Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.Die Zukunft Ägyptens Kontinentalmächte als Englands bedeuten. Das sind die Gründe, daß England Während aber aus Gründen, deren Erörterung hier leicht unterbleiben Bei der seit vierzig Jahren fortdauernden innern Zersetzung der österreichisch¬ Deutschlands auswärtige Politik aber muß sich, nach Dicey, von zwei ver- Deutschland will jede gewaltsame Lösung der orientalischen Frage zurzeit Grenzboten II 1907
Die Zukunft Ägyptens Kontinentalmächte als Englands bedeuten. Das sind die Gründe, daß England Während aber aus Gründen, deren Erörterung hier leicht unterbleiben Bei der seit vierzig Jahren fortdauernden innern Zersetzung der österreichisch¬ Deutschlands auswärtige Politik aber muß sich, nach Dicey, von zwei ver- Deutschland will jede gewaltsame Lösung der orientalischen Frage zurzeit Grenzboten II 1907
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0661" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/302649"/> <fw type="header" place="top"> Die Zukunft Ägyptens</fw><lb/> <p xml:id="ID_2885" prev="#ID_2884"> Kontinentalmächte als Englands bedeuten. Das sind die Gründe, daß England<lb/> nicht daran denken kann, die Türkei in Europa gegen etwaige russische Eingriffe<lb/> zu schützen.</p><lb/> <p xml:id="ID_2886"> Während aber aus Gründen, deren Erörterung hier leicht unterbleiben<lb/> kann. Frankreich und auch Italien gegen etwaige russische Schritte und Unter¬<lb/> nehmungen voraussichtlich keine Maßnahmen treffen werden, muß sich eine andre<lb/> Macht, hat sie einigermaßen eine Aussicht auf Erfolg, zum Widerstand ent¬<lb/> schließen. Diese Macht ist Österreich, das durch eine Festsetzung Rußlands am<lb/> Bosporus und durch die damit verbundn? Herrschaft über die Küsten des<lb/> Schwarzen Meeres von der Mündung der Donau bis zu den Dardanellen<lb/> jede Aussicht auf das Erbe des „Kranken Mannes" ebenso bestimmt verlieren<lb/> würde wie wahrscheinlich auch seine Unabhängigkeit und Selbständigkeit.</p><lb/> <p xml:id="ID_2887"> Bei der seit vierzig Jahren fortdauernden innern Zersetzung der österreichisch¬<lb/> ungarischen Monarchie und der fortgesetzten gegenseitigen Bekämpfung der drei<lb/> Hauptnationalitäten, der Deutschen, der Slawen und der Magyaren, kann diese<lb/> einem russischen Vordringen gegen den Bosporus mit Aussicht auf Erfolg nur<lb/> bei sichrer Unterstützung durch Deutschland entgegentreten. Gibt man diese<lb/> Folgerung zu, so muß man auch dem daraus folgenden Schlüsse beistimmen,<lb/> daß Deutschland Herr der Situation ist. Seine Politik im Zusammenhang mit<lb/> der orientalischen Frage in Vergangenheit und Zukunft muß deshalb in Er¬<lb/> wägung gezogen werden.</p><lb/> <p xml:id="ID_2888"> Deutschlands auswärtige Politik aber muß sich, nach Dicey, von zwei ver-<lb/> schiednen und in gewissem Sinne unvereinbarer Zielen leiten lassen. Einerseits<lb/> darf Rußland, als Hauptmacht des Zweibundes, nicht vor den Kopf gestoßen,<lb/> andrerseits muß der Dreibund in seiner Stärke erhalten werden. Diese schwierig<lb/> ZU vereinigenden Ziele lassen sich bloß erreichen durch Erhaltung des LWW8<lb/> Mo in der europäischen Türkei, solange dies überhaupt im Bereich der Mög¬<lb/> lichkeit liegt. Hieraus erklärt sich auch, nach Diceys Meinung. Deutschlands<lb/> Zurückhaltung in allen Reformfragen in der Türkei und bei allen etwa sich<lb/> bietenden Anlässen eines Eingriffes hier oder auf der Balkanhalbinsel. Die<lb/> Äußerung Bismarcks von den Knochen des einen pommerschen Grenadiers, die<lb/> ihm mehr wert seien als die Befreiung Bulgariens von der türkischen Herr¬<lb/> schaft, erscheint Dicey als der Ausdruck der einzig korrekten Politik, die nebenbei<lb/> humaner sei als die Gladstones, der bei den Bulgaren falsche Hoffnungen auf<lb/> eine britische Intervention erweckt hatte.</p><lb/> <p xml:id="ID_2889" next="#ID_2890"> Deutschland will jede gewaltsame Lösung der orientalischen Frage zurzeit<lb/> vermieden sehen. Eine solche kann nur von Nußland ausgehen und muß einen<lb/> österreichisch-russischen Krieg zur Folge haben, bei dem Deutschland kaum wird<lb/> vermeiden können, für die eine oder die andre Macht Partei zu nehmen. Zur¬<lb/> zeit fallen Österreichs und Rußlands Absichten in dem Punkte zusammen, daß<lb/> beide einen Bruch mit der Türkei zu vermeiden wünschen. Solange der Zar<lb/> und die Duma in unentschiednem Streite liegen, muß Rußland den Frieden</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten II 1907</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0661]
Die Zukunft Ägyptens
Kontinentalmächte als Englands bedeuten. Das sind die Gründe, daß England
nicht daran denken kann, die Türkei in Europa gegen etwaige russische Eingriffe
zu schützen.
Während aber aus Gründen, deren Erörterung hier leicht unterbleiben
kann. Frankreich und auch Italien gegen etwaige russische Schritte und Unter¬
nehmungen voraussichtlich keine Maßnahmen treffen werden, muß sich eine andre
Macht, hat sie einigermaßen eine Aussicht auf Erfolg, zum Widerstand ent¬
schließen. Diese Macht ist Österreich, das durch eine Festsetzung Rußlands am
Bosporus und durch die damit verbundn? Herrschaft über die Küsten des
Schwarzen Meeres von der Mündung der Donau bis zu den Dardanellen
jede Aussicht auf das Erbe des „Kranken Mannes" ebenso bestimmt verlieren
würde wie wahrscheinlich auch seine Unabhängigkeit und Selbständigkeit.
Bei der seit vierzig Jahren fortdauernden innern Zersetzung der österreichisch¬
ungarischen Monarchie und der fortgesetzten gegenseitigen Bekämpfung der drei
Hauptnationalitäten, der Deutschen, der Slawen und der Magyaren, kann diese
einem russischen Vordringen gegen den Bosporus mit Aussicht auf Erfolg nur
bei sichrer Unterstützung durch Deutschland entgegentreten. Gibt man diese
Folgerung zu, so muß man auch dem daraus folgenden Schlüsse beistimmen,
daß Deutschland Herr der Situation ist. Seine Politik im Zusammenhang mit
der orientalischen Frage in Vergangenheit und Zukunft muß deshalb in Er¬
wägung gezogen werden.
Deutschlands auswärtige Politik aber muß sich, nach Dicey, von zwei ver-
schiednen und in gewissem Sinne unvereinbarer Zielen leiten lassen. Einerseits
darf Rußland, als Hauptmacht des Zweibundes, nicht vor den Kopf gestoßen,
andrerseits muß der Dreibund in seiner Stärke erhalten werden. Diese schwierig
ZU vereinigenden Ziele lassen sich bloß erreichen durch Erhaltung des LWW8
Mo in der europäischen Türkei, solange dies überhaupt im Bereich der Mög¬
lichkeit liegt. Hieraus erklärt sich auch, nach Diceys Meinung. Deutschlands
Zurückhaltung in allen Reformfragen in der Türkei und bei allen etwa sich
bietenden Anlässen eines Eingriffes hier oder auf der Balkanhalbinsel. Die
Äußerung Bismarcks von den Knochen des einen pommerschen Grenadiers, die
ihm mehr wert seien als die Befreiung Bulgariens von der türkischen Herr¬
schaft, erscheint Dicey als der Ausdruck der einzig korrekten Politik, die nebenbei
humaner sei als die Gladstones, der bei den Bulgaren falsche Hoffnungen auf
eine britische Intervention erweckt hatte.
Deutschland will jede gewaltsame Lösung der orientalischen Frage zurzeit
vermieden sehen. Eine solche kann nur von Nußland ausgehen und muß einen
österreichisch-russischen Krieg zur Folge haben, bei dem Deutschland kaum wird
vermeiden können, für die eine oder die andre Macht Partei zu nehmen. Zur¬
zeit fallen Österreichs und Rußlands Absichten in dem Punkte zusammen, daß
beide einen Bruch mit der Türkei zu vermeiden wünschen. Solange der Zar
und die Duma in unentschiednem Streite liegen, muß Rußland den Frieden
Grenzboten II 1907
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