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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Naturwissenschaft und Theismus

Gehirn schließen läßt, scheint aber einer Affenart anzugehören, nach R. Hertwig
einem ausgestorbnen Typus aus der Verwandtschaft des Gibbon---- In jedem
Falle bleibt eine tierische Abstammung des Menschen unbewiesen; sie ist eine
willkürliche Hypothese, ein Spiel der Gedanken, der Phantasie. Will man aber
aus der Ähnlichkeit zwischen Menschen- und Affengestalt auf den Ursprung aus
gemeinsamem Stamme schließen, so enthält die Hypothese der Abzweigung des
Menschen aus der Stammlinie eines Menschenaffen etwas überaus Gewalt¬
sames, weil die Entstehung eines Menschengehirns aus einem Affengehirn einen
ungeheuern Sprung bedeuten würde, wie er niemals erfahrungsmäßig bei
sonstigen Abänderungen von Tieren beobachtet worden ist. Es kann hierbei
nicht ankommen auf Umfang und Gewicht des Gehirns, sondern nur auf seine
feinste innere Organisation, die dem Menschen sein ganzes geistiges Leben
ermöglicht, während die seelischen Fähigkeiten den Affen unbedingt in die Tier¬
welt verweisen. Für den fundamentalen Unterschied der seelischen Eigenschaften
spricht genugsam die eine Tatsache, daß die Affen seit der Diluvialzeit keine
geistige und damit geschichtliche Fortentwicklung gezeigt haben, sondern ganz
und gar auf der Stufe der Säugetiere verharren." Dennert gibt in seinem
neuesten Buche eine Anzahl Proben davon, wie Haeckel mit den Tatsachen
umzuspringen sich erlaubt; eine davon bezieht sich auf den Pithekanthropus.
Das Ergebnis der Untersuchung der Knochenreste dieses "Affenmenschen" ist
heute etwa folgendes: für einen Menschenaffen halten ihn zehn, darunter
Virchow und Ranke; für einen Menschen sieben, für eine Zwischenform auch
sieben. Wie unterrichtet nun Haeckel seine Gläubigen von diesem Ergebnis?
Er behauptet in seinem Buche "Aus Jnsulinde", daß die Deutung dieser Knochen
"als Überreste eines wirklichen" Mittelglied es zwischen den ältern Menschenaffen
und den ältesten Urmenschen jetzt von fast allen sachkundigen Naturforschern
angenommen ist". Am Schlüsse seiner Betrachtung über die Darwin-Haeckelsche
Abstammungshypothese schreibt Reinke: "Bei dieser Auffassung bin ich mir
völliger Wunschlosigkeit bewußt. Wäre die Naturforschung imstande, den Ursprung
des Menschen tatsächlich aufzuklären, so wäre mir jede Lösung recht, die der Wahr¬
heit entspräche. Ich kann aber nicht verhehlen, daß nach meiner Ansicht die Männer,
die heute als Dogma verkünden, die Abstammung des Menschen von einem
Menschenaffen sei bewiesen, bewiesen durch den Pithekanthropus, den Neandertal-
schüdcl, die Ähnlichkeit des Blutes usw., von einem Vorurteile bzw. Wunsche sich
leiten lassen und, aller Regeln der Naturwissenschaft vergessend, da von Beweisen
sprechen, wo nur von fernen Möglichkeiten die Rede sein kann."

In jüngster Zeit hat sich Reinke veranlaßt gesehen, gegen das Haeckeltum
eine Broschüre zu veröffentlichen: Haeckels Monismus und seine Freunde.
Ein freies Wort über freie Wissenschaft. (Leipzig, Johann Ambrosius Barch,
1907.) Er erzählt darin, bisher habe er den Haeckelschen Lehren nur seine
eignen in positiver Form entgegengestellt, und zwar in der wissenschaftlich allein
gerechtfertigten Form, die deutlich hervortreten läßt, was wir wissen, was wir


Grenzboten III 1907 25
Naturwissenschaft und Theismus

Gehirn schließen läßt, scheint aber einer Affenart anzugehören, nach R. Hertwig
einem ausgestorbnen Typus aus der Verwandtschaft des Gibbon---- In jedem
Falle bleibt eine tierische Abstammung des Menschen unbewiesen; sie ist eine
willkürliche Hypothese, ein Spiel der Gedanken, der Phantasie. Will man aber
aus der Ähnlichkeit zwischen Menschen- und Affengestalt auf den Ursprung aus
gemeinsamem Stamme schließen, so enthält die Hypothese der Abzweigung des
Menschen aus der Stammlinie eines Menschenaffen etwas überaus Gewalt¬
sames, weil die Entstehung eines Menschengehirns aus einem Affengehirn einen
ungeheuern Sprung bedeuten würde, wie er niemals erfahrungsmäßig bei
sonstigen Abänderungen von Tieren beobachtet worden ist. Es kann hierbei
nicht ankommen auf Umfang und Gewicht des Gehirns, sondern nur auf seine
feinste innere Organisation, die dem Menschen sein ganzes geistiges Leben
ermöglicht, während die seelischen Fähigkeiten den Affen unbedingt in die Tier¬
welt verweisen. Für den fundamentalen Unterschied der seelischen Eigenschaften
spricht genugsam die eine Tatsache, daß die Affen seit der Diluvialzeit keine
geistige und damit geschichtliche Fortentwicklung gezeigt haben, sondern ganz
und gar auf der Stufe der Säugetiere verharren." Dennert gibt in seinem
neuesten Buche eine Anzahl Proben davon, wie Haeckel mit den Tatsachen
umzuspringen sich erlaubt; eine davon bezieht sich auf den Pithekanthropus.
Das Ergebnis der Untersuchung der Knochenreste dieses „Affenmenschen" ist
heute etwa folgendes: für einen Menschenaffen halten ihn zehn, darunter
Virchow und Ranke; für einen Menschen sieben, für eine Zwischenform auch
sieben. Wie unterrichtet nun Haeckel seine Gläubigen von diesem Ergebnis?
Er behauptet in seinem Buche „Aus Jnsulinde", daß die Deutung dieser Knochen
„als Überreste eines wirklichen" Mittelglied es zwischen den ältern Menschenaffen
und den ältesten Urmenschen jetzt von fast allen sachkundigen Naturforschern
angenommen ist". Am Schlüsse seiner Betrachtung über die Darwin-Haeckelsche
Abstammungshypothese schreibt Reinke: „Bei dieser Auffassung bin ich mir
völliger Wunschlosigkeit bewußt. Wäre die Naturforschung imstande, den Ursprung
des Menschen tatsächlich aufzuklären, so wäre mir jede Lösung recht, die der Wahr¬
heit entspräche. Ich kann aber nicht verhehlen, daß nach meiner Ansicht die Männer,
die heute als Dogma verkünden, die Abstammung des Menschen von einem
Menschenaffen sei bewiesen, bewiesen durch den Pithekanthropus, den Neandertal-
schüdcl, die Ähnlichkeit des Blutes usw., von einem Vorurteile bzw. Wunsche sich
leiten lassen und, aller Regeln der Naturwissenschaft vergessend, da von Beweisen
sprechen, wo nur von fernen Möglichkeiten die Rede sein kann."

In jüngster Zeit hat sich Reinke veranlaßt gesehen, gegen das Haeckeltum
eine Broschüre zu veröffentlichen: Haeckels Monismus und seine Freunde.
Ein freies Wort über freie Wissenschaft. (Leipzig, Johann Ambrosius Barch,
1907.) Er erzählt darin, bisher habe er den Haeckelschen Lehren nur seine
eignen in positiver Form entgegengestellt, und zwar in der wissenschaftlich allein
gerechtfertigten Form, die deutlich hervortreten läßt, was wir wissen, was wir


Grenzboten III 1907 25
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[0193] Naturwissenschaft und Theismus Gehirn schließen läßt, scheint aber einer Affenart anzugehören, nach R. Hertwig einem ausgestorbnen Typus aus der Verwandtschaft des Gibbon---- In jedem Falle bleibt eine tierische Abstammung des Menschen unbewiesen; sie ist eine willkürliche Hypothese, ein Spiel der Gedanken, der Phantasie. Will man aber aus der Ähnlichkeit zwischen Menschen- und Affengestalt auf den Ursprung aus gemeinsamem Stamme schließen, so enthält die Hypothese der Abzweigung des Menschen aus der Stammlinie eines Menschenaffen etwas überaus Gewalt¬ sames, weil die Entstehung eines Menschengehirns aus einem Affengehirn einen ungeheuern Sprung bedeuten würde, wie er niemals erfahrungsmäßig bei sonstigen Abänderungen von Tieren beobachtet worden ist. Es kann hierbei nicht ankommen auf Umfang und Gewicht des Gehirns, sondern nur auf seine feinste innere Organisation, die dem Menschen sein ganzes geistiges Leben ermöglicht, während die seelischen Fähigkeiten den Affen unbedingt in die Tier¬ welt verweisen. Für den fundamentalen Unterschied der seelischen Eigenschaften spricht genugsam die eine Tatsache, daß die Affen seit der Diluvialzeit keine geistige und damit geschichtliche Fortentwicklung gezeigt haben, sondern ganz und gar auf der Stufe der Säugetiere verharren." Dennert gibt in seinem neuesten Buche eine Anzahl Proben davon, wie Haeckel mit den Tatsachen umzuspringen sich erlaubt; eine davon bezieht sich auf den Pithekanthropus. Das Ergebnis der Untersuchung der Knochenreste dieses „Affenmenschen" ist heute etwa folgendes: für einen Menschenaffen halten ihn zehn, darunter Virchow und Ranke; für einen Menschen sieben, für eine Zwischenform auch sieben. Wie unterrichtet nun Haeckel seine Gläubigen von diesem Ergebnis? Er behauptet in seinem Buche „Aus Jnsulinde", daß die Deutung dieser Knochen „als Überreste eines wirklichen" Mittelglied es zwischen den ältern Menschenaffen und den ältesten Urmenschen jetzt von fast allen sachkundigen Naturforschern angenommen ist". Am Schlüsse seiner Betrachtung über die Darwin-Haeckelsche Abstammungshypothese schreibt Reinke: „Bei dieser Auffassung bin ich mir völliger Wunschlosigkeit bewußt. Wäre die Naturforschung imstande, den Ursprung des Menschen tatsächlich aufzuklären, so wäre mir jede Lösung recht, die der Wahr¬ heit entspräche. Ich kann aber nicht verhehlen, daß nach meiner Ansicht die Männer, die heute als Dogma verkünden, die Abstammung des Menschen von einem Menschenaffen sei bewiesen, bewiesen durch den Pithekanthropus, den Neandertal- schüdcl, die Ähnlichkeit des Blutes usw., von einem Vorurteile bzw. Wunsche sich leiten lassen und, aller Regeln der Naturwissenschaft vergessend, da von Beweisen sprechen, wo nur von fernen Möglichkeiten die Rede sein kann." In jüngster Zeit hat sich Reinke veranlaßt gesehen, gegen das Haeckeltum eine Broschüre zu veröffentlichen: Haeckels Monismus und seine Freunde. Ein freies Wort über freie Wissenschaft. (Leipzig, Johann Ambrosius Barch, 1907.) Er erzählt darin, bisher habe er den Haeckelschen Lehren nur seine eignen in positiver Form entgegengestellt, und zwar in der wissenschaftlich allein gerechtfertigten Form, die deutlich hervortreten läßt, was wir wissen, was wir Grenzboten III 1907 25

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/193>, abgerufen am 01.09.2024.