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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Die moderne chinesische Armee

die achtzehn Zentralprovinzen des chinesischen Reiches sowie über Chinesisch-
Turkestan und den Bezirk von Peking verteilt und stehen unter den Befehlen
und zur freien Verfügung der betreffenden Generalgouverneure. Über die tat¬
sächliche Stärke dieser Truppen lassen sich genaue Zahlen nicht aufstellen;
angeblich sollen 400000 Mann vorhanden sein, doch steht fest, daß die Pro-
vinzialvcrwaltungen die hohen Ziffern deswegen angeben, damit sie der Regie¬
rung in Peking einen möglichst hohen Betrag für ihren Unterhalt in Rechnung
stellen können, der dann zum großen Teil wieder ihren eignen Taschen zugute
kommt. Militärischen Wert hatten diese Truppen als Ganzes bisher nicht,
und ihrer Bestimmung, "zur Aufrechterhaltung der Ruhe und Ordnung im
Lande beizutragen", kamen sie so gut wie gar nicht nach, sodaß auch ihre all¬
mähliche Auflösung beschlossene Sache ist.

Es leuchtet ohne weiteres ein, daß die Mehrzahl der genannten Heeres¬
teile keinen Anspruch auf eine kriegsbrauchbare Truppe nach modernen Begriffen
erheben kann, und daß darum eine ganz neue Armee auf moderner Basis geschaffen
werden mußte, wenn das militärische Ansehen des Reiches der Mitte irgend¬
welche Bedeutung gewinnen wollte. Zur Lösung dieser schwierigen Aufgabe
wurde im Jahre 1901 der alte Li-Hung-Tschang berufen, der sich schon oft
als Retter in der Not bewährt hatte, und dessen Einfluß es auch früher schon
gelungen war, die ersten deutschen Instrukteure für die Ausbildung des chine¬
sischen Heeres zu gewinnen. Unter solcher Leitung wurden nach und nach aus
den besten Elementen der Banner- und der Provinzialtruppeu zwei Armeen
formiert, die unter der Bezeichnung Peiyang-Armee (in der Provinz Petschili)
und Hupei-Armee (in der Provinz Hupei am Mittellauf des Jangtse) den Kern
des heutigen chinesischen Heeres bilden und bestimmt sind, die Wehrkraft des
Landes einer neuen Blütezeit entgegenzuführen. Li - Hnng - Tschang hat die
Vollendung seines Werkes nicht erlebt, denn er starb, als es die ersten Früchte
zu tragen anfing, und Zucht und Ordnung in die Reihen der neu zusammen¬
gestellten Truppen kamen.

Von allen Nachfolgern dieses großen Staatsmannes hat Unan-Schikal, der,
nachdem er eine Zeit lang in Ungnade gefallen war, jetzt wieder der Höchst¬
kommandierende der chinesischen Truppen in der Provinz Petschili ist, das Werk
Li-Huug-Tschcmgs mit Eifer und Verständnis fortgesetzt, und reiche Erfolge
sind nicht ausgeblieben.

Schwierigkeiten, die Heeresorganisation schnell durchzuführen, macht der
Umstand, daß in China die allgemeine Wehrpflicht noch nicht eingeführt ist und
die Truppen nur angeworben werden. Infolge der guten Besoldung ist der
Andrang zwar sehr groß, aber im Gegensatz zu früher wird heute nicht jeder
Mann angenommen, sondern nur gesunde kräftige Leute vom besten Ruf, für
die das Heimatdorf Bürgschaft zu leisten hat, kommen für die Anwerbung in
Frage. Auch wird einige Kenntnis im Lesen und Schreiben verlangt. Die
Provinzen Honan und Shcmtung liefern die meisten und besten Rekruten. Der


Die moderne chinesische Armee

die achtzehn Zentralprovinzen des chinesischen Reiches sowie über Chinesisch-
Turkestan und den Bezirk von Peking verteilt und stehen unter den Befehlen
und zur freien Verfügung der betreffenden Generalgouverneure. Über die tat¬
sächliche Stärke dieser Truppen lassen sich genaue Zahlen nicht aufstellen;
angeblich sollen 400000 Mann vorhanden sein, doch steht fest, daß die Pro-
vinzialvcrwaltungen die hohen Ziffern deswegen angeben, damit sie der Regie¬
rung in Peking einen möglichst hohen Betrag für ihren Unterhalt in Rechnung
stellen können, der dann zum großen Teil wieder ihren eignen Taschen zugute
kommt. Militärischen Wert hatten diese Truppen als Ganzes bisher nicht,
und ihrer Bestimmung, „zur Aufrechterhaltung der Ruhe und Ordnung im
Lande beizutragen", kamen sie so gut wie gar nicht nach, sodaß auch ihre all¬
mähliche Auflösung beschlossene Sache ist.

Es leuchtet ohne weiteres ein, daß die Mehrzahl der genannten Heeres¬
teile keinen Anspruch auf eine kriegsbrauchbare Truppe nach modernen Begriffen
erheben kann, und daß darum eine ganz neue Armee auf moderner Basis geschaffen
werden mußte, wenn das militärische Ansehen des Reiches der Mitte irgend¬
welche Bedeutung gewinnen wollte. Zur Lösung dieser schwierigen Aufgabe
wurde im Jahre 1901 der alte Li-Hung-Tschang berufen, der sich schon oft
als Retter in der Not bewährt hatte, und dessen Einfluß es auch früher schon
gelungen war, die ersten deutschen Instrukteure für die Ausbildung des chine¬
sischen Heeres zu gewinnen. Unter solcher Leitung wurden nach und nach aus
den besten Elementen der Banner- und der Provinzialtruppeu zwei Armeen
formiert, die unter der Bezeichnung Peiyang-Armee (in der Provinz Petschili)
und Hupei-Armee (in der Provinz Hupei am Mittellauf des Jangtse) den Kern
des heutigen chinesischen Heeres bilden und bestimmt sind, die Wehrkraft des
Landes einer neuen Blütezeit entgegenzuführen. Li - Hnng - Tschang hat die
Vollendung seines Werkes nicht erlebt, denn er starb, als es die ersten Früchte
zu tragen anfing, und Zucht und Ordnung in die Reihen der neu zusammen¬
gestellten Truppen kamen.

Von allen Nachfolgern dieses großen Staatsmannes hat Unan-Schikal, der,
nachdem er eine Zeit lang in Ungnade gefallen war, jetzt wieder der Höchst¬
kommandierende der chinesischen Truppen in der Provinz Petschili ist, das Werk
Li-Huug-Tschcmgs mit Eifer und Verständnis fortgesetzt, und reiche Erfolge
sind nicht ausgeblieben.

Schwierigkeiten, die Heeresorganisation schnell durchzuführen, macht der
Umstand, daß in China die allgemeine Wehrpflicht noch nicht eingeführt ist und
die Truppen nur angeworben werden. Infolge der guten Besoldung ist der
Andrang zwar sehr groß, aber im Gegensatz zu früher wird heute nicht jeder
Mann angenommen, sondern nur gesunde kräftige Leute vom besten Ruf, für
die das Heimatdorf Bürgschaft zu leisten hat, kommen für die Anwerbung in
Frage. Auch wird einige Kenntnis im Lesen und Schreiben verlangt. Die
Provinzen Honan und Shcmtung liefern die meisten und besten Rekruten. Der


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[0115] Die moderne chinesische Armee die achtzehn Zentralprovinzen des chinesischen Reiches sowie über Chinesisch- Turkestan und den Bezirk von Peking verteilt und stehen unter den Befehlen und zur freien Verfügung der betreffenden Generalgouverneure. Über die tat¬ sächliche Stärke dieser Truppen lassen sich genaue Zahlen nicht aufstellen; angeblich sollen 400000 Mann vorhanden sein, doch steht fest, daß die Pro- vinzialvcrwaltungen die hohen Ziffern deswegen angeben, damit sie der Regie¬ rung in Peking einen möglichst hohen Betrag für ihren Unterhalt in Rechnung stellen können, der dann zum großen Teil wieder ihren eignen Taschen zugute kommt. Militärischen Wert hatten diese Truppen als Ganzes bisher nicht, und ihrer Bestimmung, „zur Aufrechterhaltung der Ruhe und Ordnung im Lande beizutragen", kamen sie so gut wie gar nicht nach, sodaß auch ihre all¬ mähliche Auflösung beschlossene Sache ist. Es leuchtet ohne weiteres ein, daß die Mehrzahl der genannten Heeres¬ teile keinen Anspruch auf eine kriegsbrauchbare Truppe nach modernen Begriffen erheben kann, und daß darum eine ganz neue Armee auf moderner Basis geschaffen werden mußte, wenn das militärische Ansehen des Reiches der Mitte irgend¬ welche Bedeutung gewinnen wollte. Zur Lösung dieser schwierigen Aufgabe wurde im Jahre 1901 der alte Li-Hung-Tschang berufen, der sich schon oft als Retter in der Not bewährt hatte, und dessen Einfluß es auch früher schon gelungen war, die ersten deutschen Instrukteure für die Ausbildung des chine¬ sischen Heeres zu gewinnen. Unter solcher Leitung wurden nach und nach aus den besten Elementen der Banner- und der Provinzialtruppeu zwei Armeen formiert, die unter der Bezeichnung Peiyang-Armee (in der Provinz Petschili) und Hupei-Armee (in der Provinz Hupei am Mittellauf des Jangtse) den Kern des heutigen chinesischen Heeres bilden und bestimmt sind, die Wehrkraft des Landes einer neuen Blütezeit entgegenzuführen. Li - Hnng - Tschang hat die Vollendung seines Werkes nicht erlebt, denn er starb, als es die ersten Früchte zu tragen anfing, und Zucht und Ordnung in die Reihen der neu zusammen¬ gestellten Truppen kamen. Von allen Nachfolgern dieses großen Staatsmannes hat Unan-Schikal, der, nachdem er eine Zeit lang in Ungnade gefallen war, jetzt wieder der Höchst¬ kommandierende der chinesischen Truppen in der Provinz Petschili ist, das Werk Li-Huug-Tschcmgs mit Eifer und Verständnis fortgesetzt, und reiche Erfolge sind nicht ausgeblieben. Schwierigkeiten, die Heeresorganisation schnell durchzuführen, macht der Umstand, daß in China die allgemeine Wehrpflicht noch nicht eingeführt ist und die Truppen nur angeworben werden. Infolge der guten Besoldung ist der Andrang zwar sehr groß, aber im Gegensatz zu früher wird heute nicht jeder Mann angenommen, sondern nur gesunde kräftige Leute vom besten Ruf, für die das Heimatdorf Bürgschaft zu leisten hat, kommen für die Anwerbung in Frage. Auch wird einige Kenntnis im Lesen und Schreiben verlangt. Die Provinzen Honan und Shcmtung liefern die meisten und besten Rekruten. Der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/115>, abgerufen am 01.09.2024.