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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.

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Line Sommerfahrt in das Erzgebirge

eine schöne breite Straße; wir schlagen jedoch einen wenig betretnen Fußweg
über die nördliche Abdachung des Berges ein, ödes Heideland, das nur mit
spärlichem Fichtenbestand besetzt ist. Nach unten zieht sich der sogenannte "Kalte
Wintergrund" hin, der wohl die traurigste Gegend des ganzen Erzgebirges ist.
denn auf der Mitternachtsseite, wo selten ein Sonnenstrahl in diese beinahe
unheimliche Schlucht dringt, liegt sogar im Juni noch Schnee. Und doch findet
sich auch da noch eine menschliche Ansiedlung, "Der kalte Winter", im Volks¬
munde "Böhmisch-Sibirien" genannt. Die Bewohner können bei schrecklichen
Schneestürmen oft acht Tage lang nicht aus dem Hause, und es wäre fürwahr
tollkühn, wenn sie sich aufs Geratewohl durch die klafterhohen Schneemassen
einen Weg bahnen wollten. Bei den "Sonnenwirbelhä'usem", die schon böhmisch
und die höchste Ansiedlung im ganzen Erzgebirge sind (1154 Meter), erreichen wir
die Straße wieder und wenden uns nun nach der Spitze des Keilberges, der,
1244 Meter hoch, eine herrliche, das Panorama vom Fichtelberge ergänzende
Aussicht auf Böhmen darbietet.

Der Keilberg, auf Böhmisch Bartum, d. i. Bartholomäusberg, der höchste
Gipfel des Erzgebirges, bildet gewissermaßen den Hauptstock des ganzen Gebirges,
einen Gebirgsknoten, von dem es in nordöstlicher und in südwestlicher Richtung
verläuft, und um den sich die höchsten Punkte gruppieren, sodaß es hier fast
das Ansehen eines Hochgebirges erhält. Dieser Vergleich kommt vorzugsweise
dem steilen, südlichen Abfalle des Keilberges zu, dessen Fuß unmittelbar von
der Talsohle des Egertales begrenzt wird, aus der er plötzlich sehr schroff
emporsteigt, im Gegensatze zum nördlichen Abfalle, wo es ganz allmählich zum
Gipfel hinaufgeht. In der nächsten Nähe des Berges stehen dicht aneinander
gereiht, wie Mastbäume, die schlank gewachsten Fichten und Tannen des
Schwarzwaldes, ein Name, den die ausgedehnten herrlichen Waldungen am
Südabhange des Keilberges führen, an die sich weithin nach den verschiednen
Richtungen die gewaltige Waldregion, ein förmliches Forstmeer, der mannig¬
faltigsten Höhenzüge mit ihren Kuppen anreiht; denn der Blick schweift bei
heiterm Himmel über das ganze böhmische Erzgebirge, vom Böhmerwalde und
Fichtelgebirge an bis an das Riesengebirge, eine wundervolle Aussicht, wie sie
in solchem Maße kein zweiter Berg im ganzen Erzgebirge bietet. Alle einzelnen
Punkte dieses farbenprächtigen Panoramas zu schildern, ist fast unmöglich. Den
Gipfel des Keilberges ziert ein schöner, steinerner Aussichtsturm, dessen Platt¬
form, zu der 75 Stufen empor führen, überglast ist, um den heftigen Luftzug
abzuhalten, und der den Namen "Kaiser-Franz-Josephsturm" führt; die
Kosten des von dem Erzgebirgsverein Joachimsthal erbauten Turmes betrugen
7000 Gulden.

Vom Keilberg gehen wir in dreiviertel Stunden hinunter nach Gottesgab,
das 1015 Meter hoch auf einem überaus stiefmütterlich ausgestatteten, unwirt¬
lichen und frostig rauhen Moorplateau hart an der sächsischen Grenze liegt,
die höchstgelegne Stadt der österreichisch-ungarischen Monarchie und nebenbei


Line Sommerfahrt in das Erzgebirge

eine schöne breite Straße; wir schlagen jedoch einen wenig betretnen Fußweg
über die nördliche Abdachung des Berges ein, ödes Heideland, das nur mit
spärlichem Fichtenbestand besetzt ist. Nach unten zieht sich der sogenannte „Kalte
Wintergrund" hin, der wohl die traurigste Gegend des ganzen Erzgebirges ist.
denn auf der Mitternachtsseite, wo selten ein Sonnenstrahl in diese beinahe
unheimliche Schlucht dringt, liegt sogar im Juni noch Schnee. Und doch findet
sich auch da noch eine menschliche Ansiedlung, „Der kalte Winter", im Volks¬
munde „Böhmisch-Sibirien" genannt. Die Bewohner können bei schrecklichen
Schneestürmen oft acht Tage lang nicht aus dem Hause, und es wäre fürwahr
tollkühn, wenn sie sich aufs Geratewohl durch die klafterhohen Schneemassen
einen Weg bahnen wollten. Bei den „Sonnenwirbelhä'usem", die schon böhmisch
und die höchste Ansiedlung im ganzen Erzgebirge sind (1154 Meter), erreichen wir
die Straße wieder und wenden uns nun nach der Spitze des Keilberges, der,
1244 Meter hoch, eine herrliche, das Panorama vom Fichtelberge ergänzende
Aussicht auf Böhmen darbietet.

Der Keilberg, auf Böhmisch Bartum, d. i. Bartholomäusberg, der höchste
Gipfel des Erzgebirges, bildet gewissermaßen den Hauptstock des ganzen Gebirges,
einen Gebirgsknoten, von dem es in nordöstlicher und in südwestlicher Richtung
verläuft, und um den sich die höchsten Punkte gruppieren, sodaß es hier fast
das Ansehen eines Hochgebirges erhält. Dieser Vergleich kommt vorzugsweise
dem steilen, südlichen Abfalle des Keilberges zu, dessen Fuß unmittelbar von
der Talsohle des Egertales begrenzt wird, aus der er plötzlich sehr schroff
emporsteigt, im Gegensatze zum nördlichen Abfalle, wo es ganz allmählich zum
Gipfel hinaufgeht. In der nächsten Nähe des Berges stehen dicht aneinander
gereiht, wie Mastbäume, die schlank gewachsten Fichten und Tannen des
Schwarzwaldes, ein Name, den die ausgedehnten herrlichen Waldungen am
Südabhange des Keilberges führen, an die sich weithin nach den verschiednen
Richtungen die gewaltige Waldregion, ein förmliches Forstmeer, der mannig¬
faltigsten Höhenzüge mit ihren Kuppen anreiht; denn der Blick schweift bei
heiterm Himmel über das ganze böhmische Erzgebirge, vom Böhmerwalde und
Fichtelgebirge an bis an das Riesengebirge, eine wundervolle Aussicht, wie sie
in solchem Maße kein zweiter Berg im ganzen Erzgebirge bietet. Alle einzelnen
Punkte dieses farbenprächtigen Panoramas zu schildern, ist fast unmöglich. Den
Gipfel des Keilberges ziert ein schöner, steinerner Aussichtsturm, dessen Platt¬
form, zu der 75 Stufen empor führen, überglast ist, um den heftigen Luftzug
abzuhalten, und der den Namen „Kaiser-Franz-Josephsturm" führt; die
Kosten des von dem Erzgebirgsverein Joachimsthal erbauten Turmes betrugen
7000 Gulden.

Vom Keilberg gehen wir in dreiviertel Stunden hinunter nach Gottesgab,
das 1015 Meter hoch auf einem überaus stiefmütterlich ausgestatteten, unwirt¬
lichen und frostig rauhen Moorplateau hart an der sächsischen Grenze liegt,
die höchstgelegne Stadt der österreichisch-ungarischen Monarchie und nebenbei


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[0691] Line Sommerfahrt in das Erzgebirge eine schöne breite Straße; wir schlagen jedoch einen wenig betretnen Fußweg über die nördliche Abdachung des Berges ein, ödes Heideland, das nur mit spärlichem Fichtenbestand besetzt ist. Nach unten zieht sich der sogenannte „Kalte Wintergrund" hin, der wohl die traurigste Gegend des ganzen Erzgebirges ist. denn auf der Mitternachtsseite, wo selten ein Sonnenstrahl in diese beinahe unheimliche Schlucht dringt, liegt sogar im Juni noch Schnee. Und doch findet sich auch da noch eine menschliche Ansiedlung, „Der kalte Winter", im Volks¬ munde „Böhmisch-Sibirien" genannt. Die Bewohner können bei schrecklichen Schneestürmen oft acht Tage lang nicht aus dem Hause, und es wäre fürwahr tollkühn, wenn sie sich aufs Geratewohl durch die klafterhohen Schneemassen einen Weg bahnen wollten. Bei den „Sonnenwirbelhä'usem", die schon böhmisch und die höchste Ansiedlung im ganzen Erzgebirge sind (1154 Meter), erreichen wir die Straße wieder und wenden uns nun nach der Spitze des Keilberges, der, 1244 Meter hoch, eine herrliche, das Panorama vom Fichtelberge ergänzende Aussicht auf Böhmen darbietet. Der Keilberg, auf Böhmisch Bartum, d. i. Bartholomäusberg, der höchste Gipfel des Erzgebirges, bildet gewissermaßen den Hauptstock des ganzen Gebirges, einen Gebirgsknoten, von dem es in nordöstlicher und in südwestlicher Richtung verläuft, und um den sich die höchsten Punkte gruppieren, sodaß es hier fast das Ansehen eines Hochgebirges erhält. Dieser Vergleich kommt vorzugsweise dem steilen, südlichen Abfalle des Keilberges zu, dessen Fuß unmittelbar von der Talsohle des Egertales begrenzt wird, aus der er plötzlich sehr schroff emporsteigt, im Gegensatze zum nördlichen Abfalle, wo es ganz allmählich zum Gipfel hinaufgeht. In der nächsten Nähe des Berges stehen dicht aneinander gereiht, wie Mastbäume, die schlank gewachsten Fichten und Tannen des Schwarzwaldes, ein Name, den die ausgedehnten herrlichen Waldungen am Südabhange des Keilberges führen, an die sich weithin nach den verschiednen Richtungen die gewaltige Waldregion, ein förmliches Forstmeer, der mannig¬ faltigsten Höhenzüge mit ihren Kuppen anreiht; denn der Blick schweift bei heiterm Himmel über das ganze böhmische Erzgebirge, vom Böhmerwalde und Fichtelgebirge an bis an das Riesengebirge, eine wundervolle Aussicht, wie sie in solchem Maße kein zweiter Berg im ganzen Erzgebirge bietet. Alle einzelnen Punkte dieses farbenprächtigen Panoramas zu schildern, ist fast unmöglich. Den Gipfel des Keilberges ziert ein schöner, steinerner Aussichtsturm, dessen Platt¬ form, zu der 75 Stufen empor führen, überglast ist, um den heftigen Luftzug abzuhalten, und der den Namen „Kaiser-Franz-Josephsturm" führt; die Kosten des von dem Erzgebirgsverein Joachimsthal erbauten Turmes betrugen 7000 Gulden. Vom Keilberg gehen wir in dreiviertel Stunden hinunter nach Gottesgab, das 1015 Meter hoch auf einem überaus stiefmütterlich ausgestatteten, unwirt¬ lichen und frostig rauhen Moorplateau hart an der sächsischen Grenze liegt, die höchstgelegne Stadt der österreichisch-ungarischen Monarchie und nebenbei

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301987/691>, abgerufen am 06.02.2025.