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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Zehn Jahre Zionismus

2. die Gliederung und Zusammenfassung der gesamten Judenschaft durch
geeignete örtliche und allgemeine Veranstaltungen nach Maßgabe der Landes¬
gesetze;

3. die Stärkung und Förderung des jüdischen Selbstgefühls und Volks¬
bewußtseins;

4. vorbereitende Schritte zur Erlangung der Negierungszustimmungen,
die nötig sind, um das Ziel des Zionismus zu erreichen.

Während nun die sechs ersten Jahre der organisierten Tätigkeit neben der
Vertiefung der Idee dem Ausbau der Organisation und der Anknüpfung von
Beziehungen zu politischen Kreisen und Persönlichkeiten, also der Auswirkung
der drei letzten Punkte gewidmet waren, blieb es dem jüngsten Stadium der
Bewegung vorbehalten, der praktischen Arbeit in Palästina, die früher nicht ge¬
nügend gewürdigt worden war, größere Geltung zu verschaffen. Infolgedessen
liegt gegenwärtig der Schwerpunkt aller Tätigkeit in der Gegenwartsarbeit.
Einen Merkstein in dieser Beziehung bildet der Beschluß des sechsten Kongresses
vom Jahre 1903, eine mit Geldmitteln dotierte "Kommission zur Erforschung
Palästinas" zu schaffen, deren Arbeitsprogramm der letzte Kongreß noch wesent¬
lich erweitert hat.

Die rein diplomatische Tätigkeit des "Charterismus" hat sich, wie heute
offen anerkannt wird, als verfehlt erwiesen, das Endziel ist auf diesem Wege
seiner Verwirklichung nicht um einen Schritt näher gerückt worden. Eines Tags
-- im Jahre 1902 -- schien Herzl freilich nahe daran, den Charter vom Sultan
zu erlangen. Aber die angebotne Konzession für eine zerstreute zusammenhang¬
lose Siedlung in verschiednen Teilen des Reiches konnte den jüdisch-nationalen
Bedürfnissen nicht genügen. So ist der "katastrophale" Zionismus, der Glaube
an die Schaffung eines Judenstaats mit einem Schlage, die Hoffnung auf die
plötzliche und radikale Lösung der Judenfrage, vor der Macht der Tatsachen als
Illusion erwiesen und dem Entwicklungscharakter der Bewegung zufolge ab¬
gelöst worden durch den "synthetischen" Zionismus, der in der gegenwärtigen
Palästinaarbeit die Synthese von Politischen und Praktischen findet.

Dieser Ruf nach Gegenwartsarbeit, der heute weit über die Kreise der
organisierten Zionisten hinaus die Stimmung des gesamten palästinatreuen
Judentums wiedergibt, ist aber so wenig als eine Reaktion gegen den soge¬
nannten "politischen" Zionismus oder als ein Rückfall in die unsystematische
Kleinkolonisation zu beurteilen, daß er vielmehr in Verwirklichung des ersten
Programmpunktes die notwendige Weiterbildung der zionistischen Idee darstellt.
Denn eine reale Politik, wie sie der Zionismus gegenwärtig bewußt treibt, um¬
spannt nicht allein die Idee, auch nicht allein die Wirklichkeit, sondern beides.
Erst Basis und Spitze ergeben zusammengenommen die Pyramide, der sich eine
realpolitische Bewegung vergleichen läßt. So soll durch die praktische Arbeit
der Boden der Diplomatie keineswegs verlassen werden; im Gegenteil, die diplo¬
matische Tätigkeit soll sich nicht auf die Forderung eines Charters im Sinne der


Zehn Jahre Zionismus

2. die Gliederung und Zusammenfassung der gesamten Judenschaft durch
geeignete örtliche und allgemeine Veranstaltungen nach Maßgabe der Landes¬
gesetze;

3. die Stärkung und Förderung des jüdischen Selbstgefühls und Volks¬
bewußtseins;

4. vorbereitende Schritte zur Erlangung der Negierungszustimmungen,
die nötig sind, um das Ziel des Zionismus zu erreichen.

Während nun die sechs ersten Jahre der organisierten Tätigkeit neben der
Vertiefung der Idee dem Ausbau der Organisation und der Anknüpfung von
Beziehungen zu politischen Kreisen und Persönlichkeiten, also der Auswirkung
der drei letzten Punkte gewidmet waren, blieb es dem jüngsten Stadium der
Bewegung vorbehalten, der praktischen Arbeit in Palästina, die früher nicht ge¬
nügend gewürdigt worden war, größere Geltung zu verschaffen. Infolgedessen
liegt gegenwärtig der Schwerpunkt aller Tätigkeit in der Gegenwartsarbeit.
Einen Merkstein in dieser Beziehung bildet der Beschluß des sechsten Kongresses
vom Jahre 1903, eine mit Geldmitteln dotierte „Kommission zur Erforschung
Palästinas" zu schaffen, deren Arbeitsprogramm der letzte Kongreß noch wesent¬
lich erweitert hat.

Die rein diplomatische Tätigkeit des „Charterismus" hat sich, wie heute
offen anerkannt wird, als verfehlt erwiesen, das Endziel ist auf diesem Wege
seiner Verwirklichung nicht um einen Schritt näher gerückt worden. Eines Tags
— im Jahre 1902 — schien Herzl freilich nahe daran, den Charter vom Sultan
zu erlangen. Aber die angebotne Konzession für eine zerstreute zusammenhang¬
lose Siedlung in verschiednen Teilen des Reiches konnte den jüdisch-nationalen
Bedürfnissen nicht genügen. So ist der „katastrophale" Zionismus, der Glaube
an die Schaffung eines Judenstaats mit einem Schlage, die Hoffnung auf die
plötzliche und radikale Lösung der Judenfrage, vor der Macht der Tatsachen als
Illusion erwiesen und dem Entwicklungscharakter der Bewegung zufolge ab¬
gelöst worden durch den „synthetischen" Zionismus, der in der gegenwärtigen
Palästinaarbeit die Synthese von Politischen und Praktischen findet.

Dieser Ruf nach Gegenwartsarbeit, der heute weit über die Kreise der
organisierten Zionisten hinaus die Stimmung des gesamten palästinatreuen
Judentums wiedergibt, ist aber so wenig als eine Reaktion gegen den soge¬
nannten „politischen" Zionismus oder als ein Rückfall in die unsystematische
Kleinkolonisation zu beurteilen, daß er vielmehr in Verwirklichung des ersten
Programmpunktes die notwendige Weiterbildung der zionistischen Idee darstellt.
Denn eine reale Politik, wie sie der Zionismus gegenwärtig bewußt treibt, um¬
spannt nicht allein die Idee, auch nicht allein die Wirklichkeit, sondern beides.
Erst Basis und Spitze ergeben zusammengenommen die Pyramide, der sich eine
realpolitische Bewegung vergleichen läßt. So soll durch die praktische Arbeit
der Boden der Diplomatie keineswegs verlassen werden; im Gegenteil, die diplo¬
matische Tätigkeit soll sich nicht auf die Forderung eines Charters im Sinne der


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[0296] Zehn Jahre Zionismus 2. die Gliederung und Zusammenfassung der gesamten Judenschaft durch geeignete örtliche und allgemeine Veranstaltungen nach Maßgabe der Landes¬ gesetze; 3. die Stärkung und Förderung des jüdischen Selbstgefühls und Volks¬ bewußtseins; 4. vorbereitende Schritte zur Erlangung der Negierungszustimmungen, die nötig sind, um das Ziel des Zionismus zu erreichen. Während nun die sechs ersten Jahre der organisierten Tätigkeit neben der Vertiefung der Idee dem Ausbau der Organisation und der Anknüpfung von Beziehungen zu politischen Kreisen und Persönlichkeiten, also der Auswirkung der drei letzten Punkte gewidmet waren, blieb es dem jüngsten Stadium der Bewegung vorbehalten, der praktischen Arbeit in Palästina, die früher nicht ge¬ nügend gewürdigt worden war, größere Geltung zu verschaffen. Infolgedessen liegt gegenwärtig der Schwerpunkt aller Tätigkeit in der Gegenwartsarbeit. Einen Merkstein in dieser Beziehung bildet der Beschluß des sechsten Kongresses vom Jahre 1903, eine mit Geldmitteln dotierte „Kommission zur Erforschung Palästinas" zu schaffen, deren Arbeitsprogramm der letzte Kongreß noch wesent¬ lich erweitert hat. Die rein diplomatische Tätigkeit des „Charterismus" hat sich, wie heute offen anerkannt wird, als verfehlt erwiesen, das Endziel ist auf diesem Wege seiner Verwirklichung nicht um einen Schritt näher gerückt worden. Eines Tags — im Jahre 1902 — schien Herzl freilich nahe daran, den Charter vom Sultan zu erlangen. Aber die angebotne Konzession für eine zerstreute zusammenhang¬ lose Siedlung in verschiednen Teilen des Reiches konnte den jüdisch-nationalen Bedürfnissen nicht genügen. So ist der „katastrophale" Zionismus, der Glaube an die Schaffung eines Judenstaats mit einem Schlage, die Hoffnung auf die plötzliche und radikale Lösung der Judenfrage, vor der Macht der Tatsachen als Illusion erwiesen und dem Entwicklungscharakter der Bewegung zufolge ab¬ gelöst worden durch den „synthetischen" Zionismus, der in der gegenwärtigen Palästinaarbeit die Synthese von Politischen und Praktischen findet. Dieser Ruf nach Gegenwartsarbeit, der heute weit über die Kreise der organisierten Zionisten hinaus die Stimmung des gesamten palästinatreuen Judentums wiedergibt, ist aber so wenig als eine Reaktion gegen den soge¬ nannten „politischen" Zionismus oder als ein Rückfall in die unsystematische Kleinkolonisation zu beurteilen, daß er vielmehr in Verwirklichung des ersten Programmpunktes die notwendige Weiterbildung der zionistischen Idee darstellt. Denn eine reale Politik, wie sie der Zionismus gegenwärtig bewußt treibt, um¬ spannt nicht allein die Idee, auch nicht allein die Wirklichkeit, sondern beides. Erst Basis und Spitze ergeben zusammengenommen die Pyramide, der sich eine realpolitische Bewegung vergleichen läßt. So soll durch die praktische Arbeit der Boden der Diplomatie keineswegs verlassen werden; im Gegenteil, die diplo¬ matische Tätigkeit soll sich nicht auf die Forderung eines Charters im Sinne der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/296>, abgerufen am 01.09.2024.