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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.

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Lidern und Rinder

geweckter Junge, und seine Erzieher waren prächtige, frohe Menschen, die selbst
noch reichlich viel von der Wärme goldiger Jugcndtage in ihrem Herzen ver¬
spürten. Und doch war ihm der regelmäßige Unterricht eine Plage, dieses
"Lernen von Dingen, die niemand zu wissen begehrt". "Heutzutage, sagt er
in seinem späten Alter, wird mehr gelehrt, als gelernt werden kann; in meiner
Jugend wars umgekehrt; man hatte nicht so viele Lehrobjekte, zersplitterte sich
weniger und ließ dem Privatfleiß mehr Raum."

Der Knabe aber sitzt wohl im Schloßgarten zu Bernburg zu früher Morgen¬
stunde am einsamen Lieblingsplatz, den Thomas a Kempis in der Hand, und
zerfließt in süßer Schwärmerei. "O es ist unsterblich schön, welcher Ent¬
zückungen und Seligkeiten eine Knabenseele fähig ist, wenn sie den Staub der
Schule abgeschüttelt." "Kinder sind glückliche Poeten; der frische Spiegel ihrer
Seele reflektiert noch alle Wunder der Natur mit gleicher Schärfe, und überall
ist eine Fülle des Genusses."

Aus allen diesen drei Menschen ist etwas geworden. Und das verdanken
sie -- gerade wie vor ihnen auch Goethe -- ihrem Elternhause. Die Mütter
waren immer gütige, stille Wesen, die Väter immer wirkende Naturen, hinaus¬
gehoben über ihre Umgebung. Nie brachen sie mit ihrem Besserwisscnwollen
die zarten Sprößlinge eigenartiger kindlicher Willensäußerungen ab, und doch
haben die Söhne auf diese Wegweiser ihrer Jugendtage allezeit mit heiligem
Respekt geschaut. Am deutlichsten vermag hier Kügelgen zu zeichnen, daß wir
den Vater mit Fingern greifen, diesen prächtigen Mann mit seiner Vornehm¬
heit und Ritterlichkeit, mit dem hellblauen Blick, der die Sonnenseite an Menschen
und Dingen sieht, der immer der vertraute Freund seiner Kinder bleibt und
sich selbst die Phantasterei und die Biegsamkeit des Gemüts bewahrt, um mit
den Jungen jung zu sein, mit ihnen Bogen zu schießen, zu klettern, laufen,
springen und baden.

Und nun die Mutter. Ein mädchenhaft reiner Sinn. Der gute Haus¬
geist, immer ohne Launen, immer einfach und wahrhaftig. Eine fromme Frau.
Sie setzte ganz im Einverständnis mit dem theologischen Erzieher die Religion
vom Lehrplan ab, damit das Herzliche nicht zum Abstrakten versteinere. Aber
dafür sprach sie in unvergeßlichen Feierstunden von göttlichen Dingen mit so
überaus zarten Worten und Empfindungen, daß ihren Kindern das Christentum
allezeit Herzenszuflucht, Erhebung, Trost und Freude blieb. Ihr Stolz war,
eine gute Frau und gute Mutter zu sein. Sie beschäftigte, sie unterrichtete ihre
Kinder. Sie brachte sie zur Einsicht des Unrechts, das sie begangen hatten.
Ein Kuß, den sie zum Lohn auf die Stirn des Knaben drückte, lag auf diesem
wie eine Weihe und Verklärung. Wenn sie ihm einmal beim Abschiede den
geknickten Hemdkragen glatt strich, dann fühlte er erst den ganzen Tag, wie lieb
er seine Mutter hatte, und schonte den Kragen auf seinem ganzen Wege, damit
er möglichst lange so bliebe, wie er von ihrer Hand gelegt war. Sie duldete
im Hause keine Prunkzimmer. Die besten Räume sollten bewohnt sein; sie


Lidern und Rinder

geweckter Junge, und seine Erzieher waren prächtige, frohe Menschen, die selbst
noch reichlich viel von der Wärme goldiger Jugcndtage in ihrem Herzen ver¬
spürten. Und doch war ihm der regelmäßige Unterricht eine Plage, dieses
„Lernen von Dingen, die niemand zu wissen begehrt". „Heutzutage, sagt er
in seinem späten Alter, wird mehr gelehrt, als gelernt werden kann; in meiner
Jugend wars umgekehrt; man hatte nicht so viele Lehrobjekte, zersplitterte sich
weniger und ließ dem Privatfleiß mehr Raum."

Der Knabe aber sitzt wohl im Schloßgarten zu Bernburg zu früher Morgen¬
stunde am einsamen Lieblingsplatz, den Thomas a Kempis in der Hand, und
zerfließt in süßer Schwärmerei. „O es ist unsterblich schön, welcher Ent¬
zückungen und Seligkeiten eine Knabenseele fähig ist, wenn sie den Staub der
Schule abgeschüttelt." „Kinder sind glückliche Poeten; der frische Spiegel ihrer
Seele reflektiert noch alle Wunder der Natur mit gleicher Schärfe, und überall
ist eine Fülle des Genusses."

Aus allen diesen drei Menschen ist etwas geworden. Und das verdanken
sie — gerade wie vor ihnen auch Goethe — ihrem Elternhause. Die Mütter
waren immer gütige, stille Wesen, die Väter immer wirkende Naturen, hinaus¬
gehoben über ihre Umgebung. Nie brachen sie mit ihrem Besserwisscnwollen
die zarten Sprößlinge eigenartiger kindlicher Willensäußerungen ab, und doch
haben die Söhne auf diese Wegweiser ihrer Jugendtage allezeit mit heiligem
Respekt geschaut. Am deutlichsten vermag hier Kügelgen zu zeichnen, daß wir
den Vater mit Fingern greifen, diesen prächtigen Mann mit seiner Vornehm¬
heit und Ritterlichkeit, mit dem hellblauen Blick, der die Sonnenseite an Menschen
und Dingen sieht, der immer der vertraute Freund seiner Kinder bleibt und
sich selbst die Phantasterei und die Biegsamkeit des Gemüts bewahrt, um mit
den Jungen jung zu sein, mit ihnen Bogen zu schießen, zu klettern, laufen,
springen und baden.

Und nun die Mutter. Ein mädchenhaft reiner Sinn. Der gute Haus¬
geist, immer ohne Launen, immer einfach und wahrhaftig. Eine fromme Frau.
Sie setzte ganz im Einverständnis mit dem theologischen Erzieher die Religion
vom Lehrplan ab, damit das Herzliche nicht zum Abstrakten versteinere. Aber
dafür sprach sie in unvergeßlichen Feierstunden von göttlichen Dingen mit so
überaus zarten Worten und Empfindungen, daß ihren Kindern das Christentum
allezeit Herzenszuflucht, Erhebung, Trost und Freude blieb. Ihr Stolz war,
eine gute Frau und gute Mutter zu sein. Sie beschäftigte, sie unterrichtete ihre
Kinder. Sie brachte sie zur Einsicht des Unrechts, das sie begangen hatten.
Ein Kuß, den sie zum Lohn auf die Stirn des Knaben drückte, lag auf diesem
wie eine Weihe und Verklärung. Wenn sie ihm einmal beim Abschiede den
geknickten Hemdkragen glatt strich, dann fühlte er erst den ganzen Tag, wie lieb
er seine Mutter hatte, und schonte den Kragen auf seinem ganzen Wege, damit
er möglichst lange so bliebe, wie er von ihrer Hand gelegt war. Sie duldete
im Hause keine Prunkzimmer. Die besten Räume sollten bewohnt sein; sie


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[0092] Lidern und Rinder geweckter Junge, und seine Erzieher waren prächtige, frohe Menschen, die selbst noch reichlich viel von der Wärme goldiger Jugcndtage in ihrem Herzen ver¬ spürten. Und doch war ihm der regelmäßige Unterricht eine Plage, dieses „Lernen von Dingen, die niemand zu wissen begehrt". „Heutzutage, sagt er in seinem späten Alter, wird mehr gelehrt, als gelernt werden kann; in meiner Jugend wars umgekehrt; man hatte nicht so viele Lehrobjekte, zersplitterte sich weniger und ließ dem Privatfleiß mehr Raum." Der Knabe aber sitzt wohl im Schloßgarten zu Bernburg zu früher Morgen¬ stunde am einsamen Lieblingsplatz, den Thomas a Kempis in der Hand, und zerfließt in süßer Schwärmerei. „O es ist unsterblich schön, welcher Ent¬ zückungen und Seligkeiten eine Knabenseele fähig ist, wenn sie den Staub der Schule abgeschüttelt." „Kinder sind glückliche Poeten; der frische Spiegel ihrer Seele reflektiert noch alle Wunder der Natur mit gleicher Schärfe, und überall ist eine Fülle des Genusses." Aus allen diesen drei Menschen ist etwas geworden. Und das verdanken sie — gerade wie vor ihnen auch Goethe — ihrem Elternhause. Die Mütter waren immer gütige, stille Wesen, die Väter immer wirkende Naturen, hinaus¬ gehoben über ihre Umgebung. Nie brachen sie mit ihrem Besserwisscnwollen die zarten Sprößlinge eigenartiger kindlicher Willensäußerungen ab, und doch haben die Söhne auf diese Wegweiser ihrer Jugendtage allezeit mit heiligem Respekt geschaut. Am deutlichsten vermag hier Kügelgen zu zeichnen, daß wir den Vater mit Fingern greifen, diesen prächtigen Mann mit seiner Vornehm¬ heit und Ritterlichkeit, mit dem hellblauen Blick, der die Sonnenseite an Menschen und Dingen sieht, der immer der vertraute Freund seiner Kinder bleibt und sich selbst die Phantasterei und die Biegsamkeit des Gemüts bewahrt, um mit den Jungen jung zu sein, mit ihnen Bogen zu schießen, zu klettern, laufen, springen und baden. Und nun die Mutter. Ein mädchenhaft reiner Sinn. Der gute Haus¬ geist, immer ohne Launen, immer einfach und wahrhaftig. Eine fromme Frau. Sie setzte ganz im Einverständnis mit dem theologischen Erzieher die Religion vom Lehrplan ab, damit das Herzliche nicht zum Abstrakten versteinere. Aber dafür sprach sie in unvergeßlichen Feierstunden von göttlichen Dingen mit so überaus zarten Worten und Empfindungen, daß ihren Kindern das Christentum allezeit Herzenszuflucht, Erhebung, Trost und Freude blieb. Ihr Stolz war, eine gute Frau und gute Mutter zu sein. Sie beschäftigte, sie unterrichtete ihre Kinder. Sie brachte sie zur Einsicht des Unrechts, das sie begangen hatten. Ein Kuß, den sie zum Lohn auf die Stirn des Knaben drückte, lag auf diesem wie eine Weihe und Verklärung. Wenn sie ihm einmal beim Abschiede den geknickten Hemdkragen glatt strich, dann fühlte er erst den ganzen Tag, wie lieb er seine Mutter hatte, und schonte den Kragen auf seinem ganzen Wege, damit er möglichst lange so bliebe, wie er von ihrer Hand gelegt war. Sie duldete im Hause keine Prunkzimmer. Die besten Räume sollten bewohnt sein; sie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301987/92>, abgerufen am 06.02.2025.