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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Über Moskau heimwärts

Hier fand Zugwechsel statt und begann ein ebenso ernstlicher wie im Grunde
ergötzlicher Kampf ums Dasein in den nächsten vierundzwanzig Stunden. Se.s
Findigkeit und im Brustton der Überzeugung die russische Sprache manchmal
grausam schlecht behandelnder Zungengeläufigkeit war es gelungen, ein für
unsre Nachtruhe sehr geeignetes Doppelabteil zu behaupten, bis Hilfe kam und
die Anzahl unsrer Stücke unsre auf sieben bis acht Personen hinaufgelogne
Stärke einigermaßen wahrscheinlich machte. Es galt noch manchen Sturm ab¬
zuschlagen, zum Beispiel einen aus der Mandschurei zurückkommenden Roten-
Kreuz-Doktor, der vermöge seines Äußern, seiner Formen und seiner Begleitung
ein höchst unlieber Reisegenosse geworden wäre. Na ja, wählerisch in der An¬
nahme der Ärzte für den Feldzug zu sein, den Luxus konnten sich Staat und
Hilfsgesellschaften eben nicht leisten. Bei Nacht hatten sich einige Mann vom
Zugpersonal auf unsern freien Plätzen breit gemacht, kamen aber bei dem
plötzlich erwachten Se. übel an. Rache ist süß -- sie straften uns durch Nicht¬
achtung, erhielten dafür aber auch nicht eine Kopeke Trinkgeld.

In dem lebendigen Treiben auf dem Bahnhof Ssysran, von dem aus
mehrere Strecken abzweigen, herrschten natürlich die aus dem Kriege zurück¬
kehrenden gesunden und verwundeten, auf Stöcke gestützten Krieger und die
nach dem Kriegsschauplatze reisenden neu equipierten Offiziere in packenden
Gegensatz dazu vor. Meist trugen sie zu den grauen Feldzugsuniformen die
hohe zottige Lammfellmütze, die zu den gutmütigen, etwas stumpfsinnigen
Russengesichtern so gar nicht recht passen will, aber jedenfalls ein zweck¬
mäßigeres, weil leicht zu verpackendes und gegen die Kälte schützendes Aus¬
rüstungsstück ist als etwa unser Helm. Zurückkehrende Soldaten versammelten
ein ihren Erzählungen andächtig lauschendes Publikum um sich und konnten
sogar ein paar japanische Gewehre als Trophäen aufweisen.

Nach einer erneuten Portion Schtschi gabs eine vorzügliche, nur in Persa
noch einmal unterbrochne Nachtruhe und eine angenehme Fahrt am folgenden
Tage. Sie führte durch die fruchtbaren Schwarzerdegouvernements Persa,
Tamboff, Rjäsan vorüber an Feldern mit tiefschwarzem, schon abgetautem
Boden, an Waldstücken und Wiesen, an Dörfern und vereinzelten Herrensitzen,
an Flüßchen und Bächen, bei Morschansk an einer Anzahl bunter Windmühlen
und an riesigen Getreideelevatoren, an begegnenden Kriegstransporten und
Friedenszügen. In Rjashsk mußte nach dreistündigem Aufenthalt ein erneuter
Kampf um die Unterkunft ausgefochten werden. Der aus Baku kommende Zug
führte nur die leidigen Durchgangswagen, und diese waren nach drei- oder
viertägiger Fahrt nicht eben schön. Man mußte froh sein, Lager im obern
Stockwerk zu bekommen und sich in der stickend heißen Luft wenigstens aus¬
strecken zu können. Eine kräftig entwickelte junge Jüdin machte sichs mir
gegenüber bequem und verlangte im Traume nach ihrem Ssascha, der sich
irgendwo anders ein Lager bereitet hatte. Was ich mehr bewundern soll, ihre
Unverfrorenheit oder die Nachlässigkeit, mit der sie im schleppenden Kleide die


Über Moskau heimwärts

Hier fand Zugwechsel statt und begann ein ebenso ernstlicher wie im Grunde
ergötzlicher Kampf ums Dasein in den nächsten vierundzwanzig Stunden. Se.s
Findigkeit und im Brustton der Überzeugung die russische Sprache manchmal
grausam schlecht behandelnder Zungengeläufigkeit war es gelungen, ein für
unsre Nachtruhe sehr geeignetes Doppelabteil zu behaupten, bis Hilfe kam und
die Anzahl unsrer Stücke unsre auf sieben bis acht Personen hinaufgelogne
Stärke einigermaßen wahrscheinlich machte. Es galt noch manchen Sturm ab¬
zuschlagen, zum Beispiel einen aus der Mandschurei zurückkommenden Roten-
Kreuz-Doktor, der vermöge seines Äußern, seiner Formen und seiner Begleitung
ein höchst unlieber Reisegenosse geworden wäre. Na ja, wählerisch in der An¬
nahme der Ärzte für den Feldzug zu sein, den Luxus konnten sich Staat und
Hilfsgesellschaften eben nicht leisten. Bei Nacht hatten sich einige Mann vom
Zugpersonal auf unsern freien Plätzen breit gemacht, kamen aber bei dem
plötzlich erwachten Se. übel an. Rache ist süß — sie straften uns durch Nicht¬
achtung, erhielten dafür aber auch nicht eine Kopeke Trinkgeld.

In dem lebendigen Treiben auf dem Bahnhof Ssysran, von dem aus
mehrere Strecken abzweigen, herrschten natürlich die aus dem Kriege zurück¬
kehrenden gesunden und verwundeten, auf Stöcke gestützten Krieger und die
nach dem Kriegsschauplatze reisenden neu equipierten Offiziere in packenden
Gegensatz dazu vor. Meist trugen sie zu den grauen Feldzugsuniformen die
hohe zottige Lammfellmütze, die zu den gutmütigen, etwas stumpfsinnigen
Russengesichtern so gar nicht recht passen will, aber jedenfalls ein zweck¬
mäßigeres, weil leicht zu verpackendes und gegen die Kälte schützendes Aus¬
rüstungsstück ist als etwa unser Helm. Zurückkehrende Soldaten versammelten
ein ihren Erzählungen andächtig lauschendes Publikum um sich und konnten
sogar ein paar japanische Gewehre als Trophäen aufweisen.

Nach einer erneuten Portion Schtschi gabs eine vorzügliche, nur in Persa
noch einmal unterbrochne Nachtruhe und eine angenehme Fahrt am folgenden
Tage. Sie führte durch die fruchtbaren Schwarzerdegouvernements Persa,
Tamboff, Rjäsan vorüber an Feldern mit tiefschwarzem, schon abgetautem
Boden, an Waldstücken und Wiesen, an Dörfern und vereinzelten Herrensitzen,
an Flüßchen und Bächen, bei Morschansk an einer Anzahl bunter Windmühlen
und an riesigen Getreideelevatoren, an begegnenden Kriegstransporten und
Friedenszügen. In Rjashsk mußte nach dreistündigem Aufenthalt ein erneuter
Kampf um die Unterkunft ausgefochten werden. Der aus Baku kommende Zug
führte nur die leidigen Durchgangswagen, und diese waren nach drei- oder
viertägiger Fahrt nicht eben schön. Man mußte froh sein, Lager im obern
Stockwerk zu bekommen und sich in der stickend heißen Luft wenigstens aus¬
strecken zu können. Eine kräftig entwickelte junge Jüdin machte sichs mir
gegenüber bequem und verlangte im Traume nach ihrem Ssascha, der sich
irgendwo anders ein Lager bereitet hatte. Was ich mehr bewundern soll, ihre
Unverfrorenheit oder die Nachlässigkeit, mit der sie im schleppenden Kleide die


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[0418] Über Moskau heimwärts Hier fand Zugwechsel statt und begann ein ebenso ernstlicher wie im Grunde ergötzlicher Kampf ums Dasein in den nächsten vierundzwanzig Stunden. Se.s Findigkeit und im Brustton der Überzeugung die russische Sprache manchmal grausam schlecht behandelnder Zungengeläufigkeit war es gelungen, ein für unsre Nachtruhe sehr geeignetes Doppelabteil zu behaupten, bis Hilfe kam und die Anzahl unsrer Stücke unsre auf sieben bis acht Personen hinaufgelogne Stärke einigermaßen wahrscheinlich machte. Es galt noch manchen Sturm ab¬ zuschlagen, zum Beispiel einen aus der Mandschurei zurückkommenden Roten- Kreuz-Doktor, der vermöge seines Äußern, seiner Formen und seiner Begleitung ein höchst unlieber Reisegenosse geworden wäre. Na ja, wählerisch in der An¬ nahme der Ärzte für den Feldzug zu sein, den Luxus konnten sich Staat und Hilfsgesellschaften eben nicht leisten. Bei Nacht hatten sich einige Mann vom Zugpersonal auf unsern freien Plätzen breit gemacht, kamen aber bei dem plötzlich erwachten Se. übel an. Rache ist süß — sie straften uns durch Nicht¬ achtung, erhielten dafür aber auch nicht eine Kopeke Trinkgeld. In dem lebendigen Treiben auf dem Bahnhof Ssysran, von dem aus mehrere Strecken abzweigen, herrschten natürlich die aus dem Kriege zurück¬ kehrenden gesunden und verwundeten, auf Stöcke gestützten Krieger und die nach dem Kriegsschauplatze reisenden neu equipierten Offiziere in packenden Gegensatz dazu vor. Meist trugen sie zu den grauen Feldzugsuniformen die hohe zottige Lammfellmütze, die zu den gutmütigen, etwas stumpfsinnigen Russengesichtern so gar nicht recht passen will, aber jedenfalls ein zweck¬ mäßigeres, weil leicht zu verpackendes und gegen die Kälte schützendes Aus¬ rüstungsstück ist als etwa unser Helm. Zurückkehrende Soldaten versammelten ein ihren Erzählungen andächtig lauschendes Publikum um sich und konnten sogar ein paar japanische Gewehre als Trophäen aufweisen. Nach einer erneuten Portion Schtschi gabs eine vorzügliche, nur in Persa noch einmal unterbrochne Nachtruhe und eine angenehme Fahrt am folgenden Tage. Sie führte durch die fruchtbaren Schwarzerdegouvernements Persa, Tamboff, Rjäsan vorüber an Feldern mit tiefschwarzem, schon abgetautem Boden, an Waldstücken und Wiesen, an Dörfern und vereinzelten Herrensitzen, an Flüßchen und Bächen, bei Morschansk an einer Anzahl bunter Windmühlen und an riesigen Getreideelevatoren, an begegnenden Kriegstransporten und Friedenszügen. In Rjashsk mußte nach dreistündigem Aufenthalt ein erneuter Kampf um die Unterkunft ausgefochten werden. Der aus Baku kommende Zug führte nur die leidigen Durchgangswagen, und diese waren nach drei- oder viertägiger Fahrt nicht eben schön. Man mußte froh sein, Lager im obern Stockwerk zu bekommen und sich in der stickend heißen Luft wenigstens aus¬ strecken zu können. Eine kräftig entwickelte junge Jüdin machte sichs mir gegenüber bequem und verlangte im Traume nach ihrem Ssascha, der sich irgendwo anders ein Lager bereitet hatte. Was ich mehr bewundern soll, ihre Unverfrorenheit oder die Nachlässigkeit, mit der sie im schleppenden Kleide die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/418>, abgerufen am 01.09.2024.