandeln muß; oft ist man selber überrascht, wenn auf ein stark gedrücktes Gegengebot der Nosselenker mit einem höflichen Pashäluitje (bitte) zum Einsteigen einladet. Mit der nötigen Stirn führt man auf diese Weise erstaunlich billig, Viertelstundenstrecken oft für dreißig Pfennige, und immer flott. Die Droschke ist eine so wichtige und viel gebrauchte Erscheinung, daß man in manchen Redewendungen zwischen Kutscher und Wagen zu unterscheiden sich gar keine Mühe gibt, und der Deutschrusse in wörtlicher Übersetzung die herrliche Wendung aus der russischen Sprache übernommen hat: „ich setze mich auf einen Fuhrmann".

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/420
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/420>, abgerufen am 01.09.2024.