Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches der Übersetzung haben die Anschauungen und Ansprüche gewechselt: zwei Schulen Es wird vielleicht nicht allseitig zur Genüge gewürdigt, wie gut die alt¬ Dem ist nun endlich abgeholfen, und es ist eine freundliche Fügung, daß in Maßgebliches und Unmaßgebliches der Übersetzung haben die Anschauungen und Ansprüche gewechselt: zwei Schulen Es wird vielleicht nicht allseitig zur Genüge gewürdigt, wie gut die alt¬ Dem ist nun endlich abgeholfen, und es ist eine freundliche Fügung, daß in <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0062" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/302050"/> <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/> <p xml:id="ID_248" prev="#ID_247"> der Übersetzung haben die Anschauungen und Ansprüche gewechselt: zwei Schulen<lb/> stehen hauptsächlich in Frage, die man mit einer leichten Umbiegung der Begriffe<lb/> nach Wischers Klassifizierung der Faustinterpreten als die der Stoff- und der Sinn-<lb/> huber bezeichnen könnte. Die einen legen einen besondern Wert darauf, die äußere<lb/> stoffliche Form einer Dichtung möglichst genau wiederzugeben, wie dies bei den<lb/> griechischen Dichtungen zum Beispiel Voß, Droysen, Donner getan haben. Den<lb/> andern ist die Wiedergabe des Wortes und Gedankens in einer dem heutigen<lb/> ästhetischen Empfinden gerechten Ausdrucksweise die Hauptsache; so den neusten Meistern:<lb/> Wilamowitz, Hubatsch. Zweifellos hat die Übersetzung die höchste Vollendung, die<lb/> beide Ziele zugleich erreicht, indem sie unter zwangloser Bewahrung der gegebnen<lb/> Form den Sinn der Urschrift zum vollen Ausdruck bringt. Da diese Befriedigung<lb/> aller Ansprüche meist unmöglich sein wird, so bietet die Wertung einer Übersetzung<lb/> je nach der Bevorzugung des einen oder andern Prinzips oft recht reizvolle Probleme<lb/> des Geschmacks.</p><lb/> <p xml:id="ID_249"> Es wird vielleicht nicht allseitig zur Genüge gewürdigt, wie gut die alt¬<lb/> germanischen Kunstformen auch heute noch unsrer Sprache stehn. Es liegt eine Kraft<lb/> und Schönheit in ihnen, die nach einer Wiederbelebung geradezu verlangt, und die<lb/> in ihrer großartigen Einfachheit uns Modernen jedenfalls viel wohlgefälliger an¬<lb/> mutet als etwa die äußerlich weit kunstvollem Weisen Walters oder gar der spätern<lb/> Minne- und der Meistersinger. Bisher freilich waren uns Heutigen, die wir ja<lb/> leider die ältesten Denkmäler der Schaffenskunst unsrer Ahnen nicht in ihrer ur¬<lb/> sprünglichen Gestalt zu genießen vermögen, Betrachtungen dieser Art durch die uns<lb/> zu Gebote stehenden Übersetzungen nicht eben leicht gemacht: Edda und Nibelungen¬<lb/> lied, Heliand und Beowulf lagen uns in Nachdichtungen vor, die bei aller Anerkennung<lb/> vor der philologischen Arbeit als solcher doch das poetische Gefühl, das schon die<lb/> bloßen Namen in uns erwecken, nicht befriedigten. Mancher, der mit verlangender<lb/> Seele an diese Heiligtümer herantrat, wird mit schmerzlicher Enttäuschung — zwar<lb/> im stillen aus Achtung vor der Person des Übersetzers und seiner Mühewaltung — doch<lb/> darum nicht minder lebhaft bei sich empfunden haben, was ein großer Forscher von<lb/> dem bekanntesten und bisher so gut wie allem in Betracht kommenden Erneuerer<lb/> altgermanischer Dichtung aussprach: er tilge mit unbarmherziger Hand die Schön¬<lb/> heiten seiner Vorlage.</p><lb/> <p xml:id="ID_250" next="#ID_251"> Dem ist nun endlich abgeholfen, und es ist eine freundliche Fügung, daß in<lb/> den Tagen, wo Meister wie die obengenannten die Schätze der antiken Literatur<lb/> in zeitgemäßer Form wiederbeleben, auch unsers Stammes älteste Kunstdenkmäler<lb/> dem Geschmack der Enkel aufs neue näher gebracht werden. Hugo Gering, Pro¬<lb/> fessor der germanistischen Wissenschaft an der Universität Kiel, hat schon vor mehreren<lb/> Jahren in Meyers Klassikerausgaben eine Übertragung der Edda veröffentlicht, die<lb/> vielen wohl zum erstenmal einen Einblick in die eigentümliche Schönheit der Welt<lb/> der Nornen und Walküren eröffnete, und die denn auch — abgesehen von den Fach¬<lb/> zeitschriften — in der Tagespresse lebhafte Anerkennung fand. Diesem großen Werk<lb/> ist jetzt eine Übersetzung des Beowulf gefolgt, die wiederum einem Stück ger-<lb/> manischer Heldenpoesie den gebührenden schönen und modernen Ausdruck verleiht.<lb/> Es ist nicht mehr die Zeit der Götter und göttergezeugten Helden, in die wir ge¬<lb/> führt werden; ein angelsächsischer Geistlicher singt von dem Recken aus dänischen<lb/> Königsblut, und mit den zugrunde liegenden christlichen Anschauungen mischen sich<lb/> seltsam übrig gebliebne Vorstellungen des Heidentums. Das Gedicht, bekanntlich<lb/> das älteste Epos der Germanen, das wir ganz besitzen, mutet uns zuweilen sonderbar,<lb/> wohl gar ungefüge an; es ist ja nicht eigentlich ein „klassisches Werk", ein „Gipfel<lb/> der Kunst". Aber wer sich ein wenig von dem heldenhaften, kampfesfrcudigen Sinn</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0062]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
der Übersetzung haben die Anschauungen und Ansprüche gewechselt: zwei Schulen
stehen hauptsächlich in Frage, die man mit einer leichten Umbiegung der Begriffe
nach Wischers Klassifizierung der Faustinterpreten als die der Stoff- und der Sinn-
huber bezeichnen könnte. Die einen legen einen besondern Wert darauf, die äußere
stoffliche Form einer Dichtung möglichst genau wiederzugeben, wie dies bei den
griechischen Dichtungen zum Beispiel Voß, Droysen, Donner getan haben. Den
andern ist die Wiedergabe des Wortes und Gedankens in einer dem heutigen
ästhetischen Empfinden gerechten Ausdrucksweise die Hauptsache; so den neusten Meistern:
Wilamowitz, Hubatsch. Zweifellos hat die Übersetzung die höchste Vollendung, die
beide Ziele zugleich erreicht, indem sie unter zwangloser Bewahrung der gegebnen
Form den Sinn der Urschrift zum vollen Ausdruck bringt. Da diese Befriedigung
aller Ansprüche meist unmöglich sein wird, so bietet die Wertung einer Übersetzung
je nach der Bevorzugung des einen oder andern Prinzips oft recht reizvolle Probleme
des Geschmacks.
Es wird vielleicht nicht allseitig zur Genüge gewürdigt, wie gut die alt¬
germanischen Kunstformen auch heute noch unsrer Sprache stehn. Es liegt eine Kraft
und Schönheit in ihnen, die nach einer Wiederbelebung geradezu verlangt, und die
in ihrer großartigen Einfachheit uns Modernen jedenfalls viel wohlgefälliger an¬
mutet als etwa die äußerlich weit kunstvollem Weisen Walters oder gar der spätern
Minne- und der Meistersinger. Bisher freilich waren uns Heutigen, die wir ja
leider die ältesten Denkmäler der Schaffenskunst unsrer Ahnen nicht in ihrer ur¬
sprünglichen Gestalt zu genießen vermögen, Betrachtungen dieser Art durch die uns
zu Gebote stehenden Übersetzungen nicht eben leicht gemacht: Edda und Nibelungen¬
lied, Heliand und Beowulf lagen uns in Nachdichtungen vor, die bei aller Anerkennung
vor der philologischen Arbeit als solcher doch das poetische Gefühl, das schon die
bloßen Namen in uns erwecken, nicht befriedigten. Mancher, der mit verlangender
Seele an diese Heiligtümer herantrat, wird mit schmerzlicher Enttäuschung — zwar
im stillen aus Achtung vor der Person des Übersetzers und seiner Mühewaltung — doch
darum nicht minder lebhaft bei sich empfunden haben, was ein großer Forscher von
dem bekanntesten und bisher so gut wie allem in Betracht kommenden Erneuerer
altgermanischer Dichtung aussprach: er tilge mit unbarmherziger Hand die Schön¬
heiten seiner Vorlage.
Dem ist nun endlich abgeholfen, und es ist eine freundliche Fügung, daß in
den Tagen, wo Meister wie die obengenannten die Schätze der antiken Literatur
in zeitgemäßer Form wiederbeleben, auch unsers Stammes älteste Kunstdenkmäler
dem Geschmack der Enkel aufs neue näher gebracht werden. Hugo Gering, Pro¬
fessor der germanistischen Wissenschaft an der Universität Kiel, hat schon vor mehreren
Jahren in Meyers Klassikerausgaben eine Übertragung der Edda veröffentlicht, die
vielen wohl zum erstenmal einen Einblick in die eigentümliche Schönheit der Welt
der Nornen und Walküren eröffnete, und die denn auch — abgesehen von den Fach¬
zeitschriften — in der Tagespresse lebhafte Anerkennung fand. Diesem großen Werk
ist jetzt eine Übersetzung des Beowulf gefolgt, die wiederum einem Stück ger-
manischer Heldenpoesie den gebührenden schönen und modernen Ausdruck verleiht.
Es ist nicht mehr die Zeit der Götter und göttergezeugten Helden, in die wir ge¬
führt werden; ein angelsächsischer Geistlicher singt von dem Recken aus dänischen
Königsblut, und mit den zugrunde liegenden christlichen Anschauungen mischen sich
seltsam übrig gebliebne Vorstellungen des Heidentums. Das Gedicht, bekanntlich
das älteste Epos der Germanen, das wir ganz besitzen, mutet uns zuweilen sonderbar,
wohl gar ungefüge an; es ist ja nicht eigentlich ein „klassisches Werk", ein „Gipfel
der Kunst". Aber wer sich ein wenig von dem heldenhaften, kampfesfrcudigen Sinn
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