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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Über Moskau heimwärts

für Bauholz, das auf der Wolga und Kama herabkommt und in die wald¬
armen Gegenden des Südostens bestimmt ist. Auch Ssamara ist die übliche
russische Provinzialstadt, deren breite Straßen nicht immer einwandfrei, im
Frühjahr schmutzig, im Sommer staubig und im Winter am besten, nämlich
mit Schlitten zu befahren sind. Wir zogen indessen diesmal einen Spaziergang
in der frischen Morgenluft vor und stellten an verschiednen großen und kleinen
Häusern deutsche Firmenschilder fest, die darauf hinwiesen, daß in der Wolga¬
gegend viele deutsche Kolonisten angesiedelt sind, deren blühende Anwesen ihre
Besitzer als kaufkräftige Leute erkennen lassen.

Auf dem Bahnhof lagen in der Zeit unsrer unfreiwilligen Muße infolge
vierstündiger Zugverspätung Truppenzüge mit der Telegraphenkompagnie der
neunten Sappeure und mit neunter Artillerie. So lernten wir die Tepluschken,
das heißt die zu den Wintertransporten nach der Mandschurei bestimmten, mit
Heizeinrichtungen versehenen, mit Filz ausgeschlagnen Güterwagen kennen, in
denen der russische Krieger drei Wochen zubringen mußte., Sie waren ja nicht
gerade schön, aber gewährten doch einigermaßen Schutz gegen Wind und Kälte
und stellten die mit Filzstiefeln und Halbpelz ausgerüsteten Soldaten an¬
scheinend zufrieden. Ihren völlig gleichgültigen Gesichtern war weder kriegerische
Begeisterung noch Schwermut, weder Freude noch Verdruß noch Langeweile
anzusehen. Auch die Offiziere machten einen ruhigen, gehaltenen Eindruck --
von Hurrapatriotismus keine Spur, ganz im Gegensatz zu einem rmlss
Zloriosus, einem unverschämten Schlingel von Praporschtschik der Reserve
(eigentlich Fähnrich, unserm Vizefeldwebel der Reserve entsprechend) oder Offizier¬
stellvertreter, der mit dem Arm in der Binde laut renommierte, viel bean¬
spruchte und auf sein Heldentum pochend wenig oder gar nichts zahlen wollte.
Bevölkerung und Reisepublikum nahm von den ausreisenden Truppenteilen
nicht die geringste Notiz ; gewiß mochten die nunmehr über Jahresfrist währenden
Transporte jedermann dagegen abgestumpft haben, Hauptgrund war doch wohl
die gegen den Krieg gerichtete Stimmung im Volke, die die Zeitungen nach
Möglichkeit in ungünstigem Sinne beeinflußt hatten, und die aus jeder Unter¬
haltung herauszuhören war.

Als der sibirische Zug einlief, verfingen zum erstenmal unsre guten Em¬
pfehlungen und die höchsten Trinkgeldangebote nicht mehr. Wir hatten uns
in die Aufgaben der Erkundung, Plützebelegung, Gepäckbewachung und des
Gepäcktransports geteilt, aber alle Wagen waren besetzt, alle schmutzig, muffig,
widerlich. Alle Einrichtungen waren in ekelerregender Weise verdorben, alle
Fahrgäste von der langen Fahrt um alles gesellschaftsfähige Aussehen gebracht.
Schließlich mußten wir froh sein, in einem Abteil bei einem Verrückten und
einem Schwindsüchtigen, in einem andern bei einem rekonvaleszenten Offizier
drei Plätze und in einem Durchgaugswagen zwei bescheidne Eckchen von dem
einigen Damen zukommenden Platzanteil zu erhalten und unsre Siebensachen
auf den obern Polstern verstauen zu können. Die Hilfsbereitschaft der Mit-


Über Moskau heimwärts

für Bauholz, das auf der Wolga und Kama herabkommt und in die wald¬
armen Gegenden des Südostens bestimmt ist. Auch Ssamara ist die übliche
russische Provinzialstadt, deren breite Straßen nicht immer einwandfrei, im
Frühjahr schmutzig, im Sommer staubig und im Winter am besten, nämlich
mit Schlitten zu befahren sind. Wir zogen indessen diesmal einen Spaziergang
in der frischen Morgenluft vor und stellten an verschiednen großen und kleinen
Häusern deutsche Firmenschilder fest, die darauf hinwiesen, daß in der Wolga¬
gegend viele deutsche Kolonisten angesiedelt sind, deren blühende Anwesen ihre
Besitzer als kaufkräftige Leute erkennen lassen.

Auf dem Bahnhof lagen in der Zeit unsrer unfreiwilligen Muße infolge
vierstündiger Zugverspätung Truppenzüge mit der Telegraphenkompagnie der
neunten Sappeure und mit neunter Artillerie. So lernten wir die Tepluschken,
das heißt die zu den Wintertransporten nach der Mandschurei bestimmten, mit
Heizeinrichtungen versehenen, mit Filz ausgeschlagnen Güterwagen kennen, in
denen der russische Krieger drei Wochen zubringen mußte., Sie waren ja nicht
gerade schön, aber gewährten doch einigermaßen Schutz gegen Wind und Kälte
und stellten die mit Filzstiefeln und Halbpelz ausgerüsteten Soldaten an¬
scheinend zufrieden. Ihren völlig gleichgültigen Gesichtern war weder kriegerische
Begeisterung noch Schwermut, weder Freude noch Verdruß noch Langeweile
anzusehen. Auch die Offiziere machten einen ruhigen, gehaltenen Eindruck —
von Hurrapatriotismus keine Spur, ganz im Gegensatz zu einem rmlss
Zloriosus, einem unverschämten Schlingel von Praporschtschik der Reserve
(eigentlich Fähnrich, unserm Vizefeldwebel der Reserve entsprechend) oder Offizier¬
stellvertreter, der mit dem Arm in der Binde laut renommierte, viel bean¬
spruchte und auf sein Heldentum pochend wenig oder gar nichts zahlen wollte.
Bevölkerung und Reisepublikum nahm von den ausreisenden Truppenteilen
nicht die geringste Notiz ; gewiß mochten die nunmehr über Jahresfrist währenden
Transporte jedermann dagegen abgestumpft haben, Hauptgrund war doch wohl
die gegen den Krieg gerichtete Stimmung im Volke, die die Zeitungen nach
Möglichkeit in ungünstigem Sinne beeinflußt hatten, und die aus jeder Unter¬
haltung herauszuhören war.

Als der sibirische Zug einlief, verfingen zum erstenmal unsre guten Em¬
pfehlungen und die höchsten Trinkgeldangebote nicht mehr. Wir hatten uns
in die Aufgaben der Erkundung, Plützebelegung, Gepäckbewachung und des
Gepäcktransports geteilt, aber alle Wagen waren besetzt, alle schmutzig, muffig,
widerlich. Alle Einrichtungen waren in ekelerregender Weise verdorben, alle
Fahrgäste von der langen Fahrt um alles gesellschaftsfähige Aussehen gebracht.
Schließlich mußten wir froh sein, in einem Abteil bei einem Verrückten und
einem Schwindsüchtigen, in einem andern bei einem rekonvaleszenten Offizier
drei Plätze und in einem Durchgaugswagen zwei bescheidne Eckchen von dem
einigen Damen zukommenden Platzanteil zu erhalten und unsre Siebensachen
auf den obern Polstern verstauen zu können. Die Hilfsbereitschaft der Mit-


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[0416] Über Moskau heimwärts für Bauholz, das auf der Wolga und Kama herabkommt und in die wald¬ armen Gegenden des Südostens bestimmt ist. Auch Ssamara ist die übliche russische Provinzialstadt, deren breite Straßen nicht immer einwandfrei, im Frühjahr schmutzig, im Sommer staubig und im Winter am besten, nämlich mit Schlitten zu befahren sind. Wir zogen indessen diesmal einen Spaziergang in der frischen Morgenluft vor und stellten an verschiednen großen und kleinen Häusern deutsche Firmenschilder fest, die darauf hinwiesen, daß in der Wolga¬ gegend viele deutsche Kolonisten angesiedelt sind, deren blühende Anwesen ihre Besitzer als kaufkräftige Leute erkennen lassen. Auf dem Bahnhof lagen in der Zeit unsrer unfreiwilligen Muße infolge vierstündiger Zugverspätung Truppenzüge mit der Telegraphenkompagnie der neunten Sappeure und mit neunter Artillerie. So lernten wir die Tepluschken, das heißt die zu den Wintertransporten nach der Mandschurei bestimmten, mit Heizeinrichtungen versehenen, mit Filz ausgeschlagnen Güterwagen kennen, in denen der russische Krieger drei Wochen zubringen mußte., Sie waren ja nicht gerade schön, aber gewährten doch einigermaßen Schutz gegen Wind und Kälte und stellten die mit Filzstiefeln und Halbpelz ausgerüsteten Soldaten an¬ scheinend zufrieden. Ihren völlig gleichgültigen Gesichtern war weder kriegerische Begeisterung noch Schwermut, weder Freude noch Verdruß noch Langeweile anzusehen. Auch die Offiziere machten einen ruhigen, gehaltenen Eindruck — von Hurrapatriotismus keine Spur, ganz im Gegensatz zu einem rmlss Zloriosus, einem unverschämten Schlingel von Praporschtschik der Reserve (eigentlich Fähnrich, unserm Vizefeldwebel der Reserve entsprechend) oder Offizier¬ stellvertreter, der mit dem Arm in der Binde laut renommierte, viel bean¬ spruchte und auf sein Heldentum pochend wenig oder gar nichts zahlen wollte. Bevölkerung und Reisepublikum nahm von den ausreisenden Truppenteilen nicht die geringste Notiz ; gewiß mochten die nunmehr über Jahresfrist währenden Transporte jedermann dagegen abgestumpft haben, Hauptgrund war doch wohl die gegen den Krieg gerichtete Stimmung im Volke, die die Zeitungen nach Möglichkeit in ungünstigem Sinne beeinflußt hatten, und die aus jeder Unter¬ haltung herauszuhören war. Als der sibirische Zug einlief, verfingen zum erstenmal unsre guten Em¬ pfehlungen und die höchsten Trinkgeldangebote nicht mehr. Wir hatten uns in die Aufgaben der Erkundung, Plützebelegung, Gepäckbewachung und des Gepäcktransports geteilt, aber alle Wagen waren besetzt, alle schmutzig, muffig, widerlich. Alle Einrichtungen waren in ekelerregender Weise verdorben, alle Fahrgäste von der langen Fahrt um alles gesellschaftsfähige Aussehen gebracht. Schließlich mußten wir froh sein, in einem Abteil bei einem Verrückten und einem Schwindsüchtigen, in einem andern bei einem rekonvaleszenten Offizier drei Plätze und in einem Durchgaugswagen zwei bescheidne Eckchen von dem einigen Damen zukommenden Platzanteil zu erhalten und unsre Siebensachen auf den obern Polstern verstauen zu können. Die Hilfsbereitschaft der Mit-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/416>, abgerufen am 06.10.2024.