Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Betrachtungen über innere Politik

Als im Jahre 1902 in Düsseldorf die glänzende Industrieausstellung
Zeugnis ablegte von den Leistungen des rheinisch-westfälischen Jndustriebezirks,
da war auf einer Ehrentafel in Erz eingegraben, welcher große Anteil der
Gesamtbevölkerung in diesem Bezirke lebt und mit welchem hohen Betrage die
Bewohner dieses Bezirks an dem Gesamtertrage der preußischen Steuern beteiligt
sind. Nur eine Zahl fehlte, nämlich eine Angabe darüber, wie viele ihrer Söhne
die andern Provinzen an diesen Bezirk abgegeben haben, die nun hier die Maschinen
in Bewegung setzen, die ohne diese Arbeitskräfte still stehn müßten. Wenn es
wesentlich auf der angestrengten Arbeit der Industrie beruht, daß wir reicher ge¬
worden sind, so darf doch niemals vergessen werden, daß Blut edler ist als Gold,
daß diese Erfolge erreicht wurden auf Kosten andrer Erwerbsstände und auf Kosten
der Gebiete, von denen aus unser Staatswesen geworden ist, und daß eine
Verödung dieser Gebiete, die ihr Bestes hergeben an den Westen und an die
großen Städte, unbedingt zurückwirken muß auch auf die Teile des Staats¬
gebiets, die jetzt von der Anhäufung von Menschen Vorteil zu haben glauben.
Es darf aber auch nicht vergessen werden, daß die Menschen, die, angezogen
durch hohe Löhne und durch Vergnügungen, in diese Jndustriebezirke abwandern,
Schaden leiden an Körper und Seele.

Es ist nicht der Zweck dieser Zeilen, über diese soziale und räumliche
Umschichtung unsers Volkes zu klagen, denn das Ergebnis dieser Entwicklung
liegt heute als Tatsache vor uns, und mit Tatsachen muß man sich abfinden.
Es kommt hier nur darauf an, zu prüfen, welche Folgen es gehabt hat, daß
durch unsre wirtschaftliche Entwicklung eine große Zahl einstmals wirtschaftlich
selbständiger Menschen in die Klasse der Lohnarbeiter herabgedrückt, daß un¬
zählige andre von ihrer heimatlichen Scholle losgelöst in den großen Städten
und den Industriebezirken Spreu vor dem Winde geworden sind; zu prüfen,
ob nicht dieser völlig umgestalteten Gesellschaft gegenüber Unterlassungssünden
begangen worden sind, die manchen Übelstand, unter dem wir heute leiden,
erklärlich erscheinen lassen; sowie endlich, ob nicht aus den Lehren der Ver¬
gangenheit Folgerungen gezogen werden können für das, was zu geschehen hat,
um eine glücklichere Zukunft vorzubereiten.

Wenn hier versucht worden ist, in großen Zügen ein Bild unsrer jüngsten
wirtschaftlichen Entwicklung und der Wirkungen zu geben, die diese Entwicklung
auf die soziale und räumliche Umschichtung unsers Volkes gehabt hat, so muß
außerdem zum Verständnis unsrer Lage daran erinnert werden, daß diese wirt¬
schaftliche Entwicklung der Zeit nach im wesentlichen zusammengefallen ist mit
unsrer politischen Einigung. Wir haben gesehen, daß Kapitalismus und Gro߬
betrieb eigentlich erst in den siebziger Jahren entstanden sind, also nach dem
großen Kriege, in dem die zerrissenen deutschen Stämme zu einem Volke ge¬
einigt wurden.

Es kann wohl keinem Zweifel unterliegen, daß erst auf der Grundlage
dieser politischen Erfolge der gewaltige Aufschwung unsers wirtschaftlichen
Lebens möglich war, der noch mächtig gefördert wurde durch die französische


Betrachtungen über innere Politik

Als im Jahre 1902 in Düsseldorf die glänzende Industrieausstellung
Zeugnis ablegte von den Leistungen des rheinisch-westfälischen Jndustriebezirks,
da war auf einer Ehrentafel in Erz eingegraben, welcher große Anteil der
Gesamtbevölkerung in diesem Bezirke lebt und mit welchem hohen Betrage die
Bewohner dieses Bezirks an dem Gesamtertrage der preußischen Steuern beteiligt
sind. Nur eine Zahl fehlte, nämlich eine Angabe darüber, wie viele ihrer Söhne
die andern Provinzen an diesen Bezirk abgegeben haben, die nun hier die Maschinen
in Bewegung setzen, die ohne diese Arbeitskräfte still stehn müßten. Wenn es
wesentlich auf der angestrengten Arbeit der Industrie beruht, daß wir reicher ge¬
worden sind, so darf doch niemals vergessen werden, daß Blut edler ist als Gold,
daß diese Erfolge erreicht wurden auf Kosten andrer Erwerbsstände und auf Kosten
der Gebiete, von denen aus unser Staatswesen geworden ist, und daß eine
Verödung dieser Gebiete, die ihr Bestes hergeben an den Westen und an die
großen Städte, unbedingt zurückwirken muß auch auf die Teile des Staats¬
gebiets, die jetzt von der Anhäufung von Menschen Vorteil zu haben glauben.
Es darf aber auch nicht vergessen werden, daß die Menschen, die, angezogen
durch hohe Löhne und durch Vergnügungen, in diese Jndustriebezirke abwandern,
Schaden leiden an Körper und Seele.

Es ist nicht der Zweck dieser Zeilen, über diese soziale und räumliche
Umschichtung unsers Volkes zu klagen, denn das Ergebnis dieser Entwicklung
liegt heute als Tatsache vor uns, und mit Tatsachen muß man sich abfinden.
Es kommt hier nur darauf an, zu prüfen, welche Folgen es gehabt hat, daß
durch unsre wirtschaftliche Entwicklung eine große Zahl einstmals wirtschaftlich
selbständiger Menschen in die Klasse der Lohnarbeiter herabgedrückt, daß un¬
zählige andre von ihrer heimatlichen Scholle losgelöst in den großen Städten
und den Industriebezirken Spreu vor dem Winde geworden sind; zu prüfen,
ob nicht dieser völlig umgestalteten Gesellschaft gegenüber Unterlassungssünden
begangen worden sind, die manchen Übelstand, unter dem wir heute leiden,
erklärlich erscheinen lassen; sowie endlich, ob nicht aus den Lehren der Ver¬
gangenheit Folgerungen gezogen werden können für das, was zu geschehen hat,
um eine glücklichere Zukunft vorzubereiten.

Wenn hier versucht worden ist, in großen Zügen ein Bild unsrer jüngsten
wirtschaftlichen Entwicklung und der Wirkungen zu geben, die diese Entwicklung
auf die soziale und räumliche Umschichtung unsers Volkes gehabt hat, so muß
außerdem zum Verständnis unsrer Lage daran erinnert werden, daß diese wirt¬
schaftliche Entwicklung der Zeit nach im wesentlichen zusammengefallen ist mit
unsrer politischen Einigung. Wir haben gesehen, daß Kapitalismus und Gro߬
betrieb eigentlich erst in den siebziger Jahren entstanden sind, also nach dem
großen Kriege, in dem die zerrissenen deutschen Stämme zu einem Volke ge¬
einigt wurden.

Es kann wohl keinem Zweifel unterliegen, daß erst auf der Grundlage
dieser politischen Erfolge der gewaltige Aufschwung unsers wirtschaftlichen
Lebens möglich war, der noch mächtig gefördert wurde durch die französische


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0398" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/303100"/>
          <fw type="header" place="top"> Betrachtungen über innere Politik</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2295"> Als im Jahre 1902 in Düsseldorf die glänzende Industrieausstellung<lb/>
Zeugnis ablegte von den Leistungen des rheinisch-westfälischen Jndustriebezirks,<lb/>
da war auf einer Ehrentafel in Erz eingegraben, welcher große Anteil der<lb/>
Gesamtbevölkerung in diesem Bezirke lebt und mit welchem hohen Betrage die<lb/>
Bewohner dieses Bezirks an dem Gesamtertrage der preußischen Steuern beteiligt<lb/>
sind. Nur eine Zahl fehlte, nämlich eine Angabe darüber, wie viele ihrer Söhne<lb/>
die andern Provinzen an diesen Bezirk abgegeben haben, die nun hier die Maschinen<lb/>
in Bewegung setzen, die ohne diese Arbeitskräfte still stehn müßten. Wenn es<lb/>
wesentlich auf der angestrengten Arbeit der Industrie beruht, daß wir reicher ge¬<lb/>
worden sind, so darf doch niemals vergessen werden, daß Blut edler ist als Gold,<lb/>
daß diese Erfolge erreicht wurden auf Kosten andrer Erwerbsstände und auf Kosten<lb/>
der Gebiete, von denen aus unser Staatswesen geworden ist, und daß eine<lb/>
Verödung dieser Gebiete, die ihr Bestes hergeben an den Westen und an die<lb/>
großen Städte, unbedingt zurückwirken muß auch auf die Teile des Staats¬<lb/>
gebiets, die jetzt von der Anhäufung von Menschen Vorteil zu haben glauben.<lb/>
Es darf aber auch nicht vergessen werden, daß die Menschen, die, angezogen<lb/>
durch hohe Löhne und durch Vergnügungen, in diese Jndustriebezirke abwandern,<lb/>
Schaden leiden an Körper und Seele.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2296"> Es ist nicht der Zweck dieser Zeilen, über diese soziale und räumliche<lb/>
Umschichtung unsers Volkes zu klagen, denn das Ergebnis dieser Entwicklung<lb/>
liegt heute als Tatsache vor uns, und mit Tatsachen muß man sich abfinden.<lb/>
Es kommt hier nur darauf an, zu prüfen, welche Folgen es gehabt hat, daß<lb/>
durch unsre wirtschaftliche Entwicklung eine große Zahl einstmals wirtschaftlich<lb/>
selbständiger Menschen in die Klasse der Lohnarbeiter herabgedrückt, daß un¬<lb/>
zählige andre von ihrer heimatlichen Scholle losgelöst in den großen Städten<lb/>
und den Industriebezirken Spreu vor dem Winde geworden sind; zu prüfen,<lb/>
ob nicht dieser völlig umgestalteten Gesellschaft gegenüber Unterlassungssünden<lb/>
begangen worden sind, die manchen Übelstand, unter dem wir heute leiden,<lb/>
erklärlich erscheinen lassen; sowie endlich, ob nicht aus den Lehren der Ver¬<lb/>
gangenheit Folgerungen gezogen werden können für das, was zu geschehen hat,<lb/>
um eine glücklichere Zukunft vorzubereiten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2297"> Wenn hier versucht worden ist, in großen Zügen ein Bild unsrer jüngsten<lb/>
wirtschaftlichen Entwicklung und der Wirkungen zu geben, die diese Entwicklung<lb/>
auf die soziale und räumliche Umschichtung unsers Volkes gehabt hat, so muß<lb/>
außerdem zum Verständnis unsrer Lage daran erinnert werden, daß diese wirt¬<lb/>
schaftliche Entwicklung der Zeit nach im wesentlichen zusammengefallen ist mit<lb/>
unsrer politischen Einigung. Wir haben gesehen, daß Kapitalismus und Gro߬<lb/>
betrieb eigentlich erst in den siebziger Jahren entstanden sind, also nach dem<lb/>
großen Kriege, in dem die zerrissenen deutschen Stämme zu einem Volke ge¬<lb/>
einigt wurden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2298" next="#ID_2299"> Es kann wohl keinem Zweifel unterliegen, daß erst auf der Grundlage<lb/>
dieser politischen Erfolge der gewaltige Aufschwung unsers wirtschaftlichen<lb/>
Lebens möglich war, der noch mächtig gefördert wurde durch die französische</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0398] Betrachtungen über innere Politik Als im Jahre 1902 in Düsseldorf die glänzende Industrieausstellung Zeugnis ablegte von den Leistungen des rheinisch-westfälischen Jndustriebezirks, da war auf einer Ehrentafel in Erz eingegraben, welcher große Anteil der Gesamtbevölkerung in diesem Bezirke lebt und mit welchem hohen Betrage die Bewohner dieses Bezirks an dem Gesamtertrage der preußischen Steuern beteiligt sind. Nur eine Zahl fehlte, nämlich eine Angabe darüber, wie viele ihrer Söhne die andern Provinzen an diesen Bezirk abgegeben haben, die nun hier die Maschinen in Bewegung setzen, die ohne diese Arbeitskräfte still stehn müßten. Wenn es wesentlich auf der angestrengten Arbeit der Industrie beruht, daß wir reicher ge¬ worden sind, so darf doch niemals vergessen werden, daß Blut edler ist als Gold, daß diese Erfolge erreicht wurden auf Kosten andrer Erwerbsstände und auf Kosten der Gebiete, von denen aus unser Staatswesen geworden ist, und daß eine Verödung dieser Gebiete, die ihr Bestes hergeben an den Westen und an die großen Städte, unbedingt zurückwirken muß auch auf die Teile des Staats¬ gebiets, die jetzt von der Anhäufung von Menschen Vorteil zu haben glauben. Es darf aber auch nicht vergessen werden, daß die Menschen, die, angezogen durch hohe Löhne und durch Vergnügungen, in diese Jndustriebezirke abwandern, Schaden leiden an Körper und Seele. Es ist nicht der Zweck dieser Zeilen, über diese soziale und räumliche Umschichtung unsers Volkes zu klagen, denn das Ergebnis dieser Entwicklung liegt heute als Tatsache vor uns, und mit Tatsachen muß man sich abfinden. Es kommt hier nur darauf an, zu prüfen, welche Folgen es gehabt hat, daß durch unsre wirtschaftliche Entwicklung eine große Zahl einstmals wirtschaftlich selbständiger Menschen in die Klasse der Lohnarbeiter herabgedrückt, daß un¬ zählige andre von ihrer heimatlichen Scholle losgelöst in den großen Städten und den Industriebezirken Spreu vor dem Winde geworden sind; zu prüfen, ob nicht dieser völlig umgestalteten Gesellschaft gegenüber Unterlassungssünden begangen worden sind, die manchen Übelstand, unter dem wir heute leiden, erklärlich erscheinen lassen; sowie endlich, ob nicht aus den Lehren der Ver¬ gangenheit Folgerungen gezogen werden können für das, was zu geschehen hat, um eine glücklichere Zukunft vorzubereiten. Wenn hier versucht worden ist, in großen Zügen ein Bild unsrer jüngsten wirtschaftlichen Entwicklung und der Wirkungen zu geben, die diese Entwicklung auf die soziale und räumliche Umschichtung unsers Volkes gehabt hat, so muß außerdem zum Verständnis unsrer Lage daran erinnert werden, daß diese wirt¬ schaftliche Entwicklung der Zeit nach im wesentlichen zusammengefallen ist mit unsrer politischen Einigung. Wir haben gesehen, daß Kapitalismus und Gro߬ betrieb eigentlich erst in den siebziger Jahren entstanden sind, also nach dem großen Kriege, in dem die zerrissenen deutschen Stämme zu einem Volke ge¬ einigt wurden. Es kann wohl keinem Zweifel unterliegen, daß erst auf der Grundlage dieser politischen Erfolge der gewaltige Aufschwung unsers wirtschaftlichen Lebens möglich war, der noch mächtig gefördert wurde durch die französische

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/398
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/398>, abgerufen am 01.09.2024.