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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Naturwissenschaft und Theismus

natürlich Atheist sein oder wenigstens den Atheismus heucheln. Der Bildungs¬
philister will aber auch für wissenschaftlich gehalten werden und sich einbilden
können, auf der Höhe der modernen, der allermodernsten Wissenschaft zu stehen.
Und Haeckel demonstriert ihm nun in den Welträtseln und sagt, daß die Bio¬
logie die Nichtexistenz Gottes bewiesen hat, und daß der Glaube an Gott eine
Ketzerei gegen die unfehlbare Naturwissenschaft ist. Und so hat sich denn der
unerträgliche Zustand ergeben, daß die sehr zahlreiche Presse des Bildungs¬
philisters täglich mit Hunderttausenden von Stimmen verkündet: nirgends ist
wahre, echte und untrügliche Wissenschaft zu finden als bei Haeckel, und diese
Wissenschaft hat den Atheismus gegen jeden Zweifel sichergestellt. Und sie
dürfen dergleichen täglich verkündigen, ohne durch wirksamen Widerspruch ge¬
hemmt zu werden. Von den Naturforschern entbehren die einen der Gabe
populärer Darstellung. Andre sind mit Haeckel im Atheismus einig. Wenn
sie demnach auch mit seinen biologischen Ansichten nicht einverstanden sind, wagen
sie es nicht, ihm vor der breiten Öffentlichkeit entgegenzutreten, aus Furcht,
dadurch könnte die Sache der Gegner gefördert werden. Darum beschränken sie
sich darauf, die biologischen Ansichten Haeckels in Fachzeitschriften zu kritisieren.
Selbst die so überzeugende, dreißig Jahre lang unermüdlich fortgesetzte Polemik
und Kritik Eduards von Hartmann (der, nebenbei gesagt, ein entschiedner und
beinahe fanatischer Gegner der katholischen Kirche war) konnte nicht in weitere
Kreise dringen, weil er in wissenschaftlichen Abhandlungen niemals populär
sprach. Kein Gedanke daran, daß "Primaner, Seminaristen und Backfische"
Hartmanns biologische Schriften hätten lesen können; dergleichen Leutchen lesen
nicht einmal die Grenzboten, die sich bemühen, die Gelehrtensprache in verstündliches
Deutsch zu übersetzen. Und so herrscht denn Haeckel in den Köpfen des Bildungs-
philisteriums, der modernen Jugend und -- der sozialdemokratischen Arbeiter¬
schaft unumschränkt.

Die kirchenfeindliche Stimmung der meisten Naturforscher ist nicht schwer
zu erklären! man braucht bloß die Worte Inquisition und Hexenprozeß auszu¬
sprechen und die drei Namen Servet, Giordano Bruno, Galilei zu nennen.
Die Weltgeschichte zeigt nun zwar, daß die Mißverdienste der Kirche durch ihre
Leistungen für das Wohl der Menschheit reichlich aufgewogen werden, jedoch
sind eingehende historische Studien den Spezialisten der verschiednen Natur¬
wissenschaften nicht zuzumuten. Dagegen könnten sie ohne mühsames Studium
durch bloße Beobachtung der Wirklichkeit etwas andres lernen: daß die
Kirchen, was sie auch immer in ältern Zeiten verbrochen haben mögen, heute
von Millionen Gläubigen als ein hohes Gut geschützt und als ein unentbehr-
uches Mittel zur Befriedigung seelischer Bedürfnisse empfunden werden. Gewiß
wäre so manche Reform der kirchlichen Praxis zu wünschen, gewiß möchten
wir so manches Kirchendogma beseitigt oder wenigstens in Vergessenheit ge¬
bracht sehen; Dogmen, aus denen die gröbsten Verirrungen der Hierarchie ent¬
sprungen sind; Dogmen, die nicht zwar der Biologie widersprechen -- von den


Grenzboten III 1907 26
Naturwissenschaft und Theismus

natürlich Atheist sein oder wenigstens den Atheismus heucheln. Der Bildungs¬
philister will aber auch für wissenschaftlich gehalten werden und sich einbilden
können, auf der Höhe der modernen, der allermodernsten Wissenschaft zu stehen.
Und Haeckel demonstriert ihm nun in den Welträtseln und sagt, daß die Bio¬
logie die Nichtexistenz Gottes bewiesen hat, und daß der Glaube an Gott eine
Ketzerei gegen die unfehlbare Naturwissenschaft ist. Und so hat sich denn der
unerträgliche Zustand ergeben, daß die sehr zahlreiche Presse des Bildungs¬
philisters täglich mit Hunderttausenden von Stimmen verkündet: nirgends ist
wahre, echte und untrügliche Wissenschaft zu finden als bei Haeckel, und diese
Wissenschaft hat den Atheismus gegen jeden Zweifel sichergestellt. Und sie
dürfen dergleichen täglich verkündigen, ohne durch wirksamen Widerspruch ge¬
hemmt zu werden. Von den Naturforschern entbehren die einen der Gabe
populärer Darstellung. Andre sind mit Haeckel im Atheismus einig. Wenn
sie demnach auch mit seinen biologischen Ansichten nicht einverstanden sind, wagen
sie es nicht, ihm vor der breiten Öffentlichkeit entgegenzutreten, aus Furcht,
dadurch könnte die Sache der Gegner gefördert werden. Darum beschränken sie
sich darauf, die biologischen Ansichten Haeckels in Fachzeitschriften zu kritisieren.
Selbst die so überzeugende, dreißig Jahre lang unermüdlich fortgesetzte Polemik
und Kritik Eduards von Hartmann (der, nebenbei gesagt, ein entschiedner und
beinahe fanatischer Gegner der katholischen Kirche war) konnte nicht in weitere
Kreise dringen, weil er in wissenschaftlichen Abhandlungen niemals populär
sprach. Kein Gedanke daran, daß „Primaner, Seminaristen und Backfische"
Hartmanns biologische Schriften hätten lesen können; dergleichen Leutchen lesen
nicht einmal die Grenzboten, die sich bemühen, die Gelehrtensprache in verstündliches
Deutsch zu übersetzen. Und so herrscht denn Haeckel in den Köpfen des Bildungs-
philisteriums, der modernen Jugend und — der sozialdemokratischen Arbeiter¬
schaft unumschränkt.

Die kirchenfeindliche Stimmung der meisten Naturforscher ist nicht schwer
zu erklären! man braucht bloß die Worte Inquisition und Hexenprozeß auszu¬
sprechen und die drei Namen Servet, Giordano Bruno, Galilei zu nennen.
Die Weltgeschichte zeigt nun zwar, daß die Mißverdienste der Kirche durch ihre
Leistungen für das Wohl der Menschheit reichlich aufgewogen werden, jedoch
sind eingehende historische Studien den Spezialisten der verschiednen Natur¬
wissenschaften nicht zuzumuten. Dagegen könnten sie ohne mühsames Studium
durch bloße Beobachtung der Wirklichkeit etwas andres lernen: daß die
Kirchen, was sie auch immer in ältern Zeiten verbrochen haben mögen, heute
von Millionen Gläubigen als ein hohes Gut geschützt und als ein unentbehr-
uches Mittel zur Befriedigung seelischer Bedürfnisse empfunden werden. Gewiß
wäre so manche Reform der kirchlichen Praxis zu wünschen, gewiß möchten
wir so manches Kirchendogma beseitigt oder wenigstens in Vergessenheit ge¬
bracht sehen; Dogmen, aus denen die gröbsten Verirrungen der Hierarchie ent¬
sprungen sind; Dogmen, die nicht zwar der Biologie widersprechen — von den


Grenzboten III 1907 26
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[0201] Naturwissenschaft und Theismus natürlich Atheist sein oder wenigstens den Atheismus heucheln. Der Bildungs¬ philister will aber auch für wissenschaftlich gehalten werden und sich einbilden können, auf der Höhe der modernen, der allermodernsten Wissenschaft zu stehen. Und Haeckel demonstriert ihm nun in den Welträtseln und sagt, daß die Bio¬ logie die Nichtexistenz Gottes bewiesen hat, und daß der Glaube an Gott eine Ketzerei gegen die unfehlbare Naturwissenschaft ist. Und so hat sich denn der unerträgliche Zustand ergeben, daß die sehr zahlreiche Presse des Bildungs¬ philisters täglich mit Hunderttausenden von Stimmen verkündet: nirgends ist wahre, echte und untrügliche Wissenschaft zu finden als bei Haeckel, und diese Wissenschaft hat den Atheismus gegen jeden Zweifel sichergestellt. Und sie dürfen dergleichen täglich verkündigen, ohne durch wirksamen Widerspruch ge¬ hemmt zu werden. Von den Naturforschern entbehren die einen der Gabe populärer Darstellung. Andre sind mit Haeckel im Atheismus einig. Wenn sie demnach auch mit seinen biologischen Ansichten nicht einverstanden sind, wagen sie es nicht, ihm vor der breiten Öffentlichkeit entgegenzutreten, aus Furcht, dadurch könnte die Sache der Gegner gefördert werden. Darum beschränken sie sich darauf, die biologischen Ansichten Haeckels in Fachzeitschriften zu kritisieren. Selbst die so überzeugende, dreißig Jahre lang unermüdlich fortgesetzte Polemik und Kritik Eduards von Hartmann (der, nebenbei gesagt, ein entschiedner und beinahe fanatischer Gegner der katholischen Kirche war) konnte nicht in weitere Kreise dringen, weil er in wissenschaftlichen Abhandlungen niemals populär sprach. Kein Gedanke daran, daß „Primaner, Seminaristen und Backfische" Hartmanns biologische Schriften hätten lesen können; dergleichen Leutchen lesen nicht einmal die Grenzboten, die sich bemühen, die Gelehrtensprache in verstündliches Deutsch zu übersetzen. Und so herrscht denn Haeckel in den Köpfen des Bildungs- philisteriums, der modernen Jugend und — der sozialdemokratischen Arbeiter¬ schaft unumschränkt. Die kirchenfeindliche Stimmung der meisten Naturforscher ist nicht schwer zu erklären! man braucht bloß die Worte Inquisition und Hexenprozeß auszu¬ sprechen und die drei Namen Servet, Giordano Bruno, Galilei zu nennen. Die Weltgeschichte zeigt nun zwar, daß die Mißverdienste der Kirche durch ihre Leistungen für das Wohl der Menschheit reichlich aufgewogen werden, jedoch sind eingehende historische Studien den Spezialisten der verschiednen Natur¬ wissenschaften nicht zuzumuten. Dagegen könnten sie ohne mühsames Studium durch bloße Beobachtung der Wirklichkeit etwas andres lernen: daß die Kirchen, was sie auch immer in ältern Zeiten verbrochen haben mögen, heute von Millionen Gläubigen als ein hohes Gut geschützt und als ein unentbehr- uches Mittel zur Befriedigung seelischer Bedürfnisse empfunden werden. Gewiß wäre so manche Reform der kirchlichen Praxis zu wünschen, gewiß möchten wir so manches Kirchendogma beseitigt oder wenigstens in Vergessenheit ge¬ bracht sehen; Dogmen, aus denen die gröbsten Verirrungen der Hierarchie ent¬ sprungen sind; Dogmen, die nicht zwar der Biologie widersprechen — von den Grenzboten III 1907 26

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/201>, abgerufen am 01.09.2024.