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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Zum Ursprung des Märchens

des Märchens wie der übrigen Zweige der erzählenden Volksliteratur ist das
männliche Geschlecht maßgebend. Das Märchen gibt, im ganzen genommen,
die Welt wieder, wie sie von Münnercmgen geschaut wird.

Der Wilde erzählt mit außerordentlicher Beweglichkeit und mit starker,
innerer Teilnahme, die sich in der reichlichen Verwendung der Gebärde, die
damit ein inhärenter Bestandteil der Erzählung wird, kundgibt. Ferner ist zu
beachten, daß der Wilde meist vor einem größern Hörerkreis erzählt. James
Macdonald berichtet von den Bauen: "Wenn sich die Männer am Abend um
das Hüttenfeuer versammeln, darf nie der Geschichtenerzähler fehlen. Er wird
da von seinen eignen Heldentaten erzählen, seinen Liebeserlebnisseu, Raubtaten
und nicht vergessen, Beweise anzuführen für seine Stärke und Ausdauer; von
hier ans schwebt er hinüber in die Regionen des Märchens oder der Fabel,
um die Stunden der Langeweile zu vertreiben. Bei einigen ist das Geschichten¬
erzähler geradezu eine Art schöner Kunst, ich hätte fast gesagt, exakter Wissen¬
schaft geworden." Eine andre Beobachtung mögen uns die Eskimo liefern.
"Die Eskimo sitzen in den langen Winternächten an den Ufern der Hudsonsbai;
bei schlechtem Wetter, wenn sie nicht hinauskommen, sitzen sie in der Hütte und
lauschen den alten Männern, die erzählen, was sie gehört und gesehen haben.
Sie verfügen über einen großen Schatz von Erzählungen, und die alten Frauen
tragen Geschichten vor von den Menschen vergangner Tage, Geschichten, die
allein auf dem Gedächtnis beruhn, oft untermischt mit Rezitationen, die
offenbar dem eigentlichen Faden der Erzählung fremd sind. Die jüngern Mit¬
glieder der Versammlung sitzen mit glänzenden Augen da, die ihr lebhaftes
Interesse an der Erzählung bekunden. Bis tief in die Nacht hinein hört man
den summenden Ton des Erzählers vergangner Ereignisse, bis die Zuhörer
einer nach dem andern in der Stellung, die sie zuletzt eingenommen haben,
einnicken." Schließlich noch ein Beispiel aus einem andern Teile der Welt.
In Kaiser-Wilhelmsland lagern die eingebornen Papuas Nachts um ein Feuer
und lauschen mit gespannter Aufmerksamkeit dem Märchenerzähler. So könnte
man noch lange fortfahren, aus allen Gegenden der Erde Beispiele beizubringen,
die beweisen, daß das Geschichten erzählen und -hören ein wahres Lebens¬
bedürfnis für den Wilden ist. Man wird auf jeden Fall gut tun, das Er¬
zählungsbedürfnis und die Erzählungsfähigkeit der Primitiven nicht zu unter¬
schätzen.

Wir haben also auf der einen Seite primitive Menschen mit ausgeprägtem
Erzählungsbedürfnis, auf der andern Seite eine Anzahl von Erzählnngsfvrmen,
die ein Spezifisches an sich tragen, das ihnen einen ganz bestimmten Charakter
gegenüber den höhern Erzählungsformen gebildeter Völker verleiht. Da ist
zunächst die rein individuelle Form, die Jcherzählung, die bei wilden Völkern
aber auch leicht einen allgemeinen Charakter annimmt. Sie stellt den Bericht
eines Einzelnen über ein wirklich erlebtes oder doch als solches hingestelltes Er¬
eignis- das Abenteuer auf der Jagd oder auf dem Fischfang, die Heldentaten


Zum Ursprung des Märchens

des Märchens wie der übrigen Zweige der erzählenden Volksliteratur ist das
männliche Geschlecht maßgebend. Das Märchen gibt, im ganzen genommen,
die Welt wieder, wie sie von Münnercmgen geschaut wird.

Der Wilde erzählt mit außerordentlicher Beweglichkeit und mit starker,
innerer Teilnahme, die sich in der reichlichen Verwendung der Gebärde, die
damit ein inhärenter Bestandteil der Erzählung wird, kundgibt. Ferner ist zu
beachten, daß der Wilde meist vor einem größern Hörerkreis erzählt. James
Macdonald berichtet von den Bauen: „Wenn sich die Männer am Abend um
das Hüttenfeuer versammeln, darf nie der Geschichtenerzähler fehlen. Er wird
da von seinen eignen Heldentaten erzählen, seinen Liebeserlebnisseu, Raubtaten
und nicht vergessen, Beweise anzuführen für seine Stärke und Ausdauer; von
hier ans schwebt er hinüber in die Regionen des Märchens oder der Fabel,
um die Stunden der Langeweile zu vertreiben. Bei einigen ist das Geschichten¬
erzähler geradezu eine Art schöner Kunst, ich hätte fast gesagt, exakter Wissen¬
schaft geworden." Eine andre Beobachtung mögen uns die Eskimo liefern.
„Die Eskimo sitzen in den langen Winternächten an den Ufern der Hudsonsbai;
bei schlechtem Wetter, wenn sie nicht hinauskommen, sitzen sie in der Hütte und
lauschen den alten Männern, die erzählen, was sie gehört und gesehen haben.
Sie verfügen über einen großen Schatz von Erzählungen, und die alten Frauen
tragen Geschichten vor von den Menschen vergangner Tage, Geschichten, die
allein auf dem Gedächtnis beruhn, oft untermischt mit Rezitationen, die
offenbar dem eigentlichen Faden der Erzählung fremd sind. Die jüngern Mit¬
glieder der Versammlung sitzen mit glänzenden Augen da, die ihr lebhaftes
Interesse an der Erzählung bekunden. Bis tief in die Nacht hinein hört man
den summenden Ton des Erzählers vergangner Ereignisse, bis die Zuhörer
einer nach dem andern in der Stellung, die sie zuletzt eingenommen haben,
einnicken." Schließlich noch ein Beispiel aus einem andern Teile der Welt.
In Kaiser-Wilhelmsland lagern die eingebornen Papuas Nachts um ein Feuer
und lauschen mit gespannter Aufmerksamkeit dem Märchenerzähler. So könnte
man noch lange fortfahren, aus allen Gegenden der Erde Beispiele beizubringen,
die beweisen, daß das Geschichten erzählen und -hören ein wahres Lebens¬
bedürfnis für den Wilden ist. Man wird auf jeden Fall gut tun, das Er¬
zählungsbedürfnis und die Erzählungsfähigkeit der Primitiven nicht zu unter¬
schätzen.

Wir haben also auf der einen Seite primitive Menschen mit ausgeprägtem
Erzählungsbedürfnis, auf der andern Seite eine Anzahl von Erzählnngsfvrmen,
die ein Spezifisches an sich tragen, das ihnen einen ganz bestimmten Charakter
gegenüber den höhern Erzählungsformen gebildeter Völker verleiht. Da ist
zunächst die rein individuelle Form, die Jcherzählung, die bei wilden Völkern
aber auch leicht einen allgemeinen Charakter annimmt. Sie stellt den Bericht
eines Einzelnen über ein wirklich erlebtes oder doch als solches hingestelltes Er¬
eignis- das Abenteuer auf der Jagd oder auf dem Fischfang, die Heldentaten


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[0034] Zum Ursprung des Märchens des Märchens wie der übrigen Zweige der erzählenden Volksliteratur ist das männliche Geschlecht maßgebend. Das Märchen gibt, im ganzen genommen, die Welt wieder, wie sie von Münnercmgen geschaut wird. Der Wilde erzählt mit außerordentlicher Beweglichkeit und mit starker, innerer Teilnahme, die sich in der reichlichen Verwendung der Gebärde, die damit ein inhärenter Bestandteil der Erzählung wird, kundgibt. Ferner ist zu beachten, daß der Wilde meist vor einem größern Hörerkreis erzählt. James Macdonald berichtet von den Bauen: „Wenn sich die Männer am Abend um das Hüttenfeuer versammeln, darf nie der Geschichtenerzähler fehlen. Er wird da von seinen eignen Heldentaten erzählen, seinen Liebeserlebnisseu, Raubtaten und nicht vergessen, Beweise anzuführen für seine Stärke und Ausdauer; von hier ans schwebt er hinüber in die Regionen des Märchens oder der Fabel, um die Stunden der Langeweile zu vertreiben. Bei einigen ist das Geschichten¬ erzähler geradezu eine Art schöner Kunst, ich hätte fast gesagt, exakter Wissen¬ schaft geworden." Eine andre Beobachtung mögen uns die Eskimo liefern. „Die Eskimo sitzen in den langen Winternächten an den Ufern der Hudsonsbai; bei schlechtem Wetter, wenn sie nicht hinauskommen, sitzen sie in der Hütte und lauschen den alten Männern, die erzählen, was sie gehört und gesehen haben. Sie verfügen über einen großen Schatz von Erzählungen, und die alten Frauen tragen Geschichten vor von den Menschen vergangner Tage, Geschichten, die allein auf dem Gedächtnis beruhn, oft untermischt mit Rezitationen, die offenbar dem eigentlichen Faden der Erzählung fremd sind. Die jüngern Mit¬ glieder der Versammlung sitzen mit glänzenden Augen da, die ihr lebhaftes Interesse an der Erzählung bekunden. Bis tief in die Nacht hinein hört man den summenden Ton des Erzählers vergangner Ereignisse, bis die Zuhörer einer nach dem andern in der Stellung, die sie zuletzt eingenommen haben, einnicken." Schließlich noch ein Beispiel aus einem andern Teile der Welt. In Kaiser-Wilhelmsland lagern die eingebornen Papuas Nachts um ein Feuer und lauschen mit gespannter Aufmerksamkeit dem Märchenerzähler. So könnte man noch lange fortfahren, aus allen Gegenden der Erde Beispiele beizubringen, die beweisen, daß das Geschichten erzählen und -hören ein wahres Lebens¬ bedürfnis für den Wilden ist. Man wird auf jeden Fall gut tun, das Er¬ zählungsbedürfnis und die Erzählungsfähigkeit der Primitiven nicht zu unter¬ schätzen. Wir haben also auf der einen Seite primitive Menschen mit ausgeprägtem Erzählungsbedürfnis, auf der andern Seite eine Anzahl von Erzählnngsfvrmen, die ein Spezifisches an sich tragen, das ihnen einen ganz bestimmten Charakter gegenüber den höhern Erzählungsformen gebildeter Völker verleiht. Da ist zunächst die rein individuelle Form, die Jcherzählung, die bei wilden Völkern aber auch leicht einen allgemeinen Charakter annimmt. Sie stellt den Bericht eines Einzelnen über ein wirklich erlebtes oder doch als solches hingestelltes Er¬ eignis- das Abenteuer auf der Jagd oder auf dem Fischfang, die Heldentaten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/34>, abgerufen am 12.12.2024.