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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Über Moskau heimwärts

reisenden in dem Wagen muß anerkannt werden. Sie fühlten sich alle soli¬
darisch und hatten sich an die Luft im Wagen, an einige unberechtigte Mit¬
reisende ohne Fahrkarte und auch einen unzweifelhaften Spitzbuben gewöhnt,
der eine wertvolle goldne Uhr ohne Scheu zum Verkauf anbot. Ein geringer
Trost in dieser Hölle war der Gedanke, nur fünf Stunden bis zum Abend darin
verbringen zu müssen, und die Bekanntschaft eines jungen blondbärtigen Deutschen,
der, in Polen gebürtig, in einem Montanwerk im Ural beschäftigt, alle drei
in Betracht kommenden Sprachen gleich schlecht sprach und sich mit einem Freund
und Kollegen vor der ihm drohenden Einberufung als Landwehrmann durch
schleunigst genommenen Urlaub gerettet hatte.

Schon kurz hinter der Station Ssamara hielt der Zug. In jeden Wagen
vorn und hinten stieg ein bärtiger Landwehrmann, verscheuchte alles von der
Plattform in das Innere und bewachte uns mit aufgepflanzten Seitengewehr,
während der Zug die mit Posten außerdem besetzte Ssamarabrücke passierte.
So wurde die ganze Eisenbahn von Persa oder gar Rjüsan aus bis zum
Kriegsschauplatz gesichert; vielleicht wars des Guten ein bißchen viel, aber man
hat auf diese Weise den großartigen Kriegsbetrieb über Jahr und Tag ohne
nennenswerte Störung aufrecht erhalten und sogar auf der Transbaikalbahn,
dem Sorgenkinde des Verkehrsministers, bis auf vierzehn Züge täglich in jeder
Richtung steigern können. In Erwartung des technisch interessanten Bauwerks
der Wolgabrücke zwischen Obscharowka und Batraki haben wir die fünfstündige
Marter einigermaßen geduldig ertragen. Der Zug kletterte eine lange Damm¬
schüttung hinan und gestattete uns durch die Führung dieses Dammes in einer
Kurve die Stromniedernng und Brücke lange vorher zu sehen. Erst nachdem
am linksufrigen Brückenhaupt ein Offizier die Postenaufstellung in den Wagen
nachgesehen hatte, setzte sich der Zug langsam in Bewegung und schlich über
die zwölf hohen spindeldürr aussehenden Pfeiler und mehr als hundert Meter
langen Spannungen der Gitterträger des eingleisigen eisernen Oberbauch. Von
der schräg einfallenden Abendsonne auf die schneebedeckte Eisfläche des mächtigen
Stromes projiziert, zeichnete er dort sich und seine Bewegung deutlich sichtbar
ab. Weil gar so vorsichtig gefahren wurde, war man versucht, die Betriebs¬
sicherheit der Brücke in Zweifel zu ziehn, sie hat jedoch gehalten. Die wohl
auch gegen unlautere Elemente des eignen Landes gerichteten Sicherheits¬
maßregeln aber haben sich bezahlt gemacht, denn die Folgen einer einigermaßen
gelungner Zerstörung der Wolgabrücke wären tief einschneidend gewesen.

Das westliche Hochufer nahm sich in der Beleuchtung des klaren Abends
sehr malerisch aus, und die Hügellandschaft, durch die sich der Zug in mehreren
Windungen emporarbeitete, rechtfertigte ihren guten Ruf landschaftlicher Schön¬
heit. Nachdem er noch einmal einen Ausblick auf die Brücke gewährt und an
drei Stationen mit dem Namen Batraki angehalten hat, läuft der Zug endlich
bei schnell herniedersinkender Dämmerung und leuchtendem Abendrot in die
wichtige Station Ssysran ein.


Grenzboten III 1907 64
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reisenden in dem Wagen muß anerkannt werden. Sie fühlten sich alle soli¬
darisch und hatten sich an die Luft im Wagen, an einige unberechtigte Mit¬
reisende ohne Fahrkarte und auch einen unzweifelhaften Spitzbuben gewöhnt,
der eine wertvolle goldne Uhr ohne Scheu zum Verkauf anbot. Ein geringer
Trost in dieser Hölle war der Gedanke, nur fünf Stunden bis zum Abend darin
verbringen zu müssen, und die Bekanntschaft eines jungen blondbärtigen Deutschen,
der, in Polen gebürtig, in einem Montanwerk im Ural beschäftigt, alle drei
in Betracht kommenden Sprachen gleich schlecht sprach und sich mit einem Freund
und Kollegen vor der ihm drohenden Einberufung als Landwehrmann durch
schleunigst genommenen Urlaub gerettet hatte.

Schon kurz hinter der Station Ssamara hielt der Zug. In jeden Wagen
vorn und hinten stieg ein bärtiger Landwehrmann, verscheuchte alles von der
Plattform in das Innere und bewachte uns mit aufgepflanzten Seitengewehr,
während der Zug die mit Posten außerdem besetzte Ssamarabrücke passierte.
So wurde die ganze Eisenbahn von Persa oder gar Rjüsan aus bis zum
Kriegsschauplatz gesichert; vielleicht wars des Guten ein bißchen viel, aber man
hat auf diese Weise den großartigen Kriegsbetrieb über Jahr und Tag ohne
nennenswerte Störung aufrecht erhalten und sogar auf der Transbaikalbahn,
dem Sorgenkinde des Verkehrsministers, bis auf vierzehn Züge täglich in jeder
Richtung steigern können. In Erwartung des technisch interessanten Bauwerks
der Wolgabrücke zwischen Obscharowka und Batraki haben wir die fünfstündige
Marter einigermaßen geduldig ertragen. Der Zug kletterte eine lange Damm¬
schüttung hinan und gestattete uns durch die Führung dieses Dammes in einer
Kurve die Stromniedernng und Brücke lange vorher zu sehen. Erst nachdem
am linksufrigen Brückenhaupt ein Offizier die Postenaufstellung in den Wagen
nachgesehen hatte, setzte sich der Zug langsam in Bewegung und schlich über
die zwölf hohen spindeldürr aussehenden Pfeiler und mehr als hundert Meter
langen Spannungen der Gitterträger des eingleisigen eisernen Oberbauch. Von
der schräg einfallenden Abendsonne auf die schneebedeckte Eisfläche des mächtigen
Stromes projiziert, zeichnete er dort sich und seine Bewegung deutlich sichtbar
ab. Weil gar so vorsichtig gefahren wurde, war man versucht, die Betriebs¬
sicherheit der Brücke in Zweifel zu ziehn, sie hat jedoch gehalten. Die wohl
auch gegen unlautere Elemente des eignen Landes gerichteten Sicherheits¬
maßregeln aber haben sich bezahlt gemacht, denn die Folgen einer einigermaßen
gelungner Zerstörung der Wolgabrücke wären tief einschneidend gewesen.

Das westliche Hochufer nahm sich in der Beleuchtung des klaren Abends
sehr malerisch aus, und die Hügellandschaft, durch die sich der Zug in mehreren
Windungen emporarbeitete, rechtfertigte ihren guten Ruf landschaftlicher Schön¬
heit. Nachdem er noch einmal einen Ausblick auf die Brücke gewährt und an
drei Stationen mit dem Namen Batraki angehalten hat, läuft der Zug endlich
bei schnell herniedersinkender Dämmerung und leuchtendem Abendrot in die
wichtige Station Ssysran ein.


Grenzboten III 1907 64
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[0417] Über Moskau heimwärts reisenden in dem Wagen muß anerkannt werden. Sie fühlten sich alle soli¬ darisch und hatten sich an die Luft im Wagen, an einige unberechtigte Mit¬ reisende ohne Fahrkarte und auch einen unzweifelhaften Spitzbuben gewöhnt, der eine wertvolle goldne Uhr ohne Scheu zum Verkauf anbot. Ein geringer Trost in dieser Hölle war der Gedanke, nur fünf Stunden bis zum Abend darin verbringen zu müssen, und die Bekanntschaft eines jungen blondbärtigen Deutschen, der, in Polen gebürtig, in einem Montanwerk im Ural beschäftigt, alle drei in Betracht kommenden Sprachen gleich schlecht sprach und sich mit einem Freund und Kollegen vor der ihm drohenden Einberufung als Landwehrmann durch schleunigst genommenen Urlaub gerettet hatte. Schon kurz hinter der Station Ssamara hielt der Zug. In jeden Wagen vorn und hinten stieg ein bärtiger Landwehrmann, verscheuchte alles von der Plattform in das Innere und bewachte uns mit aufgepflanzten Seitengewehr, während der Zug die mit Posten außerdem besetzte Ssamarabrücke passierte. So wurde die ganze Eisenbahn von Persa oder gar Rjüsan aus bis zum Kriegsschauplatz gesichert; vielleicht wars des Guten ein bißchen viel, aber man hat auf diese Weise den großartigen Kriegsbetrieb über Jahr und Tag ohne nennenswerte Störung aufrecht erhalten und sogar auf der Transbaikalbahn, dem Sorgenkinde des Verkehrsministers, bis auf vierzehn Züge täglich in jeder Richtung steigern können. In Erwartung des technisch interessanten Bauwerks der Wolgabrücke zwischen Obscharowka und Batraki haben wir die fünfstündige Marter einigermaßen geduldig ertragen. Der Zug kletterte eine lange Damm¬ schüttung hinan und gestattete uns durch die Führung dieses Dammes in einer Kurve die Stromniedernng und Brücke lange vorher zu sehen. Erst nachdem am linksufrigen Brückenhaupt ein Offizier die Postenaufstellung in den Wagen nachgesehen hatte, setzte sich der Zug langsam in Bewegung und schlich über die zwölf hohen spindeldürr aussehenden Pfeiler und mehr als hundert Meter langen Spannungen der Gitterträger des eingleisigen eisernen Oberbauch. Von der schräg einfallenden Abendsonne auf die schneebedeckte Eisfläche des mächtigen Stromes projiziert, zeichnete er dort sich und seine Bewegung deutlich sichtbar ab. Weil gar so vorsichtig gefahren wurde, war man versucht, die Betriebs¬ sicherheit der Brücke in Zweifel zu ziehn, sie hat jedoch gehalten. Die wohl auch gegen unlautere Elemente des eignen Landes gerichteten Sicherheits¬ maßregeln aber haben sich bezahlt gemacht, denn die Folgen einer einigermaßen gelungner Zerstörung der Wolgabrücke wären tief einschneidend gewesen. Das westliche Hochufer nahm sich in der Beleuchtung des klaren Abends sehr malerisch aus, und die Hügellandschaft, durch die sich der Zug in mehreren Windungen emporarbeitete, rechtfertigte ihren guten Ruf landschaftlicher Schön¬ heit. Nachdem er noch einmal einen Ausblick auf die Brücke gewährt und an drei Stationen mit dem Namen Batraki angehalten hat, läuft der Zug endlich bei schnell herniedersinkender Dämmerung und leuchtendem Abendrot in die wichtige Station Ssysran ein. Grenzboten III 1907 64

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/417>, abgerufen am 01.09.2024.