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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Zum Ursprung des Märchens

Er fühlt sich Von einem unsichtbaren Wesen umschlungen, ringt mit ihm, und
endlich gelingt es ihm, sich unter einem Aufschrei von der Umklammerung des
Geistes freizumachen. Hier haben wir eins von den vielen Beispielen, wie ein
persönliches Erlebnis -- ein Krankheitsanfall auf der Jagd -- unter dem
Einfluß der illusionistischen Weltanschauung zu einem übernatürlichen Erlebnis
und der Bericht darüber zu einer phantastischen Erzählung wird. Ferner er¬
zählt der Wilde von seinen Beziehungen zu Tieren, die er wie Menschen auf¬
treten läßt, er berichtet von Verwandlungen, von Zaubermanipulationen, mit
denen er dnrch Raum und Zeit hindurch auf entfernte Objekte eine unmittel¬
bare Wirkung ausübt. Er spricht von Sonne, Mond und Sternen wie von
seinesgleichen. Und wenn er etwas erzählt, so geschieht es in springender, nur
das Wichtige heraushebender Weise, ohne Rücksicht auf Möglichkeit und Un¬
möglichkeit, unbekümmert um die Motivierung. Mit einem Wort, wir haben
hier alles beisammen, was das Wesen des Märchens ausmacht. Das, was deu
Hauptinhalt des Märchens darstellt, das Wunder, das übernatürlich Phan¬
tastische, im Dasein des Wilden ist es ein realer Bestandteil seiner Lebens-
anschauungen, und das, was wir als die Technik der Märchen betrachten, die
Sprunghafte Darstellung, die sich nur an die Hauptpunkte der Ereignisse hält,
den Mangel an Motivierung und an Folgerichtigkeit, hat seine Wurzel in der
rudimentären Erzählungsweise des primitiven Menschen. Das Märchen oder
die Weise zu erzählen, die wir als märchenhaft bezeichnen, ist ein in der spe¬
zifischen Weltanschauung und Denkstruktur des Primitiven begründetes Phä¬
nomen. Nur der primitive Mensch konnte das Märchen, oder um es vorsichtiger
auszudrücken, die Bausteine liefern, aus denen spätere Entwicklungsstufen kunst¬
reichere, technisch vollendetere Märchenerzählungen schufen. Denn das muß be¬
sonders betont werden, daß die Märchen der Wilden inhaltlich sowohl wie
technisch ärmlicher, unzusammenhängender, willkürlicher sind als unsre Volks¬
märchen.

Diese Ableitung unsrer Märchen aus der primitiven Urzeit der einzelnen
märchenerzählendeu Völker ist natürlich nur dann beweiskräftig, wenn sich be¬
weisen läßt, daß tatsächlich der Hauptinhalt unsers Volksmärchens auf primitive
Zustände zurückgeht. Diese Forderung hat um die heutige Märchenforschung
ziemlich lückenlos erfüllt. Ich kann mich an dieser Stelle nur auf die Heraus¬
hebung einiger besonders interessanter Beispiele beschränken. Wer mehr davon
zu erfahren wünscht, sei auf den vortrefflichen Aufsatz von Fr. von der Leyer:
"Zur Entstehung des Märchens" in den letzten beiden Bänden (Bd. 113 und 114)
des Archivs für das Studium der neuern Sprachen und Literaturen verwiesen.




Zum Ursprung des Märchens

Er fühlt sich Von einem unsichtbaren Wesen umschlungen, ringt mit ihm, und
endlich gelingt es ihm, sich unter einem Aufschrei von der Umklammerung des
Geistes freizumachen. Hier haben wir eins von den vielen Beispielen, wie ein
persönliches Erlebnis — ein Krankheitsanfall auf der Jagd — unter dem
Einfluß der illusionistischen Weltanschauung zu einem übernatürlichen Erlebnis
und der Bericht darüber zu einer phantastischen Erzählung wird. Ferner er¬
zählt der Wilde von seinen Beziehungen zu Tieren, die er wie Menschen auf¬
treten läßt, er berichtet von Verwandlungen, von Zaubermanipulationen, mit
denen er dnrch Raum und Zeit hindurch auf entfernte Objekte eine unmittel¬
bare Wirkung ausübt. Er spricht von Sonne, Mond und Sternen wie von
seinesgleichen. Und wenn er etwas erzählt, so geschieht es in springender, nur
das Wichtige heraushebender Weise, ohne Rücksicht auf Möglichkeit und Un¬
möglichkeit, unbekümmert um die Motivierung. Mit einem Wort, wir haben
hier alles beisammen, was das Wesen des Märchens ausmacht. Das, was deu
Hauptinhalt des Märchens darstellt, das Wunder, das übernatürlich Phan¬
tastische, im Dasein des Wilden ist es ein realer Bestandteil seiner Lebens-
anschauungen, und das, was wir als die Technik der Märchen betrachten, die
Sprunghafte Darstellung, die sich nur an die Hauptpunkte der Ereignisse hält,
den Mangel an Motivierung und an Folgerichtigkeit, hat seine Wurzel in der
rudimentären Erzählungsweise des primitiven Menschen. Das Märchen oder
die Weise zu erzählen, die wir als märchenhaft bezeichnen, ist ein in der spe¬
zifischen Weltanschauung und Denkstruktur des Primitiven begründetes Phä¬
nomen. Nur der primitive Mensch konnte das Märchen, oder um es vorsichtiger
auszudrücken, die Bausteine liefern, aus denen spätere Entwicklungsstufen kunst¬
reichere, technisch vollendetere Märchenerzählungen schufen. Denn das muß be¬
sonders betont werden, daß die Märchen der Wilden inhaltlich sowohl wie
technisch ärmlicher, unzusammenhängender, willkürlicher sind als unsre Volks¬
märchen.

Diese Ableitung unsrer Märchen aus der primitiven Urzeit der einzelnen
märchenerzählendeu Völker ist natürlich nur dann beweiskräftig, wenn sich be¬
weisen läßt, daß tatsächlich der Hauptinhalt unsers Volksmärchens auf primitive
Zustände zurückgeht. Diese Forderung hat um die heutige Märchenforschung
ziemlich lückenlos erfüllt. Ich kann mich an dieser Stelle nur auf die Heraus¬
hebung einiger besonders interessanter Beispiele beschränken. Wer mehr davon
zu erfahren wünscht, sei auf den vortrefflichen Aufsatz von Fr. von der Leyer:
„Zur Entstehung des Märchens" in den letzten beiden Bänden (Bd. 113 und 114)
des Archivs für das Studium der neuern Sprachen und Literaturen verwiesen.




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[0038] Zum Ursprung des Märchens Er fühlt sich Von einem unsichtbaren Wesen umschlungen, ringt mit ihm, und endlich gelingt es ihm, sich unter einem Aufschrei von der Umklammerung des Geistes freizumachen. Hier haben wir eins von den vielen Beispielen, wie ein persönliches Erlebnis — ein Krankheitsanfall auf der Jagd — unter dem Einfluß der illusionistischen Weltanschauung zu einem übernatürlichen Erlebnis und der Bericht darüber zu einer phantastischen Erzählung wird. Ferner er¬ zählt der Wilde von seinen Beziehungen zu Tieren, die er wie Menschen auf¬ treten läßt, er berichtet von Verwandlungen, von Zaubermanipulationen, mit denen er dnrch Raum und Zeit hindurch auf entfernte Objekte eine unmittel¬ bare Wirkung ausübt. Er spricht von Sonne, Mond und Sternen wie von seinesgleichen. Und wenn er etwas erzählt, so geschieht es in springender, nur das Wichtige heraushebender Weise, ohne Rücksicht auf Möglichkeit und Un¬ möglichkeit, unbekümmert um die Motivierung. Mit einem Wort, wir haben hier alles beisammen, was das Wesen des Märchens ausmacht. Das, was deu Hauptinhalt des Märchens darstellt, das Wunder, das übernatürlich Phan¬ tastische, im Dasein des Wilden ist es ein realer Bestandteil seiner Lebens- anschauungen, und das, was wir als die Technik der Märchen betrachten, die Sprunghafte Darstellung, die sich nur an die Hauptpunkte der Ereignisse hält, den Mangel an Motivierung und an Folgerichtigkeit, hat seine Wurzel in der rudimentären Erzählungsweise des primitiven Menschen. Das Märchen oder die Weise zu erzählen, die wir als märchenhaft bezeichnen, ist ein in der spe¬ zifischen Weltanschauung und Denkstruktur des Primitiven begründetes Phä¬ nomen. Nur der primitive Mensch konnte das Märchen, oder um es vorsichtiger auszudrücken, die Bausteine liefern, aus denen spätere Entwicklungsstufen kunst¬ reichere, technisch vollendetere Märchenerzählungen schufen. Denn das muß be¬ sonders betont werden, daß die Märchen der Wilden inhaltlich sowohl wie technisch ärmlicher, unzusammenhängender, willkürlicher sind als unsre Volks¬ märchen. Diese Ableitung unsrer Märchen aus der primitiven Urzeit der einzelnen märchenerzählendeu Völker ist natürlich nur dann beweiskräftig, wenn sich be¬ weisen läßt, daß tatsächlich der Hauptinhalt unsers Volksmärchens auf primitive Zustände zurückgeht. Diese Forderung hat um die heutige Märchenforschung ziemlich lückenlos erfüllt. Ich kann mich an dieser Stelle nur auf die Heraus¬ hebung einiger besonders interessanter Beispiele beschränken. Wer mehr davon zu erfahren wünscht, sei auf den vortrefflichen Aufsatz von Fr. von der Leyer: „Zur Entstehung des Märchens" in den letzten beiden Bänden (Bd. 113 und 114) des Archivs für das Studium der neuern Sprachen und Literaturen verwiesen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/38>, abgerufen am 01.09.2024.