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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.

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Falsche Ideale

Herrschaft über das Leben gewinnen, ehe Sie volle Berechtigung erhalten,
Menschenschicksale künstlerisch zu idealisieren."

Nicht alle Berufe geben einen vollen Einblick in das Getriebe der Welt
und der Menschen. Die Berufe, die meist mit Kindern und Frauen in Be¬
rührung kommen, deren geistige Fähigkeiten wenig entwickelt und deren Er¬
fahrungen gering sind, verschaffen eine geringere Menschenkenntnis und Lebens¬
erfahrung als die, die mit Männern zu tun haben, die im praktischen Leben
gereift sind und sich die Bildung unsrer Zeit angeeignet haben. Daß zum Bei¬
spiel die Geistlichkeit mit weltlichen Dingen wenig vertraut ist, ersieht man ans
der Geschichte des Kirchenstaats, dessen Verwaltung die schlechteste aller Länder
war. Im allgemeinen herrscht in der Schriftstellerwelt eine tiefe Abneigung
gegen jeden Beruf, die so weit geht, daß sie jeden für einen Philister hält, der
sich nicht ausschließlich literarischen oder künstlerischen Arbeiten widmet. In¬
folgedessen stellen sich Fernstehende den Schriftsteller gewöhnlich als einen Mann
vor, der für jeden Beruf untauglich ist.

Außerdem hat der deutsche Schriftsteller bei unserm Kastengeist wenig Ge¬
legenheit, größere Interessenkreise kennen zu lernen. Während der französische
und der englische Schriftsteller, der einen Namen hat, zur "Gesellschaft" gehört,
bleibt der deutsche gewöhnlich höhern Ständen fern, wenn er nicht durch Geburt
oder Berufsstellung dazu gehört, oder erhält Einladungen nur von Leuten, die
sich den Schein geben wollen, als hätten sie eine gewisse Fühlung mit der
Literatur. Die Folge dieser Abgeschlossenheit ist, daß der Schriftsteller, der meist
aus nieder"? Schichten stammt, mir deren Leben und Ansichten beschreibt. Man
macht aus der Not eine Tugend, wenn man Dichtungen, in denen der Schrift¬
steller die Verhältnisse seiner engern Heimat zeichnet, "Heimatkunst" nennt.
Über diese Eigentümlichkeit unsrer Literatur urteilt ein Theaterdirektor") fol¬
gendermaßen: "Sehen wir, von seltnen Ausnahmen abgesehen, ans unsern Bühnen
etwas von der Menschheit großen Gegenständen? Außer mannigfaltigen Idyllen
des Elends meist gröbere oder feinere Herzenssachen mit einem mehr oder minder
süßen Müdel und geistige Entwicklnngsnöte eines jungen Menschen, der sich
mit mehr oder minder Recht für ein Genie hält." Der Verfasser macht dann
das moderne Miliendrama dafür verantwortlich, das nur die Bearbeitung des
Persönlich Erlebten gestatte, und meint, es sei Mangel an Phantasie bei unsern
Dichtern, die sich in andre Lebenslagen nicht zu versetzen verstünden.

Nach unsrer Ansicht fehlt es ihnen an Einbildungskraft keineswegs, wohl
aber an Erfahrung und Menschenkenntnis. Es geht ihnen wie den Frauen,
die ausschließlich in ihrer Familie und in Gesellschaft Verkehren und dort mir
die angenehme Oberfläche der Dinge kennen lernen. Das ist auch der Grund,
weshalb sich unsre Unterhaltungsliteratur, die zum größten Teil in den Händen
von Frauen liegt, noch immer in den alten ausgetretnen Bahnen bewegt und



Alfred Freiherr von Berger, Über Drama und Theater. Leipzig, 1900. S, 40 ff.
Falsche Ideale

Herrschaft über das Leben gewinnen, ehe Sie volle Berechtigung erhalten,
Menschenschicksale künstlerisch zu idealisieren."

Nicht alle Berufe geben einen vollen Einblick in das Getriebe der Welt
und der Menschen. Die Berufe, die meist mit Kindern und Frauen in Be¬
rührung kommen, deren geistige Fähigkeiten wenig entwickelt und deren Er¬
fahrungen gering sind, verschaffen eine geringere Menschenkenntnis und Lebens¬
erfahrung als die, die mit Männern zu tun haben, die im praktischen Leben
gereift sind und sich die Bildung unsrer Zeit angeeignet haben. Daß zum Bei¬
spiel die Geistlichkeit mit weltlichen Dingen wenig vertraut ist, ersieht man ans
der Geschichte des Kirchenstaats, dessen Verwaltung die schlechteste aller Länder
war. Im allgemeinen herrscht in der Schriftstellerwelt eine tiefe Abneigung
gegen jeden Beruf, die so weit geht, daß sie jeden für einen Philister hält, der
sich nicht ausschließlich literarischen oder künstlerischen Arbeiten widmet. In¬
folgedessen stellen sich Fernstehende den Schriftsteller gewöhnlich als einen Mann
vor, der für jeden Beruf untauglich ist.

Außerdem hat der deutsche Schriftsteller bei unserm Kastengeist wenig Ge¬
legenheit, größere Interessenkreise kennen zu lernen. Während der französische
und der englische Schriftsteller, der einen Namen hat, zur „Gesellschaft" gehört,
bleibt der deutsche gewöhnlich höhern Ständen fern, wenn er nicht durch Geburt
oder Berufsstellung dazu gehört, oder erhält Einladungen nur von Leuten, die
sich den Schein geben wollen, als hätten sie eine gewisse Fühlung mit der
Literatur. Die Folge dieser Abgeschlossenheit ist, daß der Schriftsteller, der meist
aus nieder»? Schichten stammt, mir deren Leben und Ansichten beschreibt. Man
macht aus der Not eine Tugend, wenn man Dichtungen, in denen der Schrift¬
steller die Verhältnisse seiner engern Heimat zeichnet, „Heimatkunst" nennt.
Über diese Eigentümlichkeit unsrer Literatur urteilt ein Theaterdirektor") fol¬
gendermaßen: „Sehen wir, von seltnen Ausnahmen abgesehen, ans unsern Bühnen
etwas von der Menschheit großen Gegenständen? Außer mannigfaltigen Idyllen
des Elends meist gröbere oder feinere Herzenssachen mit einem mehr oder minder
süßen Müdel und geistige Entwicklnngsnöte eines jungen Menschen, der sich
mit mehr oder minder Recht für ein Genie hält." Der Verfasser macht dann
das moderne Miliendrama dafür verantwortlich, das nur die Bearbeitung des
Persönlich Erlebten gestatte, und meint, es sei Mangel an Phantasie bei unsern
Dichtern, die sich in andre Lebenslagen nicht zu versetzen verstünden.

Nach unsrer Ansicht fehlt es ihnen an Einbildungskraft keineswegs, wohl
aber an Erfahrung und Menschenkenntnis. Es geht ihnen wie den Frauen,
die ausschließlich in ihrer Familie und in Gesellschaft Verkehren und dort mir
die angenehme Oberfläche der Dinge kennen lernen. Das ist auch der Grund,
weshalb sich unsre Unterhaltungsliteratur, die zum größten Teil in den Händen
von Frauen liegt, noch immer in den alten ausgetretnen Bahnen bewegt und



Alfred Freiherr von Berger, Über Drama und Theater. Leipzig, 1900. S, 40 ff.
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[0085] Falsche Ideale Herrschaft über das Leben gewinnen, ehe Sie volle Berechtigung erhalten, Menschenschicksale künstlerisch zu idealisieren." Nicht alle Berufe geben einen vollen Einblick in das Getriebe der Welt und der Menschen. Die Berufe, die meist mit Kindern und Frauen in Be¬ rührung kommen, deren geistige Fähigkeiten wenig entwickelt und deren Er¬ fahrungen gering sind, verschaffen eine geringere Menschenkenntnis und Lebens¬ erfahrung als die, die mit Männern zu tun haben, die im praktischen Leben gereift sind und sich die Bildung unsrer Zeit angeeignet haben. Daß zum Bei¬ spiel die Geistlichkeit mit weltlichen Dingen wenig vertraut ist, ersieht man ans der Geschichte des Kirchenstaats, dessen Verwaltung die schlechteste aller Länder war. Im allgemeinen herrscht in der Schriftstellerwelt eine tiefe Abneigung gegen jeden Beruf, die so weit geht, daß sie jeden für einen Philister hält, der sich nicht ausschließlich literarischen oder künstlerischen Arbeiten widmet. In¬ folgedessen stellen sich Fernstehende den Schriftsteller gewöhnlich als einen Mann vor, der für jeden Beruf untauglich ist. Außerdem hat der deutsche Schriftsteller bei unserm Kastengeist wenig Ge¬ legenheit, größere Interessenkreise kennen zu lernen. Während der französische und der englische Schriftsteller, der einen Namen hat, zur „Gesellschaft" gehört, bleibt der deutsche gewöhnlich höhern Ständen fern, wenn er nicht durch Geburt oder Berufsstellung dazu gehört, oder erhält Einladungen nur von Leuten, die sich den Schein geben wollen, als hätten sie eine gewisse Fühlung mit der Literatur. Die Folge dieser Abgeschlossenheit ist, daß der Schriftsteller, der meist aus nieder»? Schichten stammt, mir deren Leben und Ansichten beschreibt. Man macht aus der Not eine Tugend, wenn man Dichtungen, in denen der Schrift¬ steller die Verhältnisse seiner engern Heimat zeichnet, „Heimatkunst" nennt. Über diese Eigentümlichkeit unsrer Literatur urteilt ein Theaterdirektor") fol¬ gendermaßen: „Sehen wir, von seltnen Ausnahmen abgesehen, ans unsern Bühnen etwas von der Menschheit großen Gegenständen? Außer mannigfaltigen Idyllen des Elends meist gröbere oder feinere Herzenssachen mit einem mehr oder minder süßen Müdel und geistige Entwicklnngsnöte eines jungen Menschen, der sich mit mehr oder minder Recht für ein Genie hält." Der Verfasser macht dann das moderne Miliendrama dafür verantwortlich, das nur die Bearbeitung des Persönlich Erlebten gestatte, und meint, es sei Mangel an Phantasie bei unsern Dichtern, die sich in andre Lebenslagen nicht zu versetzen verstünden. Nach unsrer Ansicht fehlt es ihnen an Einbildungskraft keineswegs, wohl aber an Erfahrung und Menschenkenntnis. Es geht ihnen wie den Frauen, die ausschließlich in ihrer Familie und in Gesellschaft Verkehren und dort mir die angenehme Oberfläche der Dinge kennen lernen. Das ist auch der Grund, weshalb sich unsre Unterhaltungsliteratur, die zum größten Teil in den Händen von Frauen liegt, noch immer in den alten ausgetretnen Bahnen bewegt und Alfred Freiherr von Berger, Über Drama und Theater. Leipzig, 1900. S, 40 ff.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301987/85>, abgerufen am 06.02.2025.