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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.

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Lin (Lharcikterkopf aus der ältern Leipziger Schulgeschichte

"Vagant", so mag er sehen, wie er im Schulgebäude oder in einem Bürger¬
hause eine bescheidne Unterkunft (nosxitirun) findet, etwa gegen besondre häus¬
liche Dienste. Es wird meist eine unheizbare Kammer sein, und wie im Winter
von der Kälte, so wird er im Sommer von Flöhen und Wanzen zu leiden
haben. Seinen kargen Unterhalt mag er sich durch Vetteln vor den Türen und
durch Singen namentlich bei häuslichen Festen erwerben; auch aufs Land wird
er zuweilen hinausziehn, um Eier zu erbetteln, oder um bei der Ernte zu helfen.
Vielleicht erhält er auch einen Freitisch oder aus irgend einer Stiftung die
Möglichkeit, sich einmal umsonst die Haare schneiden zu lassen oder ein warmes
Bad zu nehmen; von kalten Flußbädern im Sommer hält sich der Vorsichtige
fern. Im wesentlichen als eine Last wird der Kirchendienst (nicht der Kirchen¬
besuch!) empfunden, namentlich bei den Frühmessen, da er nicht einmal das
Ausschlafen erlaubt, und an den hohen Festen, bei denen man ganze Tage auch
in der Winterkülte kaum aus der Kirche kommt; dazu gesellen sich die häufigen
Leichenbegängnisse. Natürlich wird der Schüler auch selbst zu religiösen Übungen
angehalten. Er hat die Fasten zu beobachten, obwohl er auch sonst oft genug
unfreiwillig fasten muß, er hat vor dem Gregoriusfeste um Ostern zu kommuni¬
zieren, in der Fronleichnamsprozession, die in Leipzig erst seit 1509 eingeführt
war, anzuziehn. Streng ist auch die Schulzucht selbst; Schläge mit der Rute
(kernig,) sind häufig, und der Freitag jeder Woche ist der schmerzliche Abrech¬
nungstag, wo der bestellte Spion, der opus oder vlaiKmws, auch geheime Ver¬
gehungen seiner Mitschüler anzeigt. Besonders streng wird das Schwänzen
bestraft.

Erholung findet der geplagte Schüler während der Schulzeit in manchen
Spielen, wie Schlagball und Kegeln (AlovulMs). Eigentliche Ferien gibt es nicht;
nur an den hohen Festen und zu Fastnacht siud einige Tage frei, außerdem
einige Heiligentage, der Gregoriustag (12. Mürz), Se. Katharinen (25. November),
der Patronin der Studien, der Tag des heiligen Nikolaus, des kinderfreundlichen
Bischofs von Myrrha (6. Dezember). Zu Weihnachten und Neujahr gibt es
noch keinen Christbaum, aber kleine Geschenke, die freilich der arme Schüler
weder machen kann, noch von andern erwarten darf; zu Fastnacht Mummen¬
schanz, den der korrekte Schüler allerdings meidet, weil er verboten ist, zu Ostern
Küche". Nach der Fronleichnamsprozession können die Schüler dem Passions¬
spiele auf dem Markte zusehen und sich über die anstrengende Rolle des Christus
unterhalten. Auch sonst gibt es mancherlei in der Öffentlichkeit zu sehen: ein
ritterliches Turnier auf dem Markte oder Seiltänzer oder einen Tanzbären,
den ein wandernder Pole vorführt. Es sind die Züge des Lebens aller da¬
maligen Lateinschulen, die sich im wesentlichen überall wiederholen.




Lin (Lharcikterkopf aus der ältern Leipziger Schulgeschichte

„Vagant", so mag er sehen, wie er im Schulgebäude oder in einem Bürger¬
hause eine bescheidne Unterkunft (nosxitirun) findet, etwa gegen besondre häus¬
liche Dienste. Es wird meist eine unheizbare Kammer sein, und wie im Winter
von der Kälte, so wird er im Sommer von Flöhen und Wanzen zu leiden
haben. Seinen kargen Unterhalt mag er sich durch Vetteln vor den Türen und
durch Singen namentlich bei häuslichen Festen erwerben; auch aufs Land wird
er zuweilen hinausziehn, um Eier zu erbetteln, oder um bei der Ernte zu helfen.
Vielleicht erhält er auch einen Freitisch oder aus irgend einer Stiftung die
Möglichkeit, sich einmal umsonst die Haare schneiden zu lassen oder ein warmes
Bad zu nehmen; von kalten Flußbädern im Sommer hält sich der Vorsichtige
fern. Im wesentlichen als eine Last wird der Kirchendienst (nicht der Kirchen¬
besuch!) empfunden, namentlich bei den Frühmessen, da er nicht einmal das
Ausschlafen erlaubt, und an den hohen Festen, bei denen man ganze Tage auch
in der Winterkülte kaum aus der Kirche kommt; dazu gesellen sich die häufigen
Leichenbegängnisse. Natürlich wird der Schüler auch selbst zu religiösen Übungen
angehalten. Er hat die Fasten zu beobachten, obwohl er auch sonst oft genug
unfreiwillig fasten muß, er hat vor dem Gregoriusfeste um Ostern zu kommuni¬
zieren, in der Fronleichnamsprozession, die in Leipzig erst seit 1509 eingeführt
war, anzuziehn. Streng ist auch die Schulzucht selbst; Schläge mit der Rute
(kernig,) sind häufig, und der Freitag jeder Woche ist der schmerzliche Abrech¬
nungstag, wo der bestellte Spion, der opus oder vlaiKmws, auch geheime Ver¬
gehungen seiner Mitschüler anzeigt. Besonders streng wird das Schwänzen
bestraft.

Erholung findet der geplagte Schüler während der Schulzeit in manchen
Spielen, wie Schlagball und Kegeln (AlovulMs). Eigentliche Ferien gibt es nicht;
nur an den hohen Festen und zu Fastnacht siud einige Tage frei, außerdem
einige Heiligentage, der Gregoriustag (12. Mürz), Se. Katharinen (25. November),
der Patronin der Studien, der Tag des heiligen Nikolaus, des kinderfreundlichen
Bischofs von Myrrha (6. Dezember). Zu Weihnachten und Neujahr gibt es
noch keinen Christbaum, aber kleine Geschenke, die freilich der arme Schüler
weder machen kann, noch von andern erwarten darf; zu Fastnacht Mummen¬
schanz, den der korrekte Schüler allerdings meidet, weil er verboten ist, zu Ostern
Küche». Nach der Fronleichnamsprozession können die Schüler dem Passions¬
spiele auf dem Markte zusehen und sich über die anstrengende Rolle des Christus
unterhalten. Auch sonst gibt es mancherlei in der Öffentlichkeit zu sehen: ein
ritterliches Turnier auf dem Markte oder Seiltänzer oder einen Tanzbären,
den ein wandernder Pole vorführt. Es sind die Züge des Lebens aller da¬
maligen Lateinschulen, die sich im wesentlichen überall wiederholen.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301987/680>, abgerufen am 06.02.2025.