Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Zum Ursprung des Märchens

fallen zu lassen und die Motive in andre Verbindung zu bringen. So bildet
sich neben den Götter-, Stammes- und Tiersagen eine feste Tradition von
Erzählungen, in denen ein Held nacheinander eine oft endlos ausgedehnte Reihe
von Abenteuern zu bestehn hat. Solche Helden sind Zauberer, große Jäger,
tapfere Häuptlingssöhne, schöne junge Mädchen, es kommen auch überirdische
Personen als Helden vor. Auf diese vereinigen sich nun die bekannten Märchen¬
motive -- soziale, zauberische, religiös-mythische --, wie sie oben gekennzeichnet
worden sind.

Solche Erzählungen müssen wir also als die Vorstufe des Märchens be¬
trachten.

In diesem ganzen Prozeß sind nun noch einige andre Dinge wirksam, auf
die wir unsre Aufmerksamkeit richten müssen, ehe wir daran gehn, einige der
Richtungslinien aufzudecken, in denen die Entwicklung des Märchens weiter
verläuft, sobald das märchenerzählende Volk den gebundnen Zustand primitiver
Lebensform überwunden hat. Diese Dinge sind die Neigung zur Verallge¬
meinerung, zur Typisierung und zum Extrem. Schon in der primitiven Zeit
wird die Geschichte gern in die Vergangenheit verlegt; dadurch werden die zu¬
grunde gelegten individuellen Verhältnisse allgemein und unpersönlich. Die
Handlung spielt in einer Zeit, "wo die Väter unsrer Väter Kinder waren", oder
"wo der weiße Mann noch nicht im Lande war", oder schließlich in einer
fernen, unbestimmten Vergangenheit. Wenn der Naturmensch auch gern an
dem Namen seines Helden festhält, so zeigt sich doch schon die Tendenz, ganz
allgemein von einem Mann, einem Häuptling, einem Mädchen zu sprechen und
im übrigen den Helden keinen persönlichen Eigennamen, sondern eine Appellativ¬
bezeichnung beizulegen. Der Schauplatz des Märchens ist nicht ein bestimmtes
Dorf, sondern allgemein ein Kraal, eine Hütte usw. Schon hier ist der Wald
im allgemein gefaßten, unbestimmten Sinne der beliebteste Schauplatz der
Mürchenhandlung. Nirgends findet man einen Versuch zur nähern Charak¬
terisierung oder gar zur Beschreibung eines Schauplatzes, denn das ist ganz
entgegen der Denkanlage und der Einbildungskraft des Naturmenschen. Aus
der Enge des triebhaften Denkens heraus werden auch die persönlichen Hand¬
lungen des Helden und ihre seelischen Grundlagen verallgemeinert. Von der
Verallgemeinerung zur Typisierung ist nur ein Schritt. Und auch dieser
Schritt ist in gewissem Maße schon im primitiven Märchen vollzogen. Der
Naturmensch vermag zwar nicht aus der Fülle der Erfahrung heraus durch
einen angestrengten Denkakt das Gemeinsame, Typische aus der Fülle des Indi¬
viduellen zu abstrahieren, sondern er gelangt zum Typischen auf die entgegen¬
gesetzte Weise. Die wenigen Kategorien, über die er verfügt, müssen die ganze
Masse der Erscheinungen und der Erfahrungen umfassen. Dazu kommt, daß im
Wesen der Tradition schon eine Tendenz der Typisierung liegt. Die immer
wiederholte Verwendung derselben Helden und derselben Situationen mußte
notwendig zum Typischen führen. Wir haben typische Personen, typische Hand-


Zum Ursprung des Märchens

fallen zu lassen und die Motive in andre Verbindung zu bringen. So bildet
sich neben den Götter-, Stammes- und Tiersagen eine feste Tradition von
Erzählungen, in denen ein Held nacheinander eine oft endlos ausgedehnte Reihe
von Abenteuern zu bestehn hat. Solche Helden sind Zauberer, große Jäger,
tapfere Häuptlingssöhne, schöne junge Mädchen, es kommen auch überirdische
Personen als Helden vor. Auf diese vereinigen sich nun die bekannten Märchen¬
motive — soziale, zauberische, religiös-mythische —, wie sie oben gekennzeichnet
worden sind.

Solche Erzählungen müssen wir also als die Vorstufe des Märchens be¬
trachten.

In diesem ganzen Prozeß sind nun noch einige andre Dinge wirksam, auf
die wir unsre Aufmerksamkeit richten müssen, ehe wir daran gehn, einige der
Richtungslinien aufzudecken, in denen die Entwicklung des Märchens weiter
verläuft, sobald das märchenerzählende Volk den gebundnen Zustand primitiver
Lebensform überwunden hat. Diese Dinge sind die Neigung zur Verallge¬
meinerung, zur Typisierung und zum Extrem. Schon in der primitiven Zeit
wird die Geschichte gern in die Vergangenheit verlegt; dadurch werden die zu¬
grunde gelegten individuellen Verhältnisse allgemein und unpersönlich. Die
Handlung spielt in einer Zeit, „wo die Väter unsrer Väter Kinder waren", oder
„wo der weiße Mann noch nicht im Lande war", oder schließlich in einer
fernen, unbestimmten Vergangenheit. Wenn der Naturmensch auch gern an
dem Namen seines Helden festhält, so zeigt sich doch schon die Tendenz, ganz
allgemein von einem Mann, einem Häuptling, einem Mädchen zu sprechen und
im übrigen den Helden keinen persönlichen Eigennamen, sondern eine Appellativ¬
bezeichnung beizulegen. Der Schauplatz des Märchens ist nicht ein bestimmtes
Dorf, sondern allgemein ein Kraal, eine Hütte usw. Schon hier ist der Wald
im allgemein gefaßten, unbestimmten Sinne der beliebteste Schauplatz der
Mürchenhandlung. Nirgends findet man einen Versuch zur nähern Charak¬
terisierung oder gar zur Beschreibung eines Schauplatzes, denn das ist ganz
entgegen der Denkanlage und der Einbildungskraft des Naturmenschen. Aus
der Enge des triebhaften Denkens heraus werden auch die persönlichen Hand¬
lungen des Helden und ihre seelischen Grundlagen verallgemeinert. Von der
Verallgemeinerung zur Typisierung ist nur ein Schritt. Und auch dieser
Schritt ist in gewissem Maße schon im primitiven Märchen vollzogen. Der
Naturmensch vermag zwar nicht aus der Fülle der Erfahrung heraus durch
einen angestrengten Denkakt das Gemeinsame, Typische aus der Fülle des Indi¬
viduellen zu abstrahieren, sondern er gelangt zum Typischen auf die entgegen¬
gesetzte Weise. Die wenigen Kategorien, über die er verfügt, müssen die ganze
Masse der Erscheinungen und der Erfahrungen umfassen. Dazu kommt, daß im
Wesen der Tradition schon eine Tendenz der Typisierung liegt. Die immer
wiederholte Verwendung derselben Helden und derselben Situationen mußte
notwendig zum Typischen führen. Wir haben typische Personen, typische Hand-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0148" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/302850"/>
          <fw type="header" place="top"> Zum Ursprung des Märchens</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_569" prev="#ID_568"> fallen zu lassen und die Motive in andre Verbindung zu bringen. So bildet<lb/>
sich neben den Götter-, Stammes- und Tiersagen eine feste Tradition von<lb/>
Erzählungen, in denen ein Held nacheinander eine oft endlos ausgedehnte Reihe<lb/>
von Abenteuern zu bestehn hat. Solche Helden sind Zauberer, große Jäger,<lb/>
tapfere Häuptlingssöhne, schöne junge Mädchen, es kommen auch überirdische<lb/>
Personen als Helden vor. Auf diese vereinigen sich nun die bekannten Märchen¬<lb/>
motive &#x2014; soziale, zauberische, religiös-mythische &#x2014;, wie sie oben gekennzeichnet<lb/>
worden sind.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_570"> Solche Erzählungen müssen wir also als die Vorstufe des Märchens be¬<lb/>
trachten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_571" next="#ID_572"> In diesem ganzen Prozeß sind nun noch einige andre Dinge wirksam, auf<lb/>
die wir unsre Aufmerksamkeit richten müssen, ehe wir daran gehn, einige der<lb/>
Richtungslinien aufzudecken, in denen die Entwicklung des Märchens weiter<lb/>
verläuft, sobald das märchenerzählende Volk den gebundnen Zustand primitiver<lb/>
Lebensform überwunden hat. Diese Dinge sind die Neigung zur Verallge¬<lb/>
meinerung, zur Typisierung und zum Extrem. Schon in der primitiven Zeit<lb/>
wird die Geschichte gern in die Vergangenheit verlegt; dadurch werden die zu¬<lb/>
grunde gelegten individuellen Verhältnisse allgemein und unpersönlich. Die<lb/>
Handlung spielt in einer Zeit, &#x201E;wo die Väter unsrer Väter Kinder waren", oder<lb/>
&#x201E;wo der weiße Mann noch nicht im Lande war", oder schließlich in einer<lb/>
fernen, unbestimmten Vergangenheit. Wenn der Naturmensch auch gern an<lb/>
dem Namen seines Helden festhält, so zeigt sich doch schon die Tendenz, ganz<lb/>
allgemein von einem Mann, einem Häuptling, einem Mädchen zu sprechen und<lb/>
im übrigen den Helden keinen persönlichen Eigennamen, sondern eine Appellativ¬<lb/>
bezeichnung beizulegen. Der Schauplatz des Märchens ist nicht ein bestimmtes<lb/>
Dorf, sondern allgemein ein Kraal, eine Hütte usw. Schon hier ist der Wald<lb/>
im allgemein gefaßten, unbestimmten Sinne der beliebteste Schauplatz der<lb/>
Mürchenhandlung. Nirgends findet man einen Versuch zur nähern Charak¬<lb/>
terisierung oder gar zur Beschreibung eines Schauplatzes, denn das ist ganz<lb/>
entgegen der Denkanlage und der Einbildungskraft des Naturmenschen. Aus<lb/>
der Enge des triebhaften Denkens heraus werden auch die persönlichen Hand¬<lb/>
lungen des Helden und ihre seelischen Grundlagen verallgemeinert. Von der<lb/>
Verallgemeinerung zur Typisierung ist nur ein Schritt. Und auch dieser<lb/>
Schritt ist in gewissem Maße schon im primitiven Märchen vollzogen. Der<lb/>
Naturmensch vermag zwar nicht aus der Fülle der Erfahrung heraus durch<lb/>
einen angestrengten Denkakt das Gemeinsame, Typische aus der Fülle des Indi¬<lb/>
viduellen zu abstrahieren, sondern er gelangt zum Typischen auf die entgegen¬<lb/>
gesetzte Weise. Die wenigen Kategorien, über die er verfügt, müssen die ganze<lb/>
Masse der Erscheinungen und der Erfahrungen umfassen. Dazu kommt, daß im<lb/>
Wesen der Tradition schon eine Tendenz der Typisierung liegt. Die immer<lb/>
wiederholte Verwendung derselben Helden und derselben Situationen mußte<lb/>
notwendig zum Typischen führen. Wir haben typische Personen, typische Hand-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0148] Zum Ursprung des Märchens fallen zu lassen und die Motive in andre Verbindung zu bringen. So bildet sich neben den Götter-, Stammes- und Tiersagen eine feste Tradition von Erzählungen, in denen ein Held nacheinander eine oft endlos ausgedehnte Reihe von Abenteuern zu bestehn hat. Solche Helden sind Zauberer, große Jäger, tapfere Häuptlingssöhne, schöne junge Mädchen, es kommen auch überirdische Personen als Helden vor. Auf diese vereinigen sich nun die bekannten Märchen¬ motive — soziale, zauberische, religiös-mythische —, wie sie oben gekennzeichnet worden sind. Solche Erzählungen müssen wir also als die Vorstufe des Märchens be¬ trachten. In diesem ganzen Prozeß sind nun noch einige andre Dinge wirksam, auf die wir unsre Aufmerksamkeit richten müssen, ehe wir daran gehn, einige der Richtungslinien aufzudecken, in denen die Entwicklung des Märchens weiter verläuft, sobald das märchenerzählende Volk den gebundnen Zustand primitiver Lebensform überwunden hat. Diese Dinge sind die Neigung zur Verallge¬ meinerung, zur Typisierung und zum Extrem. Schon in der primitiven Zeit wird die Geschichte gern in die Vergangenheit verlegt; dadurch werden die zu¬ grunde gelegten individuellen Verhältnisse allgemein und unpersönlich. Die Handlung spielt in einer Zeit, „wo die Väter unsrer Väter Kinder waren", oder „wo der weiße Mann noch nicht im Lande war", oder schließlich in einer fernen, unbestimmten Vergangenheit. Wenn der Naturmensch auch gern an dem Namen seines Helden festhält, so zeigt sich doch schon die Tendenz, ganz allgemein von einem Mann, einem Häuptling, einem Mädchen zu sprechen und im übrigen den Helden keinen persönlichen Eigennamen, sondern eine Appellativ¬ bezeichnung beizulegen. Der Schauplatz des Märchens ist nicht ein bestimmtes Dorf, sondern allgemein ein Kraal, eine Hütte usw. Schon hier ist der Wald im allgemein gefaßten, unbestimmten Sinne der beliebteste Schauplatz der Mürchenhandlung. Nirgends findet man einen Versuch zur nähern Charak¬ terisierung oder gar zur Beschreibung eines Schauplatzes, denn das ist ganz entgegen der Denkanlage und der Einbildungskraft des Naturmenschen. Aus der Enge des triebhaften Denkens heraus werden auch die persönlichen Hand¬ lungen des Helden und ihre seelischen Grundlagen verallgemeinert. Von der Verallgemeinerung zur Typisierung ist nur ein Schritt. Und auch dieser Schritt ist in gewissem Maße schon im primitiven Märchen vollzogen. Der Naturmensch vermag zwar nicht aus der Fülle der Erfahrung heraus durch einen angestrengten Denkakt das Gemeinsame, Typische aus der Fülle des Indi¬ viduellen zu abstrahieren, sondern er gelangt zum Typischen auf die entgegen¬ gesetzte Weise. Die wenigen Kategorien, über die er verfügt, müssen die ganze Masse der Erscheinungen und der Erfahrungen umfassen. Dazu kommt, daß im Wesen der Tradition schon eine Tendenz der Typisierung liegt. Die immer wiederholte Verwendung derselben Helden und derselben Situationen mußte notwendig zum Typischen führen. Wir haben typische Personen, typische Hand-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/148
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/148>, abgerufen am 01.09.2024.