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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.

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Falsche Ideale

philosophische Verherrlichung hat sie im Übermenschen Nietzsches mit seiner
Herrenmoral gefunden. Da der Egoist nur an sich denkt, so sucht er alle Ver¬
pflichtungen von sich abzuwälzen. Daher die Theorie von der freien Ehe, die
dem Manne vollkommne Freiheit laßt. Wer aber soll die Kinder erziehn, die
einer solchen Ehe entsprossen sind? Das ist eine sehr nüchterne und praktische
Frage, die für unser Staatswesen, dessen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung
auf der Ehe beruht, von der größten Wichtigkeit ist. Um die Schuld der
Trennung auf die Frau, deren Liebe gewöhnlich von größerer Dauer ist, zu
schieben, hat sich der Mann die Theorie von der eingebornen Verdorbenheit des
Weibes zurechtgelegt, das alle seine Unannehmlichkeiten verursacht habe. Als
gebildeter Mann -hängt er seinen Gedanken überall ein hübsches Mäntelchen um.
Wo wir behaupten, der Anhänger der freien Ehe wolle keine dauernden Ver¬
pflichtungen auf sich nehmen, deklamiert er gegen den gesetzlichen Zwang und
erklärt, wahre Liebe brauche weder den standesamtlichen noch den kirchlichen
Segen. Wo wir von Egoismus sprechen, sagt er, jeder habe das Recht, seine
Persönlichkeit "auszuleben" und seine Anlagen und Fähigkeiten frei zu entfalten.
Für den Materialisten hat das Leben mit dem Tode sein Ende gefunden. Des¬
halb legt er auf das irdische Leben einen übertriebnen Wert und hält Kriege,
in denen sich Tausende für Millionen opfern, für eine Erscheinung, die modernen
Anschauungen zuwiderlaufe. Im Namen der Menschlichkeit erhebt er Einspruch
gegen den Krieg, vergißt aber, daß die ärgsten Verbrecher die Oberhand hätten
und die raubgierigsten Völker alle andern vergewaltigen würden, wenn es keine
bewaffnete Macht gäbe, die das Eigentum und den Frieden beschützt.

Nicht alle Egoisten können ihre Wünsche befriedigen, denn die meisten Hoff¬
nungen werden begraben. Unzufriedenheit und Pessimismus sind deshalb eine
weitere Folge der materialistischen Weltanschauung. Die wenigen Glücklichen und
Erfolgreichen schreiben selten ihre Gedanken nieder, da ihre Geisteskräfte mit der
Ausführung ihrer Unternehmungen vollauf beschäftigt sind und sie auch nicht immer
die erforderlichen schriftstellerischen Fähigkeiten haben. Von denen aber, die bei
der Teilung der Erde zu spät gekommen sind, greifen viele zur Feder und ver¬
breiten ihren Pessimismus durch die Kinder ihrer Muse. Ibsens Dramen und
Zolas Romane sind erfüllt von düstern und wehleidigem Schilderungen, und die
Sentimentalität feiert Orgien in Kellnerinnenromanen und Dirnentagebüchern.

Egoismus, Schwachmut, Pessimismus und Sentimentalität sind nicht die
Fundamente, auf denen große Taten aufgebaut werden und unsterbliche Dich¬
tungen wachsen. Es hat etwas Lähmendes an sich, wenn uns gepredigt wird,
wir Menschen seien nur das Produkt äußerer Verhältnisse. Was nützen uns
Fleiß, Unternehmungsgeist und Tatkraft, wenn wir doch nicht über das von
unsern Vätern erhaltne Erbe hinauskommen? Aus den Schriften Bismarcks,
Moltkes und andrer hervorragenden Geister, die in einem bedeutenden Leben
gestanden haben, spricht eine ganz andre Weltanschauung. Unser politischer und
wirtschaftlicher Aufschwung steht mit seinem Optimismus in krassen: Gegensatz


Falsche Ideale

philosophische Verherrlichung hat sie im Übermenschen Nietzsches mit seiner
Herrenmoral gefunden. Da der Egoist nur an sich denkt, so sucht er alle Ver¬
pflichtungen von sich abzuwälzen. Daher die Theorie von der freien Ehe, die
dem Manne vollkommne Freiheit laßt. Wer aber soll die Kinder erziehn, die
einer solchen Ehe entsprossen sind? Das ist eine sehr nüchterne und praktische
Frage, die für unser Staatswesen, dessen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung
auf der Ehe beruht, von der größten Wichtigkeit ist. Um die Schuld der
Trennung auf die Frau, deren Liebe gewöhnlich von größerer Dauer ist, zu
schieben, hat sich der Mann die Theorie von der eingebornen Verdorbenheit des
Weibes zurechtgelegt, das alle seine Unannehmlichkeiten verursacht habe. Als
gebildeter Mann -hängt er seinen Gedanken überall ein hübsches Mäntelchen um.
Wo wir behaupten, der Anhänger der freien Ehe wolle keine dauernden Ver¬
pflichtungen auf sich nehmen, deklamiert er gegen den gesetzlichen Zwang und
erklärt, wahre Liebe brauche weder den standesamtlichen noch den kirchlichen
Segen. Wo wir von Egoismus sprechen, sagt er, jeder habe das Recht, seine
Persönlichkeit „auszuleben" und seine Anlagen und Fähigkeiten frei zu entfalten.
Für den Materialisten hat das Leben mit dem Tode sein Ende gefunden. Des¬
halb legt er auf das irdische Leben einen übertriebnen Wert und hält Kriege,
in denen sich Tausende für Millionen opfern, für eine Erscheinung, die modernen
Anschauungen zuwiderlaufe. Im Namen der Menschlichkeit erhebt er Einspruch
gegen den Krieg, vergißt aber, daß die ärgsten Verbrecher die Oberhand hätten
und die raubgierigsten Völker alle andern vergewaltigen würden, wenn es keine
bewaffnete Macht gäbe, die das Eigentum und den Frieden beschützt.

Nicht alle Egoisten können ihre Wünsche befriedigen, denn die meisten Hoff¬
nungen werden begraben. Unzufriedenheit und Pessimismus sind deshalb eine
weitere Folge der materialistischen Weltanschauung. Die wenigen Glücklichen und
Erfolgreichen schreiben selten ihre Gedanken nieder, da ihre Geisteskräfte mit der
Ausführung ihrer Unternehmungen vollauf beschäftigt sind und sie auch nicht immer
die erforderlichen schriftstellerischen Fähigkeiten haben. Von denen aber, die bei
der Teilung der Erde zu spät gekommen sind, greifen viele zur Feder und ver¬
breiten ihren Pessimismus durch die Kinder ihrer Muse. Ibsens Dramen und
Zolas Romane sind erfüllt von düstern und wehleidigem Schilderungen, und die
Sentimentalität feiert Orgien in Kellnerinnenromanen und Dirnentagebüchern.

Egoismus, Schwachmut, Pessimismus und Sentimentalität sind nicht die
Fundamente, auf denen große Taten aufgebaut werden und unsterbliche Dich¬
tungen wachsen. Es hat etwas Lähmendes an sich, wenn uns gepredigt wird,
wir Menschen seien nur das Produkt äußerer Verhältnisse. Was nützen uns
Fleiß, Unternehmungsgeist und Tatkraft, wenn wir doch nicht über das von
unsern Vätern erhaltne Erbe hinauskommen? Aus den Schriften Bismarcks,
Moltkes und andrer hervorragenden Geister, die in einem bedeutenden Leben
gestanden haben, spricht eine ganz andre Weltanschauung. Unser politischer und
wirtschaftlicher Aufschwung steht mit seinem Optimismus in krassen: Gegensatz


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301987/87>, abgerufen am 06.02.2025.