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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.

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Atlantischer "ut Stiller Gzean

Ozeans im Weste" erscheint, während die große Masse der eng zusammen¬
hängenden "Alten Welt" im Osten liegt. Aber es ist die Frage, ob diese
Scheidung vom hohen Standpunkt der Geographie aus berechtigt ist, die
unabhängig von der eignen Heimat die Erde als Ganzes betrachtet. Und kein
Gcringrer als Ratzel hat die Ansicht vertreten, daß es wohl richtiger sei, Ost
und West von der Mitte des Stillen Ozeans an zu rechnen.

Er stützt sich zur Begründung dieser Anschauung darauf, daß in ethno¬
logischer Beziehung die ältere Verbindung bestanden hat von Asien aus herüber
über die Inselwelt des Großen Ozeans nach Amerika, und daß erst wesentlich
später der Atlantische Ozean von Europa aus durchsegelt und überbrückt worden
ist. Freilich sind die Einflüsse, die von Ostasien nach Amerika hindurchgedrungen
sind, verschwindend klein gegenüber der vollständigen Umgestaltung der ganzen
anthropologischen und Kultnrverhültnissc, die sich in den letzten vier Jahr¬
hunderten über den Atlantische!: Ozean hin vollzogen hat, und gegenüber audern
Meinungen scheint man gegenwärtig die Bedeutuug des Stillen Ozeans als
einer die Erdteile verbindenden Straße doch geringer zu schätzen, als es noch
Rachel getan hat. So hebt Richard Andree in einer Besprechung einer Schrift
von Paul Ehrenreich: Die Mythen und Legenden der südamerikanischen Ur-
völker und ihre Beziehungen zu denen Nordamerikas und der Alten Welt,
besonders hervor, daß Ehrenreich davor warnt, "solches Vorhandensein asiatischer
Elemente in der nordamerikanischen Mythenwelt in dem Sinne zu verwerten,
als ob die amerikanischen Kulturen asiatischen Ursprungs seien. Und solche
Warnung ist um so mehr am Platze, als noch immer Vertreter jeuer falschen
Ansicht vorhanden sind, die sogenannte amerikanische Pyramiden und Bronze,
soziale Verhältnisse und selbst die amerikanischen Sprachen aus der Alten Welt
ableiten." (Globus. Bd. 89, S. 90, 1906.) '

Es schien mir wichtig, hier diese Frage zu berühren, um die doppelte
Auffassungsmöglichkeit zu kennzeichnen. Vom gegenwärtigen Kulturzustande
aus ist sicher der Kartograph durchaus im Rechte, der den amerikanischen
Doppelkontinent in der möglichsten Nähe von Europa und Afrika darstellt, das
heißt die Mittellinie seiner Erdkarte, sei sie nun in Merkatorscher Projektion
oder in den bekannten beiden einander berührenden Hemisphären gezeichnet, in
den Atlantischen Ozean ans den 0 Grad- oder 20 Grad-Meridian verlegt. Denn
der Atlantische Ozean ist bellte wirtschaftlich und völkergeschichtlich das Binde¬
glied zwischen den beiden Erdhälften, und er wird es jedenfalls auch noch
jahrhundertelang bleiben, da nicht angenommen werden kann, daß jemals die
ostasiatische Nasse in Amerika die Einflüsse der europäischen und der afrikanischen
Nassen unterdrücken wird.

Anders allerdings wird sich der Geograph stellen, der das physische Bild,
speziell im Hinblick ans die erdgeschichtliche Entwicklung vor Augen hat. Er
muß notwendig im Atlantischen Ozean die sehr alte trennende Kluft erkennen,
nach der hin die ganze gewaltige Laubmasse in vielfach verschiedenartigeiu Abfall
niedersinkt. Wie ein breites gewundnes, im Norden und Süden offne? Band


Atlantischer »ut Stiller Gzean

Ozeans im Weste» erscheint, während die große Masse der eng zusammen¬
hängenden „Alten Welt" im Osten liegt. Aber es ist die Frage, ob diese
Scheidung vom hohen Standpunkt der Geographie aus berechtigt ist, die
unabhängig von der eignen Heimat die Erde als Ganzes betrachtet. Und kein
Gcringrer als Ratzel hat die Ansicht vertreten, daß es wohl richtiger sei, Ost
und West von der Mitte des Stillen Ozeans an zu rechnen.

Er stützt sich zur Begründung dieser Anschauung darauf, daß in ethno¬
logischer Beziehung die ältere Verbindung bestanden hat von Asien aus herüber
über die Inselwelt des Großen Ozeans nach Amerika, und daß erst wesentlich
später der Atlantische Ozean von Europa aus durchsegelt und überbrückt worden
ist. Freilich sind die Einflüsse, die von Ostasien nach Amerika hindurchgedrungen
sind, verschwindend klein gegenüber der vollständigen Umgestaltung der ganzen
anthropologischen und Kultnrverhültnissc, die sich in den letzten vier Jahr¬
hunderten über den Atlantische!: Ozean hin vollzogen hat, und gegenüber audern
Meinungen scheint man gegenwärtig die Bedeutuug des Stillen Ozeans als
einer die Erdteile verbindenden Straße doch geringer zu schätzen, als es noch
Rachel getan hat. So hebt Richard Andree in einer Besprechung einer Schrift
von Paul Ehrenreich: Die Mythen und Legenden der südamerikanischen Ur-
völker und ihre Beziehungen zu denen Nordamerikas und der Alten Welt,
besonders hervor, daß Ehrenreich davor warnt, „solches Vorhandensein asiatischer
Elemente in der nordamerikanischen Mythenwelt in dem Sinne zu verwerten,
als ob die amerikanischen Kulturen asiatischen Ursprungs seien. Und solche
Warnung ist um so mehr am Platze, als noch immer Vertreter jeuer falschen
Ansicht vorhanden sind, die sogenannte amerikanische Pyramiden und Bronze,
soziale Verhältnisse und selbst die amerikanischen Sprachen aus der Alten Welt
ableiten." (Globus. Bd. 89, S. 90, 1906.) '

Es schien mir wichtig, hier diese Frage zu berühren, um die doppelte
Auffassungsmöglichkeit zu kennzeichnen. Vom gegenwärtigen Kulturzustande
aus ist sicher der Kartograph durchaus im Rechte, der den amerikanischen
Doppelkontinent in der möglichsten Nähe von Europa und Afrika darstellt, das
heißt die Mittellinie seiner Erdkarte, sei sie nun in Merkatorscher Projektion
oder in den bekannten beiden einander berührenden Hemisphären gezeichnet, in
den Atlantischen Ozean ans den 0 Grad- oder 20 Grad-Meridian verlegt. Denn
der Atlantische Ozean ist bellte wirtschaftlich und völkergeschichtlich das Binde¬
glied zwischen den beiden Erdhälften, und er wird es jedenfalls auch noch
jahrhundertelang bleiben, da nicht angenommen werden kann, daß jemals die
ostasiatische Nasse in Amerika die Einflüsse der europäischen und der afrikanischen
Nassen unterdrücken wird.

Anders allerdings wird sich der Geograph stellen, der das physische Bild,
speziell im Hinblick ans die erdgeschichtliche Entwicklung vor Augen hat. Er
muß notwendig im Atlantischen Ozean die sehr alte trennende Kluft erkennen,
nach der hin die ganze gewaltige Laubmasse in vielfach verschiedenartigeiu Abfall
niedersinkt. Wie ein breites gewundnes, im Norden und Süden offne? Band


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[0077] Atlantischer »ut Stiller Gzean Ozeans im Weste» erscheint, während die große Masse der eng zusammen¬ hängenden „Alten Welt" im Osten liegt. Aber es ist die Frage, ob diese Scheidung vom hohen Standpunkt der Geographie aus berechtigt ist, die unabhängig von der eignen Heimat die Erde als Ganzes betrachtet. Und kein Gcringrer als Ratzel hat die Ansicht vertreten, daß es wohl richtiger sei, Ost und West von der Mitte des Stillen Ozeans an zu rechnen. Er stützt sich zur Begründung dieser Anschauung darauf, daß in ethno¬ logischer Beziehung die ältere Verbindung bestanden hat von Asien aus herüber über die Inselwelt des Großen Ozeans nach Amerika, und daß erst wesentlich später der Atlantische Ozean von Europa aus durchsegelt und überbrückt worden ist. Freilich sind die Einflüsse, die von Ostasien nach Amerika hindurchgedrungen sind, verschwindend klein gegenüber der vollständigen Umgestaltung der ganzen anthropologischen und Kultnrverhültnissc, die sich in den letzten vier Jahr¬ hunderten über den Atlantische!: Ozean hin vollzogen hat, und gegenüber audern Meinungen scheint man gegenwärtig die Bedeutuug des Stillen Ozeans als einer die Erdteile verbindenden Straße doch geringer zu schätzen, als es noch Rachel getan hat. So hebt Richard Andree in einer Besprechung einer Schrift von Paul Ehrenreich: Die Mythen und Legenden der südamerikanischen Ur- völker und ihre Beziehungen zu denen Nordamerikas und der Alten Welt, besonders hervor, daß Ehrenreich davor warnt, „solches Vorhandensein asiatischer Elemente in der nordamerikanischen Mythenwelt in dem Sinne zu verwerten, als ob die amerikanischen Kulturen asiatischen Ursprungs seien. Und solche Warnung ist um so mehr am Platze, als noch immer Vertreter jeuer falschen Ansicht vorhanden sind, die sogenannte amerikanische Pyramiden und Bronze, soziale Verhältnisse und selbst die amerikanischen Sprachen aus der Alten Welt ableiten." (Globus. Bd. 89, S. 90, 1906.) ' Es schien mir wichtig, hier diese Frage zu berühren, um die doppelte Auffassungsmöglichkeit zu kennzeichnen. Vom gegenwärtigen Kulturzustande aus ist sicher der Kartograph durchaus im Rechte, der den amerikanischen Doppelkontinent in der möglichsten Nähe von Europa und Afrika darstellt, das heißt die Mittellinie seiner Erdkarte, sei sie nun in Merkatorscher Projektion oder in den bekannten beiden einander berührenden Hemisphären gezeichnet, in den Atlantischen Ozean ans den 0 Grad- oder 20 Grad-Meridian verlegt. Denn der Atlantische Ozean ist bellte wirtschaftlich und völkergeschichtlich das Binde¬ glied zwischen den beiden Erdhälften, und er wird es jedenfalls auch noch jahrhundertelang bleiben, da nicht angenommen werden kann, daß jemals die ostasiatische Nasse in Amerika die Einflüsse der europäischen und der afrikanischen Nassen unterdrücken wird. Anders allerdings wird sich der Geograph stellen, der das physische Bild, speziell im Hinblick ans die erdgeschichtliche Entwicklung vor Augen hat. Er muß notwendig im Atlantischen Ozean die sehr alte trennende Kluft erkennen, nach der hin die ganze gewaltige Laubmasse in vielfach verschiedenartigeiu Abfall niedersinkt. Wie ein breites gewundnes, im Norden und Süden offne? Band

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301987/77>, abgerufen am 06.02.2025.