Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Sozialdemokratie und Gericht

sächlichstell ja klar zutage liegen. Wer nichts zu verlieren hat als die Freiheit,
setzt diese natürlich leichter aufs Spiel, als der, der mit ihr einen Teil seiner
Habe, die Achtung der ihm Gleichgestellten, oft alles, was er ist und hat,
einbüßt. Ja es bietet bei manchem die Haft gar keinen so Übeln Tausch
gegenüber der Freiheit, das trifft besonders bei den elendesten der Armen zu,
dem Heer der Landstreicher, die sich bei schlechtem Wetter fast freiwillig stellen,
nur bei gutem Wetter nicht gern zu haben sind. Jedes Gericht, besonders
draußen auf dem Lande, kann davon erzählen. Damit ist natürlich keineswegs
gesagt, daß die Freiheitsstrafe den Unbemittelte" nicht auch schwer treffen könne.
Gerade den ordentlichen Arbeiter, der mit ihr vielleicht aus dauernder Arbeit
gerissen und den Seinen als Ernährer entzogen wird, nimmt sie hart mit, und
der Richter muß dem im Strafmaß Rechnung tragen.

Eine weitere Hauptursache und ein mächtiges Reizmittel zum Verbrechen ist
aber der unselige Branntwein, der in der Masse der Handarbeitenden täglich
neue Opfer findet und manchen, der sonst nie zum Verbrecher geworden wäre,
dazu gemacht hat. Dem einen raubt er laugsam aber unaufhaltsam seine beste
Widerstandskraft, Ehrgefühl und moralisches Empfinden, Liebe und Verant¬
wortlichkeitsgefühl für Weib und Kind, den andern reißt er über Nacht ins
Unglück, sodaß er sich frühmorgens mit Schauder" darüber klar wird, was
er im Rausche getan hat. Daß endlich die Not in jeder Gestalt, Wohnungsnot,
Erwerbsnot, verschuldete und unverschuldete, körperliches und seelisches Elend
zur Gesetzesübertretung führen, wer wills leugnen!

Die Sozialdemokratie aber läßt, einseitig und unehrlich, wie fast überall,
auch hier nur die unverschuldete Not als Ursache gelten. Niemals dn selbst,
deine Leidenschaften und Schwächen, sondern nur die elenden Staatsein¬
richtungen sind schuld, daß du zum Verbrecher wirst, werde" mußt! So ruft
sie dem Heere der Gesetzesübertreter zu. Das klingt wieder so schön im Ohr
aller der Armen, die sich das Gesetz zum Feinde machten, und ist doch wiederum
so unsäglich falsch. Jeder Tag gerichtlicher Praxis zeigt uns das und führt
uns mindestens ebenso oft die andern Verbrechensursachen vor, die, die im
Menschen selbst liege" und durch keine noch so ideale Staatseinrichtung auf¬
gehoben werden können. Und diese sozialdemokratische Lehre ist auch für die
Leute, für die sie berechnet ist, ein so furchtbar verderbliches Gift, denn sie
nimmt ihnen die letzte Möglichkeit, sich zu halten, einzuhalten auf der Bahn
ins Verderben, sie raubt ihnen den letzten Rückenhalt: das Empfinden für
Gut und Schlecht, das Gewissen. Und wenn die Sozialdemokratie wirklich
den Schwachen Gutes gebracht hätte, hier begeht sie tagtäglich Verbrechen an
den Ärmsten im Volke, dnrch solche Lehren sie immer mehr ins Elend hinein¬
stoßend, Verbreche", die kein Verdienst auch nur annähernd ausgleichen konnte!

Wahr ist vielmehr, daß sich auch in Not und Entbehrung, die ja nie
ganz aussterben werden, am wenigsten bei Verwirklichung der sozialistische"
Ideen, Gott sei Dank tausende und abertcmsende brav und rechtschaffen halten,


Sozialdemokratie und Gericht

sächlichstell ja klar zutage liegen. Wer nichts zu verlieren hat als die Freiheit,
setzt diese natürlich leichter aufs Spiel, als der, der mit ihr einen Teil seiner
Habe, die Achtung der ihm Gleichgestellten, oft alles, was er ist und hat,
einbüßt. Ja es bietet bei manchem die Haft gar keinen so Übeln Tausch
gegenüber der Freiheit, das trifft besonders bei den elendesten der Armen zu,
dem Heer der Landstreicher, die sich bei schlechtem Wetter fast freiwillig stellen,
nur bei gutem Wetter nicht gern zu haben sind. Jedes Gericht, besonders
draußen auf dem Lande, kann davon erzählen. Damit ist natürlich keineswegs
gesagt, daß die Freiheitsstrafe den Unbemittelte» nicht auch schwer treffen könne.
Gerade den ordentlichen Arbeiter, der mit ihr vielleicht aus dauernder Arbeit
gerissen und den Seinen als Ernährer entzogen wird, nimmt sie hart mit, und
der Richter muß dem im Strafmaß Rechnung tragen.

Eine weitere Hauptursache und ein mächtiges Reizmittel zum Verbrechen ist
aber der unselige Branntwein, der in der Masse der Handarbeitenden täglich
neue Opfer findet und manchen, der sonst nie zum Verbrecher geworden wäre,
dazu gemacht hat. Dem einen raubt er laugsam aber unaufhaltsam seine beste
Widerstandskraft, Ehrgefühl und moralisches Empfinden, Liebe und Verant¬
wortlichkeitsgefühl für Weib und Kind, den andern reißt er über Nacht ins
Unglück, sodaß er sich frühmorgens mit Schauder» darüber klar wird, was
er im Rausche getan hat. Daß endlich die Not in jeder Gestalt, Wohnungsnot,
Erwerbsnot, verschuldete und unverschuldete, körperliches und seelisches Elend
zur Gesetzesübertretung führen, wer wills leugnen!

Die Sozialdemokratie aber läßt, einseitig und unehrlich, wie fast überall,
auch hier nur die unverschuldete Not als Ursache gelten. Niemals dn selbst,
deine Leidenschaften und Schwächen, sondern nur die elenden Staatsein¬
richtungen sind schuld, daß du zum Verbrecher wirst, werde» mußt! So ruft
sie dem Heere der Gesetzesübertreter zu. Das klingt wieder so schön im Ohr
aller der Armen, die sich das Gesetz zum Feinde machten, und ist doch wiederum
so unsäglich falsch. Jeder Tag gerichtlicher Praxis zeigt uns das und führt
uns mindestens ebenso oft die andern Verbrechensursachen vor, die, die im
Menschen selbst liege» und durch keine noch so ideale Staatseinrichtung auf¬
gehoben werden können. Und diese sozialdemokratische Lehre ist auch für die
Leute, für die sie berechnet ist, ein so furchtbar verderbliches Gift, denn sie
nimmt ihnen die letzte Möglichkeit, sich zu halten, einzuhalten auf der Bahn
ins Verderben, sie raubt ihnen den letzten Rückenhalt: das Empfinden für
Gut und Schlecht, das Gewissen. Und wenn die Sozialdemokratie wirklich
den Schwachen Gutes gebracht hätte, hier begeht sie tagtäglich Verbrechen an
den Ärmsten im Volke, dnrch solche Lehren sie immer mehr ins Elend hinein¬
stoßend, Verbreche», die kein Verdienst auch nur annähernd ausgleichen konnte!

Wahr ist vielmehr, daß sich auch in Not und Entbehrung, die ja nie
ganz aussterben werden, am wenigsten bei Verwirklichung der sozialistische»
Ideen, Gott sei Dank tausende und abertcmsende brav und rechtschaffen halten,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0069" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/302057"/>
          <fw type="header" place="top"> Sozialdemokratie und Gericht</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_270" prev="#ID_269"> sächlichstell ja klar zutage liegen. Wer nichts zu verlieren hat als die Freiheit,<lb/>
setzt diese natürlich leichter aufs Spiel, als der, der mit ihr einen Teil seiner<lb/>
Habe, die Achtung der ihm Gleichgestellten, oft alles, was er ist und hat,<lb/>
einbüßt. Ja es bietet bei manchem die Haft gar keinen so Übeln Tausch<lb/>
gegenüber der Freiheit, das trifft besonders bei den elendesten der Armen zu,<lb/>
dem Heer der Landstreicher, die sich bei schlechtem Wetter fast freiwillig stellen,<lb/>
nur bei gutem Wetter nicht gern zu haben sind. Jedes Gericht, besonders<lb/>
draußen auf dem Lande, kann davon erzählen. Damit ist natürlich keineswegs<lb/>
gesagt, daß die Freiheitsstrafe den Unbemittelte» nicht auch schwer treffen könne.<lb/>
Gerade den ordentlichen Arbeiter, der mit ihr vielleicht aus dauernder Arbeit<lb/>
gerissen und den Seinen als Ernährer entzogen wird, nimmt sie hart mit, und<lb/>
der Richter muß dem im Strafmaß Rechnung tragen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_271"> Eine weitere Hauptursache und ein mächtiges Reizmittel zum Verbrechen ist<lb/>
aber der unselige Branntwein, der in der Masse der Handarbeitenden täglich<lb/>
neue Opfer findet und manchen, der sonst nie zum Verbrecher geworden wäre,<lb/>
dazu gemacht hat. Dem einen raubt er laugsam aber unaufhaltsam seine beste<lb/>
Widerstandskraft, Ehrgefühl und moralisches Empfinden, Liebe und Verant¬<lb/>
wortlichkeitsgefühl für Weib und Kind, den andern reißt er über Nacht ins<lb/>
Unglück, sodaß er sich frühmorgens mit Schauder» darüber klar wird, was<lb/>
er im Rausche getan hat. Daß endlich die Not in jeder Gestalt, Wohnungsnot,<lb/>
Erwerbsnot, verschuldete und unverschuldete, körperliches und seelisches Elend<lb/>
zur Gesetzesübertretung führen, wer wills leugnen!</p><lb/>
          <p xml:id="ID_272"> Die Sozialdemokratie aber läßt, einseitig und unehrlich, wie fast überall,<lb/>
auch hier nur die unverschuldete Not als Ursache gelten. Niemals dn selbst,<lb/>
deine Leidenschaften und Schwächen, sondern nur die elenden Staatsein¬<lb/>
richtungen sind schuld, daß du zum Verbrecher wirst, werde» mußt! So ruft<lb/>
sie dem Heere der Gesetzesübertreter zu. Das klingt wieder so schön im Ohr<lb/>
aller der Armen, die sich das Gesetz zum Feinde machten, und ist doch wiederum<lb/>
so unsäglich falsch. Jeder Tag gerichtlicher Praxis zeigt uns das und führt<lb/>
uns mindestens ebenso oft die andern Verbrechensursachen vor, die, die im<lb/>
Menschen selbst liege» und durch keine noch so ideale Staatseinrichtung auf¬<lb/>
gehoben werden können. Und diese sozialdemokratische Lehre ist auch für die<lb/>
Leute, für die sie berechnet ist, ein so furchtbar verderbliches Gift, denn sie<lb/>
nimmt ihnen die letzte Möglichkeit, sich zu halten, einzuhalten auf der Bahn<lb/>
ins Verderben, sie raubt ihnen den letzten Rückenhalt: das Empfinden für<lb/>
Gut und Schlecht, das Gewissen. Und wenn die Sozialdemokratie wirklich<lb/>
den Schwachen Gutes gebracht hätte, hier begeht sie tagtäglich Verbrechen an<lb/>
den Ärmsten im Volke, dnrch solche Lehren sie immer mehr ins Elend hinein¬<lb/>
stoßend, Verbreche», die kein Verdienst auch nur annähernd ausgleichen konnte!</p><lb/>
          <p xml:id="ID_273" next="#ID_274"> Wahr ist vielmehr, daß sich auch in Not und Entbehrung, die ja nie<lb/>
ganz aussterben werden, am wenigsten bei Verwirklichung der sozialistische»<lb/>
Ideen, Gott sei Dank tausende und abertcmsende brav und rechtschaffen halten,</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0069] Sozialdemokratie und Gericht sächlichstell ja klar zutage liegen. Wer nichts zu verlieren hat als die Freiheit, setzt diese natürlich leichter aufs Spiel, als der, der mit ihr einen Teil seiner Habe, die Achtung der ihm Gleichgestellten, oft alles, was er ist und hat, einbüßt. Ja es bietet bei manchem die Haft gar keinen so Übeln Tausch gegenüber der Freiheit, das trifft besonders bei den elendesten der Armen zu, dem Heer der Landstreicher, die sich bei schlechtem Wetter fast freiwillig stellen, nur bei gutem Wetter nicht gern zu haben sind. Jedes Gericht, besonders draußen auf dem Lande, kann davon erzählen. Damit ist natürlich keineswegs gesagt, daß die Freiheitsstrafe den Unbemittelte» nicht auch schwer treffen könne. Gerade den ordentlichen Arbeiter, der mit ihr vielleicht aus dauernder Arbeit gerissen und den Seinen als Ernährer entzogen wird, nimmt sie hart mit, und der Richter muß dem im Strafmaß Rechnung tragen. Eine weitere Hauptursache und ein mächtiges Reizmittel zum Verbrechen ist aber der unselige Branntwein, der in der Masse der Handarbeitenden täglich neue Opfer findet und manchen, der sonst nie zum Verbrecher geworden wäre, dazu gemacht hat. Dem einen raubt er laugsam aber unaufhaltsam seine beste Widerstandskraft, Ehrgefühl und moralisches Empfinden, Liebe und Verant¬ wortlichkeitsgefühl für Weib und Kind, den andern reißt er über Nacht ins Unglück, sodaß er sich frühmorgens mit Schauder» darüber klar wird, was er im Rausche getan hat. Daß endlich die Not in jeder Gestalt, Wohnungsnot, Erwerbsnot, verschuldete und unverschuldete, körperliches und seelisches Elend zur Gesetzesübertretung führen, wer wills leugnen! Die Sozialdemokratie aber läßt, einseitig und unehrlich, wie fast überall, auch hier nur die unverschuldete Not als Ursache gelten. Niemals dn selbst, deine Leidenschaften und Schwächen, sondern nur die elenden Staatsein¬ richtungen sind schuld, daß du zum Verbrecher wirst, werde» mußt! So ruft sie dem Heere der Gesetzesübertreter zu. Das klingt wieder so schön im Ohr aller der Armen, die sich das Gesetz zum Feinde machten, und ist doch wiederum so unsäglich falsch. Jeder Tag gerichtlicher Praxis zeigt uns das und führt uns mindestens ebenso oft die andern Verbrechensursachen vor, die, die im Menschen selbst liege» und durch keine noch so ideale Staatseinrichtung auf¬ gehoben werden können. Und diese sozialdemokratische Lehre ist auch für die Leute, für die sie berechnet ist, ein so furchtbar verderbliches Gift, denn sie nimmt ihnen die letzte Möglichkeit, sich zu halten, einzuhalten auf der Bahn ins Verderben, sie raubt ihnen den letzten Rückenhalt: das Empfinden für Gut und Schlecht, das Gewissen. Und wenn die Sozialdemokratie wirklich den Schwachen Gutes gebracht hätte, hier begeht sie tagtäglich Verbrechen an den Ärmsten im Volke, dnrch solche Lehren sie immer mehr ins Elend hinein¬ stoßend, Verbreche», die kein Verdienst auch nur annähernd ausgleichen konnte! Wahr ist vielmehr, daß sich auch in Not und Entbehrung, die ja nie ganz aussterben werden, am wenigsten bei Verwirklichung der sozialistische» Ideen, Gott sei Dank tausende und abertcmsende brav und rechtschaffen halten,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301987
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301987/69
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301987/69>, abgerufen am 06.02.2025.