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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.

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Lidern und Rinder

aber wie treuherzig und ehrlich bleibt doch bei alledem die Art, wie sich der
Mensch seinem Mitmenschen gibt. Die anspruchslose Gewöhnung des Daseins
macht immer ein freundliches Gesicht, ist dankbar für jeden Sonnenstrahl. Und
ob auch hungernde Dürftigkeit am Tische sitzt, der Mensch verliert nie das
Wohlgefallen am Leben, wirft nie das Vertrauen dahin, krümmt sick nickt zur
Mißgunst, schwillt nicht zum Haß. Das Leben geht in einem engen Raum,
aber desto liebevoller können die regen Sinne alles umfassen, was in ihrem
Mikrokosmus sein Wesen treibt. Die Leute, die hier zu uns kommen, haben
einen blauen Kinderblick und dann noch etwas, was sie fähig macht, in den
gleißenden und gleitenden Worten dieser Erde nicht das lebensteuernde Element
zu sehen: ein glückseliges, charaktervolles Gott- und Weltvertraucn gibt ihnen
allen die Haltung! Diese Haltung -- das ist eben das wesentliche; was
äußerlich anhängt, ist Schall und Rauch.

Und was war es denn für eine Jugend, von der Ernst Rietschel erzählt!
Kartoffeln und Wassersuppen tagaus tagein und aufgeklopfte Pflaumenkerne statt
der Mandeln im Weihnachtsstollen. Die Mutter hat wohl ihren Bürgerstolz
als Schullehrerstochter, aber sie holt sich das Reisig aus dem Walde, und den
kümmerlichen Vater kann das Beutlerhcmdwcrk nicht mehr nähren. Aber dennoch
für seine paar Pfennige kauft er dem Jungen Bilderbogen, und er füllt ihm kleine
Muscheln mit Tuschfarbe und sitzt mit ihm über alten illustrierten Bücherkata¬
logen, und zwei junge und zwei alte Augen strahlen im Scheine eines mög¬
lichen Glücks: "Sieh, Ernst, wenn wir das laufen könnten!" An diese Stunde
muß der Knabe denken immerdar, und auch an die andern, wenn die Winter-
dämmerung da war, und er zuhören durfte, wie man ein Stück aus Robinson
vorlas. Oder der Pfingsttag kommt ihm wieder, wo er frühmorgens seinem Vater
einen Strauß Orchideen von der Waldwiese holte. Die Sonntagsstille lag auf
Feld und Flur, überall grünte das Leben in Busch und Baum, und dazu der
festliche Hintergrund des Tages und im voraus die Freude an dem, womit
sich der Knabe die Woche hindurch zeichnend oder malend beschäftigen wollte.
In dieser Armut welcher Reichtum!

Durch Ludwig Richters Kindheit wandeln würdig die kleinbürgerlichen
Gestalten der Napoleonszeit. Und alles ist Behagen und altmodische Poesie,
und der Duft liegt darauf, der sich aus dämmernden Stuben, trüben Öllämpchen
und Märchcnerzählungen von der unschuldigen Genoveva und der schönen Me-
lusine zusammensetzt. Aber der eine Abend, wo er mit seinem Vater eine Kupfer¬
stichsammlung durchblättern darf, steht wie ein schönes Zaubergebilde vor ihm:
"Es muß doch etwas Großes und Gewaltiges sein um die Kunst, daß sie die
Herzen so warm und so lebendig machen kann!" Rietschel und Richter haben
auf der Volksschule nicht viel mehr als das Abc und das Einmaleins gelernt.
Um so mehr hat sich die Pädagogik am dritten, an Wilhelm von Kügelgen,
versucht. In und außer dem Hause, in Städten und Dörfern, auf Privat¬
instituten und auf öffentlichen Schulen ist er erzogen. Er war ein frischer,


Lidern und Rinder

aber wie treuherzig und ehrlich bleibt doch bei alledem die Art, wie sich der
Mensch seinem Mitmenschen gibt. Die anspruchslose Gewöhnung des Daseins
macht immer ein freundliches Gesicht, ist dankbar für jeden Sonnenstrahl. Und
ob auch hungernde Dürftigkeit am Tische sitzt, der Mensch verliert nie das
Wohlgefallen am Leben, wirft nie das Vertrauen dahin, krümmt sick nickt zur
Mißgunst, schwillt nicht zum Haß. Das Leben geht in einem engen Raum,
aber desto liebevoller können die regen Sinne alles umfassen, was in ihrem
Mikrokosmus sein Wesen treibt. Die Leute, die hier zu uns kommen, haben
einen blauen Kinderblick und dann noch etwas, was sie fähig macht, in den
gleißenden und gleitenden Worten dieser Erde nicht das lebensteuernde Element
zu sehen: ein glückseliges, charaktervolles Gott- und Weltvertraucn gibt ihnen
allen die Haltung! Diese Haltung — das ist eben das wesentliche; was
äußerlich anhängt, ist Schall und Rauch.

Und was war es denn für eine Jugend, von der Ernst Rietschel erzählt!
Kartoffeln und Wassersuppen tagaus tagein und aufgeklopfte Pflaumenkerne statt
der Mandeln im Weihnachtsstollen. Die Mutter hat wohl ihren Bürgerstolz
als Schullehrerstochter, aber sie holt sich das Reisig aus dem Walde, und den
kümmerlichen Vater kann das Beutlerhcmdwcrk nicht mehr nähren. Aber dennoch
für seine paar Pfennige kauft er dem Jungen Bilderbogen, und er füllt ihm kleine
Muscheln mit Tuschfarbe und sitzt mit ihm über alten illustrierten Bücherkata¬
logen, und zwei junge und zwei alte Augen strahlen im Scheine eines mög¬
lichen Glücks: „Sieh, Ernst, wenn wir das laufen könnten!" An diese Stunde
muß der Knabe denken immerdar, und auch an die andern, wenn die Winter-
dämmerung da war, und er zuhören durfte, wie man ein Stück aus Robinson
vorlas. Oder der Pfingsttag kommt ihm wieder, wo er frühmorgens seinem Vater
einen Strauß Orchideen von der Waldwiese holte. Die Sonntagsstille lag auf
Feld und Flur, überall grünte das Leben in Busch und Baum, und dazu der
festliche Hintergrund des Tages und im voraus die Freude an dem, womit
sich der Knabe die Woche hindurch zeichnend oder malend beschäftigen wollte.
In dieser Armut welcher Reichtum!

Durch Ludwig Richters Kindheit wandeln würdig die kleinbürgerlichen
Gestalten der Napoleonszeit. Und alles ist Behagen und altmodische Poesie,
und der Duft liegt darauf, der sich aus dämmernden Stuben, trüben Öllämpchen
und Märchcnerzählungen von der unschuldigen Genoveva und der schönen Me-
lusine zusammensetzt. Aber der eine Abend, wo er mit seinem Vater eine Kupfer¬
stichsammlung durchblättern darf, steht wie ein schönes Zaubergebilde vor ihm:
»Es muß doch etwas Großes und Gewaltiges sein um die Kunst, daß sie die
Herzen so warm und so lebendig machen kann!" Rietschel und Richter haben
auf der Volksschule nicht viel mehr als das Abc und das Einmaleins gelernt.
Um so mehr hat sich die Pädagogik am dritten, an Wilhelm von Kügelgen,
versucht. In und außer dem Hause, in Städten und Dörfern, auf Privat¬
instituten und auf öffentlichen Schulen ist er erzogen. Er war ein frischer,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301987/91>, abgerufen am 06.02.2025.