Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Betrachtungen über innere Politik

zunutzen und ihn bewußt um sein Koalitionsrecht zu bringen oder ihn gar
dazu zu erziehen, seinen Kollegen bei berechtigten Bestrebungen in den
Rücken zu fallen, so sind sie nach jeder Richtung hin zu verwerfen und zu
bekämpfen.

Für ihre gewerkschaftlichen Bestrebungen haben die nichtsozialistischen
Arbeiter ihre christlich-nationalen Gewerkschaften, für ihre geistig-sittlichen ihre
konfessionellen Arbeitervereine. Wozu da noch diese Uneinigkeit stiftenden gelben
Gewerkschaften?

Verfolgt man die ganze Entwicklung der christlichen Gewerkschaften, so kommt
man zu dem Ergebnis, daß es andre Gründe waren, als die von den Gegnern
angeführten. Es war der Kampf um die christliche Weltanschauung, provoziert
durch die Sozialdemokratie und die ihr ergebner Organisationen. Nicht "Unter¬
nehmerfreundschaft", nicht "Streikbrechertum", nicht "pfiiffische Knechtseligkeit"
waren es, was die christlichen Arbeiter zur Gründung ihrer besondern Organi¬
sationen angetrieben hat, sondern das ehrliche Bestreben, ihre wirtschaftliche Lage
zu bessern, ohne dabei Verrat an ihren religiösen und nationalen Anschauungen
zu üben.

Wenn der sittliche Ernst und die zunehmende Besonnenheit in den christ¬
lichen Gewerkschaften immer größern Einfluß gewinnen wird, dann können sie
ruhig und gelassen der Zukunft entgegensehen.




Betrachtungen über innere Politik
Carl Negenborn von

HSZlTZWN^ 12. Dezember 1905 hat der Staatssekretär Graf Posadowsky
IM^^A jm Reichstage bei der Lesung des Etats, der Flottenvorlage und
der Finanzreform in einer großen Rede die Frage erörtert, wie
in Deutschland das ständige Wachstum der Sozialdemokratie, der
I immer zunehmende Einfluß dieser Partei auf weite Kreise des
Volkes zu erklären sei. Er sagte: "Wie ist es psychologisch erklärlich, daß in
diesem Deutschland, einem Lande, das auch wirtschaftlich zum Besten der untern
Volksklassen so gewaltige Fortschritte macht, eine Partei mit drei Millionen
Stimmen auftreten kann, die unsre ganze Geschichte verleugnet, unsre ganze
Vergangenheit, und sagt: das moderne Staatsleben ist so durch und durch
morsch, daß es von Grund auf neu umgebaut werden muß? Ich habe mit
Ausländern darüber gesprochen, die mir gesagt haben: Wir stehen vor einem
Rätsel. Woher kommt in diesem Deutschland, bei diesem Wohlstand, wo man


Betrachtungen über innere Politik

zunutzen und ihn bewußt um sein Koalitionsrecht zu bringen oder ihn gar
dazu zu erziehen, seinen Kollegen bei berechtigten Bestrebungen in den
Rücken zu fallen, so sind sie nach jeder Richtung hin zu verwerfen und zu
bekämpfen.

Für ihre gewerkschaftlichen Bestrebungen haben die nichtsozialistischen
Arbeiter ihre christlich-nationalen Gewerkschaften, für ihre geistig-sittlichen ihre
konfessionellen Arbeitervereine. Wozu da noch diese Uneinigkeit stiftenden gelben
Gewerkschaften?

Verfolgt man die ganze Entwicklung der christlichen Gewerkschaften, so kommt
man zu dem Ergebnis, daß es andre Gründe waren, als die von den Gegnern
angeführten. Es war der Kampf um die christliche Weltanschauung, provoziert
durch die Sozialdemokratie und die ihr ergebner Organisationen. Nicht „Unter¬
nehmerfreundschaft", nicht „Streikbrechertum", nicht „pfiiffische Knechtseligkeit"
waren es, was die christlichen Arbeiter zur Gründung ihrer besondern Organi¬
sationen angetrieben hat, sondern das ehrliche Bestreben, ihre wirtschaftliche Lage
zu bessern, ohne dabei Verrat an ihren religiösen und nationalen Anschauungen
zu üben.

Wenn der sittliche Ernst und die zunehmende Besonnenheit in den christ¬
lichen Gewerkschaften immer größern Einfluß gewinnen wird, dann können sie
ruhig und gelassen der Zukunft entgegensehen.




Betrachtungen über innere Politik
Carl Negenborn von

HSZlTZWN^ 12. Dezember 1905 hat der Staatssekretär Graf Posadowsky
IM^^A jm Reichstage bei der Lesung des Etats, der Flottenvorlage und
der Finanzreform in einer großen Rede die Frage erörtert, wie
in Deutschland das ständige Wachstum der Sozialdemokratie, der
I immer zunehmende Einfluß dieser Partei auf weite Kreise des
Volkes zu erklären sei. Er sagte: „Wie ist es psychologisch erklärlich, daß in
diesem Deutschland, einem Lande, das auch wirtschaftlich zum Besten der untern
Volksklassen so gewaltige Fortschritte macht, eine Partei mit drei Millionen
Stimmen auftreten kann, die unsre ganze Geschichte verleugnet, unsre ganze
Vergangenheit, und sagt: das moderne Staatsleben ist so durch und durch
morsch, daß es von Grund auf neu umgebaut werden muß? Ich habe mit
Ausländern darüber gesprochen, die mir gesagt haben: Wir stehen vor einem
Rätsel. Woher kommt in diesem Deutschland, bei diesem Wohlstand, wo man


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0340" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/303042"/>
          <fw type="header" place="top"> Betrachtungen über innere Politik</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2037" prev="#ID_2036"> zunutzen und ihn bewußt um sein Koalitionsrecht zu bringen oder ihn gar<lb/>
dazu zu erziehen, seinen Kollegen bei berechtigten Bestrebungen in den<lb/>
Rücken zu fallen, so sind sie nach jeder Richtung hin zu verwerfen und zu<lb/>
bekämpfen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2038"> Für ihre gewerkschaftlichen Bestrebungen haben die nichtsozialistischen<lb/>
Arbeiter ihre christlich-nationalen Gewerkschaften, für ihre geistig-sittlichen ihre<lb/>
konfessionellen Arbeitervereine. Wozu da noch diese Uneinigkeit stiftenden gelben<lb/>
Gewerkschaften?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2039"> Verfolgt man die ganze Entwicklung der christlichen Gewerkschaften, so kommt<lb/>
man zu dem Ergebnis, daß es andre Gründe waren, als die von den Gegnern<lb/>
angeführten. Es war der Kampf um die christliche Weltanschauung, provoziert<lb/>
durch die Sozialdemokratie und die ihr ergebner Organisationen. Nicht &#x201E;Unter¬<lb/>
nehmerfreundschaft", nicht &#x201E;Streikbrechertum", nicht &#x201E;pfiiffische Knechtseligkeit"<lb/>
waren es, was die christlichen Arbeiter zur Gründung ihrer besondern Organi¬<lb/>
sationen angetrieben hat, sondern das ehrliche Bestreben, ihre wirtschaftliche Lage<lb/>
zu bessern, ohne dabei Verrat an ihren religiösen und nationalen Anschauungen<lb/>
zu üben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2040"> Wenn der sittliche Ernst und die zunehmende Besonnenheit in den christ¬<lb/>
lichen Gewerkschaften immer größern Einfluß gewinnen wird, dann können sie<lb/>
ruhig und gelassen der Zukunft entgegensehen.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Betrachtungen über innere Politik<lb/><note type="byline"> Carl Negenborn</note> von </head><lb/>
          <p xml:id="ID_2041" next="#ID_2042"> HSZlTZWN^ 12. Dezember 1905 hat der Staatssekretär Graf Posadowsky<lb/>
IM^^A jm Reichstage bei der Lesung des Etats, der Flottenvorlage und<lb/>
der Finanzreform in einer großen Rede die Frage erörtert, wie<lb/>
in Deutschland das ständige Wachstum der Sozialdemokratie, der<lb/>
I immer zunehmende Einfluß dieser Partei auf weite Kreise des<lb/>
Volkes zu erklären sei. Er sagte: &#x201E;Wie ist es psychologisch erklärlich, daß in<lb/>
diesem Deutschland, einem Lande, das auch wirtschaftlich zum Besten der untern<lb/>
Volksklassen so gewaltige Fortschritte macht, eine Partei mit drei Millionen<lb/>
Stimmen auftreten kann, die unsre ganze Geschichte verleugnet, unsre ganze<lb/>
Vergangenheit, und sagt: das moderne Staatsleben ist so durch und durch<lb/>
morsch, daß es von Grund auf neu umgebaut werden muß? Ich habe mit<lb/>
Ausländern darüber gesprochen, die mir gesagt haben: Wir stehen vor einem<lb/>
Rätsel.  Woher kommt in diesem Deutschland, bei diesem Wohlstand, wo man</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0340] Betrachtungen über innere Politik zunutzen und ihn bewußt um sein Koalitionsrecht zu bringen oder ihn gar dazu zu erziehen, seinen Kollegen bei berechtigten Bestrebungen in den Rücken zu fallen, so sind sie nach jeder Richtung hin zu verwerfen und zu bekämpfen. Für ihre gewerkschaftlichen Bestrebungen haben die nichtsozialistischen Arbeiter ihre christlich-nationalen Gewerkschaften, für ihre geistig-sittlichen ihre konfessionellen Arbeitervereine. Wozu da noch diese Uneinigkeit stiftenden gelben Gewerkschaften? Verfolgt man die ganze Entwicklung der christlichen Gewerkschaften, so kommt man zu dem Ergebnis, daß es andre Gründe waren, als die von den Gegnern angeführten. Es war der Kampf um die christliche Weltanschauung, provoziert durch die Sozialdemokratie und die ihr ergebner Organisationen. Nicht „Unter¬ nehmerfreundschaft", nicht „Streikbrechertum", nicht „pfiiffische Knechtseligkeit" waren es, was die christlichen Arbeiter zur Gründung ihrer besondern Organi¬ sationen angetrieben hat, sondern das ehrliche Bestreben, ihre wirtschaftliche Lage zu bessern, ohne dabei Verrat an ihren religiösen und nationalen Anschauungen zu üben. Wenn der sittliche Ernst und die zunehmende Besonnenheit in den christ¬ lichen Gewerkschaften immer größern Einfluß gewinnen wird, dann können sie ruhig und gelassen der Zukunft entgegensehen. Betrachtungen über innere Politik Carl Negenborn von HSZlTZWN^ 12. Dezember 1905 hat der Staatssekretär Graf Posadowsky IM^^A jm Reichstage bei der Lesung des Etats, der Flottenvorlage und der Finanzreform in einer großen Rede die Frage erörtert, wie in Deutschland das ständige Wachstum der Sozialdemokratie, der I immer zunehmende Einfluß dieser Partei auf weite Kreise des Volkes zu erklären sei. Er sagte: „Wie ist es psychologisch erklärlich, daß in diesem Deutschland, einem Lande, das auch wirtschaftlich zum Besten der untern Volksklassen so gewaltige Fortschritte macht, eine Partei mit drei Millionen Stimmen auftreten kann, die unsre ganze Geschichte verleugnet, unsre ganze Vergangenheit, und sagt: das moderne Staatsleben ist so durch und durch morsch, daß es von Grund auf neu umgebaut werden muß? Ich habe mit Ausländern darüber gesprochen, die mir gesagt haben: Wir stehen vor einem Rätsel. Woher kommt in diesem Deutschland, bei diesem Wohlstand, wo man

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/340
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/340>, abgerufen am 12.12.2024.