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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.

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Reichsgerichtsdeutsch

allem in Zivilsachen, und fast jedes größere Erkenntnis der Amts- und der
Landgerichte beruft sich auf Entscheidungen des Reichsgerichts, um den Urteils¬
gründen mehr Nachdruck zu geben. Dadurch aber kommen sie zur weitern
Kenntnis unsers rechtsuchenden Volkes, namentlich wenn die Neichsgerichtsurteile,
wie es nicht selten geschieht, auszugsweise wörtlich angeführt werden. Wer
dann ein so mit Entscheidungen und langatmigen Satzungeheucrn gespieltes
Urteil zu lesen hat, sei es in eigner oder fremder Angelegenheit, der muß not¬
gedrungen eine falsche Meinung von der Rechtsprechung bekommen. Die Achtung
vor dieser muß sinken, wenn niemand weiß, weshalb er einen Rechtsstreit
gewonnen oder verloren hat und ihm nicht mit klaren Worten gesagt wird, aus
welchen Gründen er oder der Gegner verurteilt oder abgewiesen worden ist.

Doch die Reichsgerichtsentscheidungen kommen noch aus andern Wegen in
das Volk hinunter, und zwar einmal durch die Zeitungen, in denen fast regel¬
mäßig wichtige Urteile abgedruckt werden, sodann aber auch namentlich in Fach¬
zeitschriften, die ihre Leserkreise gerade ans neue Entscheidungen hinweisen. Wie
viele stehen zum Beispiel gerade jetzt in landwirtschaftlichen Blättern über die
Tierhaltung und die daraus sich ergebende Haftung; wie schwer ist es, sich die
Meinung des Reichsgerichts im einzelnen Falle klipp und klar herauszuschälen,
durch welchen Wust von Sätzen muß man sich hindurcharbeiten, um der Sache
auf den Grund zu kommen! Und doch sind die Urteile in letzter Linie nicht
für die Anwälte und Richter der Vorderinstanzen, sondern für die Parteien
geschrieben, die über ihr Recht oder Unrecht belehrt werden sollen und die
Kosten zu tragen haben. Wie oft und wie leicht gibt es dabei Irrtümer und
Mißverstündnisse, die dann ein falsches Bild von der Rechtsprechung erzeugen
und Unzufriedenheit wecken und mehren. Dies sollte bei der herrschenden und
oft genug zutage tretenden Bemängelung der richterlichen Tätigkeit nicht ganz
übersehen und mit einem Witze oder Scherzwort abgetan werden, dazu ist die
Sache denn doch zu ernst. Die Entscheidungen des höchsten Gerichtshofes, die
die tiefste juristische Weisheit umfassen und für die Zukunft mitberechnet sind,
müssen auch sprachlich Kunstwerke sein, durchsichtig, klar und verstündlich für
jedermann, wie eben Kunstwerke andrer Art ohne weitere Erklärung verständlich
sein sollen. Das ist das Ideal, das auch für die Urteile des Reichsgerichts
erstrebt werden muß.

Schopenhauer hat einmal über den Stil gesagt: Wer nachlässig schreibt,
legt dadurch zunächst das Bekenntnis ab, daß er selbst seinen Gedanken keinen
großen Wert beilegt: denn nur aus der Überzeugung von der Wahrheit und
Wichtigkeit unsrer Gedanken entspringt die Begeisterung, die erfordert ist, um
mit unermüdlicher Ausdauer überall auf deutlichsten, schönsten und kräftigsten
Ausdruck bedacht zu sein, wie man nur an Heiligtümer oder unschätzbare
Kunstwerke silberne oder goldne Behältnisse wendet. Die Deutschen zeichnen
sich durch Nachlässigkeit des Stils wie des Umzugs vor andern Nationen
aus, und beiderlei Schlumperei entspringt aus derselbe" im Nationalcharakter


Reichsgerichtsdeutsch

allem in Zivilsachen, und fast jedes größere Erkenntnis der Amts- und der
Landgerichte beruft sich auf Entscheidungen des Reichsgerichts, um den Urteils¬
gründen mehr Nachdruck zu geben. Dadurch aber kommen sie zur weitern
Kenntnis unsers rechtsuchenden Volkes, namentlich wenn die Neichsgerichtsurteile,
wie es nicht selten geschieht, auszugsweise wörtlich angeführt werden. Wer
dann ein so mit Entscheidungen und langatmigen Satzungeheucrn gespieltes
Urteil zu lesen hat, sei es in eigner oder fremder Angelegenheit, der muß not¬
gedrungen eine falsche Meinung von der Rechtsprechung bekommen. Die Achtung
vor dieser muß sinken, wenn niemand weiß, weshalb er einen Rechtsstreit
gewonnen oder verloren hat und ihm nicht mit klaren Worten gesagt wird, aus
welchen Gründen er oder der Gegner verurteilt oder abgewiesen worden ist.

Doch die Reichsgerichtsentscheidungen kommen noch aus andern Wegen in
das Volk hinunter, und zwar einmal durch die Zeitungen, in denen fast regel¬
mäßig wichtige Urteile abgedruckt werden, sodann aber auch namentlich in Fach¬
zeitschriften, die ihre Leserkreise gerade ans neue Entscheidungen hinweisen. Wie
viele stehen zum Beispiel gerade jetzt in landwirtschaftlichen Blättern über die
Tierhaltung und die daraus sich ergebende Haftung; wie schwer ist es, sich die
Meinung des Reichsgerichts im einzelnen Falle klipp und klar herauszuschälen,
durch welchen Wust von Sätzen muß man sich hindurcharbeiten, um der Sache
auf den Grund zu kommen! Und doch sind die Urteile in letzter Linie nicht
für die Anwälte und Richter der Vorderinstanzen, sondern für die Parteien
geschrieben, die über ihr Recht oder Unrecht belehrt werden sollen und die
Kosten zu tragen haben. Wie oft und wie leicht gibt es dabei Irrtümer und
Mißverstündnisse, die dann ein falsches Bild von der Rechtsprechung erzeugen
und Unzufriedenheit wecken und mehren. Dies sollte bei der herrschenden und
oft genug zutage tretenden Bemängelung der richterlichen Tätigkeit nicht ganz
übersehen und mit einem Witze oder Scherzwort abgetan werden, dazu ist die
Sache denn doch zu ernst. Die Entscheidungen des höchsten Gerichtshofes, die
die tiefste juristische Weisheit umfassen und für die Zukunft mitberechnet sind,
müssen auch sprachlich Kunstwerke sein, durchsichtig, klar und verstündlich für
jedermann, wie eben Kunstwerke andrer Art ohne weitere Erklärung verständlich
sein sollen. Das ist das Ideal, das auch für die Urteile des Reichsgerichts
erstrebt werden muß.

Schopenhauer hat einmal über den Stil gesagt: Wer nachlässig schreibt,
legt dadurch zunächst das Bekenntnis ab, daß er selbst seinen Gedanken keinen
großen Wert beilegt: denn nur aus der Überzeugung von der Wahrheit und
Wichtigkeit unsrer Gedanken entspringt die Begeisterung, die erfordert ist, um
mit unermüdlicher Ausdauer überall auf deutlichsten, schönsten und kräftigsten
Ausdruck bedacht zu sein, wie man nur an Heiligtümer oder unschätzbare
Kunstwerke silberne oder goldne Behältnisse wendet. Die Deutschen zeichnen
sich durch Nachlässigkeit des Stils wie des Umzugs vor andern Nationen
aus, und beiderlei Schlumperei entspringt aus derselbe» im Nationalcharakter


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[0570] Reichsgerichtsdeutsch allem in Zivilsachen, und fast jedes größere Erkenntnis der Amts- und der Landgerichte beruft sich auf Entscheidungen des Reichsgerichts, um den Urteils¬ gründen mehr Nachdruck zu geben. Dadurch aber kommen sie zur weitern Kenntnis unsers rechtsuchenden Volkes, namentlich wenn die Neichsgerichtsurteile, wie es nicht selten geschieht, auszugsweise wörtlich angeführt werden. Wer dann ein so mit Entscheidungen und langatmigen Satzungeheucrn gespieltes Urteil zu lesen hat, sei es in eigner oder fremder Angelegenheit, der muß not¬ gedrungen eine falsche Meinung von der Rechtsprechung bekommen. Die Achtung vor dieser muß sinken, wenn niemand weiß, weshalb er einen Rechtsstreit gewonnen oder verloren hat und ihm nicht mit klaren Worten gesagt wird, aus welchen Gründen er oder der Gegner verurteilt oder abgewiesen worden ist. Doch die Reichsgerichtsentscheidungen kommen noch aus andern Wegen in das Volk hinunter, und zwar einmal durch die Zeitungen, in denen fast regel¬ mäßig wichtige Urteile abgedruckt werden, sodann aber auch namentlich in Fach¬ zeitschriften, die ihre Leserkreise gerade ans neue Entscheidungen hinweisen. Wie viele stehen zum Beispiel gerade jetzt in landwirtschaftlichen Blättern über die Tierhaltung und die daraus sich ergebende Haftung; wie schwer ist es, sich die Meinung des Reichsgerichts im einzelnen Falle klipp und klar herauszuschälen, durch welchen Wust von Sätzen muß man sich hindurcharbeiten, um der Sache auf den Grund zu kommen! Und doch sind die Urteile in letzter Linie nicht für die Anwälte und Richter der Vorderinstanzen, sondern für die Parteien geschrieben, die über ihr Recht oder Unrecht belehrt werden sollen und die Kosten zu tragen haben. Wie oft und wie leicht gibt es dabei Irrtümer und Mißverstündnisse, die dann ein falsches Bild von der Rechtsprechung erzeugen und Unzufriedenheit wecken und mehren. Dies sollte bei der herrschenden und oft genug zutage tretenden Bemängelung der richterlichen Tätigkeit nicht ganz übersehen und mit einem Witze oder Scherzwort abgetan werden, dazu ist die Sache denn doch zu ernst. Die Entscheidungen des höchsten Gerichtshofes, die die tiefste juristische Weisheit umfassen und für die Zukunft mitberechnet sind, müssen auch sprachlich Kunstwerke sein, durchsichtig, klar und verstündlich für jedermann, wie eben Kunstwerke andrer Art ohne weitere Erklärung verständlich sein sollen. Das ist das Ideal, das auch für die Urteile des Reichsgerichts erstrebt werden muß. Schopenhauer hat einmal über den Stil gesagt: Wer nachlässig schreibt, legt dadurch zunächst das Bekenntnis ab, daß er selbst seinen Gedanken keinen großen Wert beilegt: denn nur aus der Überzeugung von der Wahrheit und Wichtigkeit unsrer Gedanken entspringt die Begeisterung, die erfordert ist, um mit unermüdlicher Ausdauer überall auf deutlichsten, schönsten und kräftigsten Ausdruck bedacht zu sein, wie man nur an Heiligtümer oder unschätzbare Kunstwerke silberne oder goldne Behältnisse wendet. Die Deutschen zeichnen sich durch Nachlässigkeit des Stils wie des Umzugs vor andern Nationen aus, und beiderlei Schlumperei entspringt aus derselbe» im Nationalcharakter

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301987/570>, abgerufen am 06.02.2025.